Der Roman ist sehr spannend und bietet von Anfang an ein Rätsel, dessen Kernlösung zwar schon recht früh zu ahnen ist, aber es bleiben noch genug Fragen offen, um bis kurz vor Ende zu spekulieren. Die verschiedenen Stimmen sind sehr authentisch, auch sprachlich sehr differenziert. Das zeigt sich natürlich am deutlichsten in den Kapiteln aus der Sicht von Personen, die nicht zur Familie gehören: Marcela und Elmer.
Insgesamt ist, von meinem persönlichen Liebling Marcela abgesehen, Lía die differenzierteste Erzählstimme. Sie hat das erste Kapitel und legt damit so etwas wie einen Grundstein, sie teilt die Eckdaten mit, worum es geht. In ihrem Bericht über den seltsamen Briefwechsel mit ihrem Vater und dem Umgang mit dem Thema Religion (sie hat abgeschworen, sich aber nichtsdestotrotz in einem Ort niedergelassen, der für seine spirituelle Bedeutung berühmt ist) spüren wir eine verletzte, von widersprüchlichen Gefühlen beherrschte Seele. Der Symbolgehalt der mit übereinander gelegten Händen gezeichnten Kathedralen wird ein bisschen dick aufgetragen, vor allem deshalb, weil das Thema den Kern des Plots nur wenig berührt, es ist eher ein ziemlich marginales, von Vater und Tochter geschaffenes Bild. Aber durchaus ausdrucksvoll.
Ich schrieb schon, dass Marcela für mich die Heldin des Buches ist. Ihr Kapitel wird keinen Leser kalt lassen. In der Astrologie gibt es das Sinnbild des verletzten Heilers - daran musste ich bei ihrem Bericht ein paarmal denken .
Die beiden Personen, die den eigentlichen Plot bewegt haben, nämlich Julian und Carmen, sind am wenigsten interessant. Es sind Leute, die ganz und gar aus einem Guss sind, ohne die Zweifel und Ängste, die einen Menschen im Grunde ausmachen. Von beiden Seiten bekommen wir nur Rechtfertigungsgerede zu hören.
Einen versöhnlichen Zug bekommt die Geschichte am Ende durch die Geste ALfredos, seine Tochter und Mateo zusammenzubringen, und seine späte Liebe zu Marcela. Alfredo erinnert mich ein wenig an den überforderten Papa in Jane Austens "Stolz und Vorurteil". Er durchschaut die Mechanismen und die viel zu engen Handlungsräume seiner Töchter recht gut, ist aber einfach zu bequem einzugreifen. Lieber bleibt er hinter seiner Zeitung und gibt ab und zu weise Oneliner von sich. Bisschen allzu bequem sowas.
Ich fand den Roman spannend zu lesen und sprachlich in Ordnung. Er ist keine Hochliteratur, stellenweise ein bisschen überengagiert. Das Buch enthält sehr viele Selbstrechtfertigungsversuche, auch bei Lía und Alfredo, sogar bei Marcela. Man hat den Eindruck, nacheinander die Aussagen von lauter Leuten zu hören, die auf der Anklagebank sitzen. Mir war das alles ein bisschen zu viel, vielleicht wäre eine neutrale Erzählstimme besser gewesen, vor allem bei den eigentlichen Tätern. Denn im Grunde, da machen wir uns nix vor, hat die Autorin nicht den Ansatz, dass wir Carmen und Julian nach deren Aussage "besser verstehen" sollen. Eher ist das Gegenteil der Fall. Ich bin mir noch nicht schlüssig über die Punktzahl, entweder drei (was sehr gute drei wären) oder, wahrscheinlich eher, vier.