FAZIT zu "Verräterkind"

Christian1977

Bekanntes Mitglied
8. Oktober 2021
2.630
12.864
49
47
Mich hat der Roman nahezu komplett überzeugt. Vom sensationell guten ersten Kapitel über die kluge Konstruktion mit den beiden Prozessen bis zum großartigen Finale. Zwischen den kurzen pointierten Sätzen immer wieder sehr bewegende stille Szenen.

Ein Erzähler, dessen Schmerz ich fast körperlich spürte. Eine schier unglaubliche Geschichte des Vaters. Nebenbei lernt man sogar noch etwas über die Résistance und das besetzte Frankreich. Trotz Barbie und Jean bleiben mir die Kinder von Isieux und die Maison d'Isieux mit dem ersten Kapitel am stärksten in Erinnerung. Insgesamt eine ungemein bewegende Lektüre. Da verzeihe ich auch die etwas zu simple Darstellung der Vaterfigur als talentloser Taugenichts.

Ohne Zweifel für mich fünf Sterne.
 

GAIA

Bekanntes Mitglied
27. Dezember 2021
2.265
10.654
49
Thüringen
Was kann ich dem Gesagten hinzufügen? Nicht viel. Ich bin nämlich ebenso begeistert von diesem Roman. Mal wieder konnte Chalandon durch seine brilliante Romankonstruktion begeistern.

Ich wurde in das Geschehen hineingesogen, sah die Kinder zu Beginn vor mir voller Angst, habe mit im Gerichtssaal im Zuschauerraum gesessen und fassungslos die Schilderungen verfolgt und habe zusammen mit dem Erzähler um die Beziehung zu seinem Vater und die Aufklärung dessen Vergangenheit gerungen. Und über das ganze Buch hinweg habe ich außerdem sehr viel über das Frankreich der Besatzungszeit in den 40ern gelernt und von Organisationen auf Seiten des Widerstandes als auch der Kollaborateure erfahren, von denen ich in diesem Umfang nicht einmal ansatzweise etwas wusste.

Was will man mehr? Ich wüsste nicht was, deshalb kann es auch von meiner Seite ausschließlich eine 5-Sterne-Bewertung geben.
 

pengulina

Bekanntes Mitglied
22. November 2022
1.330
4.406
49
68
Das Buch handelt zum einen von einer schwierigen Vater-Sohn-Beziehung und zum anderen vom Prozess um Klaus Barbie, der 1987 in Lyon stattfand.

Dem Autor wurde im Alter von zehn Jahren von seinem Großvater erzählt, sein Vater habe zeitlebens „auf der falschen Seite“ gestanden, er selbst sei ein „Verräterkind“ (= Buchtitel).

Chalandon versucht später, die Geschichte seines Vaters herauszufinden und vor allem aus den ganzen Erzählungen die Wahrheit herauszufiltern, denn der Vater war ein notorischer Lügner und hat sich vor allem immer wieder selbst seine eigene Wahrheit zurechtgelegt und erfunden.

Erst als Chalandon über drei Ecken die Gerichtsakte seines Vaters samt Vernehmungsprotokollen und Zeugenaussagen in Händen hält, erfährt er, dass sein Vater Zeit im Gefängnis verbracht hat und stellt vor allem auch fest, dass sein Vater damals, im Alter von 22 Jahren, den ihn vernehmenden Offizier ebenso belogen hat, was sogar im Protokoll vermerkt wurde. Diesen Umstand – der allerdings erst nach dem Tod des Vaters vor ein paar Jahren stattgefunden hat – benutzt der Autor, um die Geschichte seines Vaters mit dem Barbie-Prozess zu verquicken. Denn der Vater sitzt Gerichtssaal und begegnet Barbie mit Verehrung und den Zeugenaussagen mit Häme.

Der Satz mit der falschen Seite wird immer wieder im Buch erwähnt. Gegen Ende heißt es, er sei für den Zehnjährigen ein kleines schwarzes Steinchen gewesen, sei aber jetzt, in Lyon, 1987, zu einem Sack Steine mutiert, der für den Erwachsenen zu schwer zu tragen ist. Daher will Sorj seinen Vater mit den Unterlagen konfrontieren, es kommt zum Streit. Und zum Ende, das man nur als Wunschtraum interpretieren kann.

Eindeutige fünf Sterne.
 

GAIA

Bekanntes Mitglied
27. Dezember 2021
2.265
10.654
49
Thüringen
Diesen Umstand – der allerdings erst nach dem Tod des Vaters vor ein paar Jahren stattgefunden hat – benutzt der Autor, um die Geschichte seines Vaters mit dem Barbie-Prozess zu verquicken.
Ich hab gesehen, dass der Satzteil zwischen den Gedankenstrichen auch in deiner Rezension vorkommt. Vielleicht ist es besser, diesen dort nicht auftauchen zu lassen, da der Hinweis erst am Ende des Buches kommt und durchaus die Überraschung für einige Leser:innen nehmen könnte, wenn sie schon vorher davon erfahren.

Ich stimme dir ansonsten vollkommen zu. Ein eindeutiges Fünf-Sterne-Buch!
 
  • Stimme zu
Reaktionen: Christian1977

pengulina

Bekanntes Mitglied
22. November 2022
1.330
4.406
49
68
Das muss Chalandon aber schon vor Jahren anlässlich der Veröffentlichung von "Mein fremder Vater" gesagt haben, das ist kein Geheimnis. Praktisch alle seine Bücher befassen sich doch mit dem Thema.
Löschen kann ich nichts mehr.
 
  • Like
Reaktionen: GAIA

Literaturhexle

Moderator
Teammitglied
2. April 2017
19.444
49.885
49
Achso, so lange verfolge ich den Autor noch nicht. Für mich war das am Ende als nachgeschobene Info wirklich ein Knaller, den ich nicht habe kommen sehen.
Jetzt wisst ihr wieder, warum ich keine Rezensionen von Büchern lese, die ich noch vor mir habe: Was für den einen ein alter Zopf, ist für den anderen ein Knaller;)
 

Anjuta

Bekanntes Mitglied
8. Januar 2016
1.639
4.794
49
62
Essen
Sorj Chalandon verknüpft in diesem Roman auf ganz besonders ausgeklügelte Weise die Faktensammlung zu zwei ganz unterschiedlich gearteten Fällen aus der Zeit des Dritten Reiches in Frankreich. Die eine ist die historisch belegte Faktensammlung zum bedeutenden Gerichtsprozess gegen Klaus Barbie in Frankreich, in dem er für seine Vergehen als Gestapochef von Lyon verurteilt wird. Als journalistischer Beobachter und Kommentator dieses Prozesses nimmt auch der Erzähler des Romans an den Verhandlungstagen, den Zeugenaussagen und der Beweisführung teil. Dabei spielt sich in seinem Kopf parallel ein für ihn persönlich noch viel ergreifenderer Klärungsprozess ab: eine Faktenermittlung zur Rolle seines Vaters in dieser Zeit. Dessen Wege haben sich wohl einige Male mit denen Barbies gekreuzt, aber seine Rolle in diesem grausamen Spiel rund um zum Beispiel das Kinderheim von Izieu blieb dem Erzähler und Sohn stets verborgen und ungeklärt. Aber trotz aller Unklarheiten hatte er den Ruf eines "Verräterkindes" weg, dessen Vater in dieser Zeit eindeutig auf der falschen Seite stand. Doch den Erzähler quält nicht so sehr diese Rolle als vielmehr die vielen weißen Flecken in der Geschichte seines Vaters - jedenfalls nach dessen Erzählversion. Sobald der Erzähler sich in die Fakten über die Geschichte seines Vaters hineinversenken kann, werden diese weißen Stellen zwar mehr oder weniger aufgelöst, ergeben aber sehr häufig so wenig Sinn, dass sich kein wirklich glaubhaftes, konsistentes Bild über den Vater in dieser Zeit ergeben kann. Genauso inkonsistent und unverständlich sind auch dessen Reaktionen auf den Verlauf des Barbie-Prozesses, an dem er als interessierter Zuschauer teilnehmen kann. So wird der Roman, auch wenn vordergründig der historische Barbie-Prozess im Mittelpunkt steht, zu einem sehr interessant gestalteten Vater-Sohn-Roman, in dem die Zeit in dem sich diese beiden nicht kennen konnten in ihre Beziehung hineinbricht und für deren Verhältnis maßgeblich bestimmend wird.
 

pengulina

Bekanntes Mitglied
22. November 2022
1.330
4.406
49
68
Woher habt ihr aus dem Buch die Information, dass Sorj die Unterlagen zu seinem Vater erst nach dessen Tod hatte? Stand das in einem Nachwort
 

GAIA

Bekanntes Mitglied
27. Dezember 2021
2.265
10.654
49
Thüringen
Woher habt ihr aus dem Buch die Information, dass Sorj die Unterlagen zu seinem Vater erst nach dessen Tod hatte? Stand das in einem Nachwort
Hah, da scheinen sich die deutsche und die französische Ausgabe an einem wichtigen Punkt zu unterscheiden. Der reine Romantext endet auf S. 297 mit dem Satz "Und dass du au mich am anderen Ufer erwartest." Dann blättert man um und ohne eine Überschrift (ob Nachwort des Autors oder noch explizit Romantext ist nicht deklariert) stehen dort drei Absätze (von mir jetzt etwas gekürzt):
Klaus Barbie starb am 25. September 1991 im Gefängnis...
Mein Vater starb am 21. März 2014 im psychiatrischen Krankenhaus...
Seine Akte vom Gerichtshof [...]. Am 18.Mai 2020, sechs Jahre nach seinem Tod, konnte ich sie einsehen. ...
Das ist natürlich verwirrend, wenn für uns Leser:innen der deutschsprachigen Ausgabe das als "Knaller" als Nachsatz erwähnt wird und es vielleicht für die Leser:innen der französischen Ausgabe als "bekannt" vorausgesetzt wird.
 

pengulina

Bekanntes Mitglied
22. November 2022
1.330
4.406
49
68
Du hast recht - das war mir irgendwie entgangen. Das erklärt natürlich auch den Veröffentlichungszeitpunkt von "Verräterkind" (August 2021). Sonst hätte er ja schon vorher auf die Idee kommen können.
Und was die Rezensionen betrifft: Die lese ich teils schon während der Lektüre, um zu prüfen, ob ich mit dem Rezensenten einer Meinung bin.
 

Sassenach123

Bekanntes Mitglied
27. Dezember 2015
4.344
10.637
49
49
Mir war der Autor bisher nicht bekannt, doch mit diesem Werk konnte er mich vollends überzeugen. Obwohl das Thema sehr ergreifend ist, man die Details teilweise schwer ertrug, war ich dennoch gefesselt von der Handlung. Für mich es ein zusätzlicher Pluspunkt, dass ich nicht nur die Geschichte zwischen Vater und Sohn verfolgen konnte, sondern auch in den Prozess von Barbie eingebunden wurde. Dieses schwerwiegende Ereignis ist mir in meiner Jugend durchgegangen.
Der Erzählstil hat mir gut gefallen, ich tendiere momentan auch zu 5 Sternen
 

kingofmusic

Bekanntes Mitglied
30. Oktober 2018
7.311
18.968
49
48
Ich bin von der schier unglaublichen Sprachgewalt und Brillanz dieses Meisterwerks mehr als beeindruckt. Es ist das emotionalste Buch, das ich dieses Jahr gelesen habe und nichts anderes als mein Jahreshighlight.
Mehr gibt es dazu nicht zu sagen :cool:.
 

GAIA

Bekanntes Mitglied
27. Dezember 2021
2.265
10.654
49
Thüringen
Na ja, ich kann nicht alle 5*-Bücher dieses Jahr auf´s Treppchen meiner Crown Juwels stellen - so viel Platz ist da auch nicht :p:rofl.
Kommt nur darauf an, wie viele Zacken deine Krone hat... Mit z.B. dieser hier mit 16 Zacken kommst du schon recht weit: