FAZIT zu "Shuggie Bain"

Literaturhexle

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2. April 2017
19.466
49.998
49
Der Booker-Preis hat mich sehr selten enttäuscht. Shuggie Bain ist ein verdienter Gewinner des Preises. Das Buch schildert nicht nur die Geschichte eines Jungen, dessen Mutter schwere Alkoholikerin ist, sondern auch ein Milieu, das Otto Normalbürger erschreckt.
Die Teufelsspirale Alkohol zeigt, wie eine Frau sich selbst und ihre Familie ins Unglück stürzt, ihren Kindern ein behütetes Leben mit Bildung und Zukunft versagt. Das ist brutal, auch für den Leser, weil schonungslos und ohne nennenswerte Lichtblicke erzählt wird.
Aber es ist realistisch. Vieles davon muss aus eigenem Erleben kommen, die Authentizität ist erdrückend. Dennoch hat mich der Roman nicht "runtergezogen". Stuart hat einen angenehm weichen, bildreichen Stil, er deutet Brutalität und Grausamkeiten nur in dem Maß an, wie sie verdaubar sind.

Mich hat der Roman mal wieder aus meiner "Wohlstandsblase" herausgeführt. Mein Mitleid für Agnes hält sich allerdings in Grenzen. Sie ist erwachsen, sie hat eine Wahl. Ihre Kinder und insbesondere Shuggie als Jüngster haben sie nicht, sie sind den Launen ihrer Mutter und ihrer Sucht ausgeliefert.

Ein großes Buch. Meine Höchstwertung ist ihm gewiss!
 

Adel105

Mitglied
1. August 2021
27
134
13
56
Aber es ist realistisch. Vieles davon muss aus eigenem Erleben kommen, die Authentizität ist erdrückend. Dennoch hat mich der Roman nicht "runtergezogen". Stuart hat einen angenehm weichen, bildreichen Stil, er deutet Brutalität und Grausamkeiten nur in dem Maß an, wie sie verdaubar sind.
Dieser Meinung bin ich auch. Ich finde den Stil des Autors sehr gut. Anhand seiner guten Beschreibungen konnte man sich gut in das Milieu hineinversetzen. Ich war oft wütend z.B auf Agnes und Shug, darauf, was sie ihren Kindern antun. Leek und Catherine schaffen es, dem Milieu zu entfliehen. Aber Shuggie ist einfach noch zu jung, er liebt seine Mutter und versucht ihr zu helfen.
Auch der Aufbau des Buches hat mir sehr gut gefallen. Von der Gegenwart 1992 zurück in die Vergangenheit (Suggies Kindheit und Jugend), um dann wieder in der Gegenwart 1992 anzukommen. Ich wollte unbedingt wissen, wie ein 16-jähriger in diese bedrückende Situation am Anfang geraten konnte.
Was habe ich doch in den Jahren, in denen sich diese Geschichte abspielt, für eine wohlbehütete Kindheit/Jugend verbracht!
Mich würde es jetzt sehr interessieren, wie es der Autor (alias Shuggie) geschafft hat, in Londen zu studieren und dann nach New York zu ziehen.
 

Literaturhexle

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2. April 2017
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Dieser Meinung bin ich auch. Ich finde den Stil des Autors sehr gut. Anhand seiner guten Beschreibungen konnte man sich gut in das Milieu hineinversetzen. Ich war oft wütend z.B auf Agnes und Shug, darauf, was sie ihren Kindern antun. Leek und Catherine schaffen es, dem Milieu zu entfliehen. Aber Shuggie ist einfach noch zu jung, er liebt seine Mutter und versucht ihr zu helfen.
Auch der Aufbau des Buches hat mir sehr gut gefallen. Von der Gegenwart 1992 zurück in die Vergangenheit (Suggies Kindheit und Jugend), um dann wieder in der Gegenwart 1992 anzukommen. Ich wollte unbedingt wissen, wie ein 16-jähriger in diese bedrückende Situation am Anfang geraten konnte.
Was habe ich doch in den Jahren, in denen sich diese Geschichte abspielt, für eine wohlbehütete Kindheit/Jugend verbracht!
Mich würde es jetzt sehr interessieren, wie es der Autor (alias Shuggie) geschafft hat, in Londen zu studieren und dann nach New York zu ziehen.
Ja, deinem Fazit kann ich mich wunderbar anschließen:)

Hast du das Interview schon gelesen? Das hatte jemand im 1. LA bereits gepostet, aber hier erfährt man Wissenswertes zur Autorenbiografie:
Interview mit Douglas Stuart in DIE ZEIT.
 

Sassenach123

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27. Dezember 2015
4.349
10.649
49
49
Shuggie Bain wird mir im Gedächtnis bleiben, definitiv. Der Roman ist leicht zu lesen, und trotz der Schwermütigkeit die direkt zu Beginn aufkommt, denn um ehrlich zu sein war mir von Anfang an klar, dass uns bedrückende Szenen erwarten, war ich gefangen und wollte weiterlesen. Wir haben hier gut 10 Jahre Lebensgeschichte der Familie Bain miterlebt und ich wäre sehr gern bereit weitere 10 Jahre zu begleiten. Shuggies Geschichte ist hoffentlich noch nicht am Ende, und ich wünsche ihm, dass der neue Abschnitt von positiven Erlebnissen durchzogen ist.
 

RuLeka

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30. Januar 2018
6.541
24.631
49
66
„ Shuggie Bain“ ist eines dieser Bücher, die man nicht mehr vergisst. Genauso wenig wie seine Figuren. Shuggie habe ich in mein Herz geschlossen ( klingt sentimental, ist aber so ), ebenso den stillen Leek. Aber auch Agnes werde ich nie vergessen. Am Ende war mein Mitleid für sie größer geworden, anfangs war ich vor allem wütend auf sie. Doch bei aller Stärke, die sie unbedingt hatte, war die Sucht letztendlich stärker als sie.
Tröstlich war die Gewissheit, dass es Shuggie geschafft hat. Allerdings würde mich das Wie ebenfalls interessieren. Vielleicht gibt es eine Fortsetzung…
Der Roman ragt aber nicht nur wegen seines Themas aus der Menge anderer Bücher heraus. Er ist auch literarisch überzeugend, zu Recht wurde er mit dem Booker Prize ausgezeichnet. Ein großartiges Debut und man darf auf weitere Bücher dieses Autors gespannt sein. Auch wenn diese vielleicht nicht die gleiche Dringlichkeit haben werden.
Auch bei diesem Roman reicht mir die 5 Punkte- Wertung nicht.
 

Wandablue

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18. September 2019
9.685
22.042
49
Brandenburg
Der Man Booker Prize ist sehr viel gefälliger als der Deutsche Buchpreis. Was nicht bedeutet, dass er weniger wert wäre, vllt eher im Gegenteil. Er ist in aller Regel lesbarer und das goutiere ich sehr.

Shuggie Bain ist ein ganz erstaunlicher Debütroman. Er hat mir sehr gut gefallen. Natürlich hätte ich noch was daran gemacht ;-). Gekürzt, gestrafft. Dessen ungeachtet habe ich den Roman gerne gelesen, ein Blick in die abgeschottete Community der katholischen Iren in Glasgow, ein Blick zu den abgewrackten und abgehängten Bergarbeitern, dem Erbe M. Thatchers - das alles ist sehr beeindruckend und hat mich mehr geflasht als die Alkoholkarriere Agnes Bains, die gleichwohl eine tragische ist.

Alles in allem, trotz einiger Kritikpunkte ein würdiger Preisträger.

Hier noch der Link zur Rezension.
 
Zuletzt bearbeitet:

Querleserin

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30. Dezember 2015
4.068
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50
Wadern
querleserin.blogspot.com
Der Roman hat mich sehr bewegt. Auch mir steht meine eigene behütete Kindheit drastisch vor Augen - der Autor ist etwa genauso alt wie ich. Während er seine Mutter versucht vom Trinken abzuhalten, Hunger leidet und alleine zurecht kommen musste, bin ich unbeschwert und mit vollem Magen zur Schule gegangen, quasi auf Rosen gebettet.
Obwohl man das Geschilderte kaum ertragen kann, musste ich doch weiterlesen und ganz am Ende scheint es auch so etwas wie einen Hoffnungsschimmer zu geben.
Verdienter Preisträger!
 

Die Häsin

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11. Dezember 2019
4.631
16.673
49
Rhönrand bei Fulda
Ich bastle noch an meiner Rezension. Obwohl ich auch Höchstwertung geben werde, fällt sie mir diesmal unglaublich schwer und wird auch kein Meisterwerk werden. Ich war tief beeindruckt von der Sterbeszene, die mir geradezu biblisch kraftvoll erschien - wie in diesen Heiligenlegenden, wo sich Menschen mit Schwerstkranken zusammen ins Bett legen. Aber das kann man natürlich nicht in eine Rezi schreiben, ohne zu spoilern.
 

Wandablue

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18. September 2019
9.685
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Brandenburg
Ich bastle noch an meiner Rezension. Obwohl ich auch Höchstwertung geben werde, fällt sie mir diesmal unglaublich schwer und wird auch kein Meisterwerk werden. Ich war tief beeindruckt von der Sterbeszene, die mir geradezu biblisch kraftvoll erschien - wie in diesen Heiligenlegenden, wo sich Menschen mit Schwerstkranken zusammen ins Bett legen. Aber das kann man natürlich nicht in eine Rezi schreiben, ohne zu spoilern.
Das ist oft ein Problem.
 

milkysilvermoon

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13. Oktober 2017
1.803
5.061
49
Ich habe nun mehrere Tage an meiner Rezension herumgedoktert, weil es mir schwer gefallen ist, meine Leseeindrücke adäquat in Worte zu fassen. Das passiert mir oft, wenn mir ein Buch wahnsinnig gut gefallen hat. Ich habe dann das Gefühl, dem Roman nicht ganz gerecht zu werden. So also auch diesmal. Ich stelle meine Fassung aber trotzdem gleich online.

Ich hatte große Erwartungen an den Roman und wurde keineswegs enttäuscht. Ganz am Anfang war mir das Buch zu düster. Das lag aber nur an meiner persönlichen Stimmung, was man dem Autor nun wirklich nicht ankreiden kann. Die Geschichte um Agnes und Shuggie hat mich dann aber immer mehr für sich eingenommen. Der Inhalt ist keine leichte Kost, aber hat mich sehr berührt. Und sprachlich hat mich der Roman sowieso begeistert. Der schottische Slang ist in der Übersetzung nicht ganz nachzuvollziehen. Das ist allerdings ein Ding der Unmöglichkeit. Die Übersetzerin hat das Beste draus gemacht, finde ich.

Zusammengefasst: Auch von mir gibt es natürlich fünf volle Sterne. Ein sehr empfehlenswerter Roman, der mir noch länger in Erinnerung bleiben wird.
 

Die Häsin

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11. Dezember 2019
4.631
16.673
49
Rhönrand bei Fulda
Ich habe es auch geschafft mit der Rezi.
Das Buch hat sehr stark auf mich gewirkt. Ich hatte es letzte Woche im Urlaub dabei, und obwohl ich zwischen langen Wanderungen und Biergartenbesuchen (jawohl, Bier ...!) immer nur ein paar Seiten zwischendurch lesen konnte, war ich jedes Mal sofort wieder wie "aufgesogen". Ich habe lange darüber nachgedacht. Das Besondere daran muss wohl die Sprache sein, die die Leserin ganz zwanglos, ohne Zeigefinger und ohne jeden Elendsvoyeurismus für die Personen Partei ergreifen lässt. Da ich selbst schreibe, kann mich die Frage "wie hat er das bloß gemacht?" mächtig umtreiben, das beschäftigt mich immer noch. Ein ganz dickes und herzliches Dankeschön, dass ich an dieser Runde teilnehmen und dieses wunderbare Buch mitlesen durfte.
 

Naibenak

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2. August 2021
1.219
5.392
49
Da ich selbst schreibe, kann mich die Frage "wie hat er das bloß gemacht?" mächtig umtreiben, das beschäftigt mich immer noch.
Ich glaube tatsächlich, dass hier ganz doll die Tatsache eine Rolle spielt, dass der Roman autobiografisch ist. Ich schreibe zwar nicht und habe keine wirkliche Ahnung ;-) aber ich kann mir vorstellen, dass man da ganz anders herangeht und auch anders schreibt (z.Bsp eben auch mit dieser Wärme zwischen den Zeilen), als bei einem komplett fiktiven Roman. Man spürt eine große Sensibilität des Autors in jeder Zeile...
 

Die Häsin

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11. Dezember 2019
4.631
16.673
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Rhönrand bei Fulda
Ich glaube tatsächlich, dass hier ganz doll die Tatsache eine Rolle spielt, dass der Roman autobiografisch ist. Ich schreibe zwar nicht und habe keine wirkliche Ahnung ;-) aber ich kann mir vorstellen, dass man da ganz anders herangeht und auch anders schreibt (z.Bsp eben auch mit dieser Wärme zwischen den Zeilen), als bei einem komplett fiktiven Roman. Man spürt eine große Sensibilität des Autors in jeder Zeile...
Das ist schon richtig. Allerdings gibt es unzählige "Bekenntnisbücher" von missbrauchten Kindern ... unter Titeln wie "Ich war das Kind Satans" oder "Meine Kindheit in der Hölle" usw, die einfach nur grottenschlecht geschrieben sind. Es genügt nicht, das Elend gefühlt zu haben, man muss auch einfach gut schreiben können. Die persönliche Betroffenheit allein reißt es nicht ...
 

Naibenak

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2. August 2021
1.219
5.392
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Das ist schon richtig. Allerdings gibt es unzählige "Bekenntnisbücher" von missbrauchten Kindern ... unter Titeln wie "Ich war das Kind Satans" oder "Meine Kindheit in der Hölle" usw, die einfach nur grottenschlecht geschrieben sind. Es genügt nicht, das Elend gefühlt zu haben, man muss auch einfach gut schreiben können. Die persönliche Betroffenheit allein reißt es nicht ...
Okay, verstehe. Das stimmt wohl! Diese fürchterlichen Bücher kenne ich (zum Glück) nicht :D Mich würde sehr interessieren, wie wohl ein fiktiver Roman vom Autor sein wird und ich hoffe, man kommt eines Tages in den Genuss eines solchen ;)
 
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Literaturhexle

Moderator
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2. April 2017
19.466
49.998
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Es genügt nicht, das Elend gefühlt zu haben, man muss auch einfach gut schreiben können.
So sehe ich das auch. Bei Shuggie ist nichts reißerisch. Besondere Abgründe lässt er auch im Raum stehen oder verkleidet sie in erträgliche Metaphern. Er macht das sehr gekonnt. Wie Naibenak sagte: da ist ganz viel Gefühl zwischen den Zeilen. Stuart hat keine Anklageschrift verfassen sondern eine Geschichte erzählen wollen. Das ist ihm wunderbar gelungen!
 

kingofmusic

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30. Oktober 2018
7.315
18.995
49
48
Was für ein großartiger Roman ;).

Ich habe in diesem Jahr noch kein Buch gelesen, was gefühlsmäßig so brutal auf der einen und auf der anderen Seite mit soviel Liebe und Wärme geschrieben wurde, wie dieses hier. Es ist eine perfekt inszenierte Reise tief in das Innere eines Autors, der mich mit seiner Geschichte um seine Mutter, die Liebe zu ihr usw, tief bewegt und beeindruckt hat. Well done, Mr. Stuart! ;)
 

Literaturhexle

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2. April 2017
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Was für ein großartiger Roman ;).

Ich habe in diesem Jahr noch kein Buch gelesen, was gefühlsmäßig so brutal auf der einen und auf der anderen Seite mit soviel Liebe und Wärme geschrieben wurde, wie dieses hier. Es ist eine perfekt inszenierte Reise tief in das Innere eines Autors, der mich mit seiner Geschichte um seine Mutter, die Liebe zu ihr usw, tief bewegt und beeindruckt hat. Well done, Mr. Stuart! ;)
Bist du jetzt für die ein oder andere (für dich) unpassende Leserunde entschädigt worden, oder?
Shuggie Bain ist wirklich ganz großartig! Hoffentlich dürfen wir noch mehr von diesem Autor kennenlernen, der vielleicht seine Profession gefunden hat:)