FAZIT zu "Ins Unbekannte"

Literaturhexle

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2. April 2017
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Wie hat euch der Roman als Ganzes gefallen? Bitte schreibt ein spontanes Fazit in ein paar Sätzen.
 

Anjuta

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8. Januar 2016
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Essen
Zwei Lebenswege zwischen West und Ost, zwei Leben, die sich unterschiedlichen Systemen aussetzen und letztlich beide in dem östlichen aufgefressen werden. "Die Revolution entlässt ihre Kinder" auf grausame Art und Weise, wusste uns schon Wolfgang Leonhard aus der selbst erfahrenen Realität zu berichten. So geschehen nun auch mit Fritz. Bei Sabina ist es eher: "Die Diktatur frisst die Freigeister". Am Ende aber für beide tragisch und grausam ungerecht. Gerade hatten wir schon in der Leserunde "Aufstieg in den Abgrund" ein ähnliches Schicksal verfolgen können: das der deutschen Schauspielerin Carola Neher. Auch sie aufgefressen vom System der Sowjetunion unter Stalin. also: an Geschichten zu diesem Thema mangelt es nicht. Wer sich dafür interessiert, kann sich endlos damit lesend beschäftigen. Ist dieses Buch also etwas besonderes in dieser Masse von Geschichten? Ja und Nein, ist meine schnelle Wertung. Die Montage der zwei Leben ist schon sehr gut gemacht und lässt die Spannung zu der Frage aufsteigen: Wie kommen die beiden Leben wohl zusammen? Dass sie dann gar nicht wirklich zusammen kommen, ist dann Enttäuschung und positive Überraschung zugleich, denn das Heer/die Masse der in den Lagern Umgekommenen bzw. der vom System Zerstörten ist so vielfältig wie das Leben eben ist und gerade das macht den Systemen von dogmatischen Diktatoren ja solche Probleme (zum Glück!). Die Masse ist eine Illusion und lässt sich nicht wirklich gleichschalten (hoffentlich auch in Zukunft nicht!). Und doch müssen darin alle mit dem gleichen Schicksal Vorlieb nehmen und die Einzelnen werden über einen Kamm geschert, bzw. solange das nicht funktioniert, helfen dann eben nur Lager und Tod.
Puh, jetzt bin ich aber zynisch geworden! Und komme deshalb am Ende zu einem positiven Fazit zu diesem Buch: Wenn es mich zu solch tiefgreifenden Einsichten führt, dann war die Lektüre doch wirklich sehr lohnend!
 

Literaturhexle

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2. April 2017
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Die Fakten rund um beiden Persönlichkeiten Fritz Platten und Sabina Spielrein, die im selben Jahr von unterschiedlichen Regimen ermordet werden, finde ich interessant. Allerdings erscheint mir manches etwas aufgebläht. Die Protagonisten reiben sich jeweils an einer für sie wesentlichen "Prägefigur". Jahrelang können sie nicht loslassen, gehen Gespräche und Szenen durch. Das hat mich zugegebenermaßen stellenweise ermüdet. Das aktuelle Geschehen fesselte mich stärker. Überrascht hat mich, dass es außerhalb des Todesjahrs, der Umstände und dem flüchtigen Treffen bei der Demonstration in Zürich keine weiteren Berührungspunkte der beiden Protas gab.

Der berichtende distanzierte Sprachstil lässt das Buch zu keiner Zeit seinen ernsten Fokus verlieren. Viele Gedanken erscheinen jedoch sehr intim, so dass ich glaube, dass dem Schriftsteller Tagebücher zur Verfügung gestanden haben müssen. Oder ist es Fiktion? Dann wäre es fast ein Zuviel.

Das Buch behandelt eine von zwei Diktaturen dominierte Zeit, die unzählige unschuldige Opfer gefordert hat. Im Zentrum stehen zwei historische Figuren, die durch diese Biografie dem Vergessen entrissen werden. Ihre Schicksale stehen stellvertretend für viele andere.

"Ins Unbekannte" ist ein lesenswertes, informatives Buch. Wie ich es schlussendlich bewerten werde, ist noch offen. Umgehauen hat es mich nicht, aber ich warte die weitere Diskussion hier ab.
 

Literaturhexle

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2. April 2017
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Wie kommen die beiden Leben wohl zusammen? Dass sie dann gar nicht wirklich zusammen kommen, ist dann Enttäuschung und positive Überraschung zugleich, denn das Heer/die Masse der in den Lagern Umgekommenen bzw. der vom System Zerstörten ist so vielfältig wie das Leben eben ist und gerade das macht den Systemen von dogmatischen Diktatoren ja solche Probleme
Sehr gut ausformuliert und auf den Punkt gebracht!
 

Circlestones Books Blog

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28. Oktober 2018
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Wienerin auf Rügen
www.circlestonesbooks.blog
Mir hat dieser ruhige Erzählstil des Autors sehr gut gefallen. Die Idee, zwei so unterschiedliche Biografien sich einige Sekunden lang kreuzen zu lassen und darum herum eine Geschichte zu entwickeln, Sabina und Fritz, Sabina, die Russin aus sehr guten Verhältnissen, die in die Schweiz kommt und dort viele Jahre verbringt, sich als Schülerin von C. G. Jung als eine der ersten Frauen intensiv mit der Psychoanalyse auseinandersetzt, Fritz, der Schweizer Junge aus sehr armen Verhältnissen, der sich schon in jungen Jahren mit den Ideen des Kommunismus auseinandersetzt, der die Schweiz verändern will und, als es nicht gelingt, begeistert nach Russland auswandert, um dort den Kommunismus zu leben. Zwei völlig unterschiedliche Leben und Persönlichkeiten, beide nicht einfach und beiden wurde Russland zum Schicksal, allerdings waren es nur bei Fritz Platten die Russen, bei Sabina waren es die Deutschen in Russland.
Diese beiden Biografien zu lesen fand ich sehr spannend, besonders die letzten Kapitel, dieses Auseinandersetzen mit dem eigenen Lebensweg und den Entscheidungen, auch das Hinterfragen, ergibt für mich einen sehr vielseitigen Roman, interessant zu lesen. Gerade bei Romanen mit biografischem Hintergrund, Personen, die wirklich gelebt haben und deren Biografien man nachlesen kann, ist es nicht einfach, den Weg zwischen Fakten und Fiktion zu finden, für mich ist es Lukas Hartmann gelungen.
 

Emswashed

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9. Mai 2020
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Vielleicht war es Hartmanns Absicht, die Spannung, ob Fritz und Sabina zusammenkommen, mit Absicht hochzuhalten. Allerdings war es mir bald relativ egal, ob, oder ob nicht. Die kurze Begegnung in der Demo reichte mir für die "Berechtigung", diese beiden interessanten Figuren in einem Buch zusammenzuhalten.
Ich möchte Hartmann dafür sogar loben, denn so bleibt auch der faule Schüler bei der Stange und dringt bis zum eigentlichen Kern des Buches vor.
Der Autor befasst sich mit den Zeiten der großen politischen Ideologien, dem Zusammenbruch des sich einigenden Europas, dem getriebenen Volk, dass sich zwangsweise falsch entscheidet und wie hartes Brot zwischen den Mühlsteinen zu Staub zerrieben wird.
Ist euch aufgefallen, wieviel gereist wurde, wieviele "Europäer" nicht in ihrem Geburtsland waren, welche Leistungen und Erfindungen schnell die Runde machten. Das alles war für viele Jahre nach dem 2. WK nicht mehr möglich, zumindest in die östliche Richtung.
Das Buch ist nichts für den ersten Blick, es braucht Zeit zum Wirken und die gebe ich ihm jetzt. ;-)
 

Die Häsin

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11. Dezember 2019
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Rhönrand bei Fulda
Ich bin tief bedrückt vom Ausgang dieses Romans, bei dem man sich fragen muss, ob es auf der Welt überhaupt noch einen sicheren Platz gibt. Sabina erinnert sich an "die Freundlichkeit der Badegäste und der Spaziergänger auf Berlins Straßen" (S. 278), das ist dasselbe Volk, das nun verantwortlich ist für die Deportationen und Massenerschießungen. Aber abgesehen von dem eisernen Zugriff der sowjetischen Diktatur, erweisen sich ja auch die Personen ihres direkten Umfelds als Antisemiten. Jung äußert sich in diese Richtung, von dem Zitat auf S.250 war ich ziemlich entsetzt, zumal Freud, quasi sein geistiger Vater, selbst Jude war. So etwas aus der Feder eines Menschen zu lesen, mit dem man einmal tief verbunden war, stelle ich mir furchtbar vor. Übrigens, es steht zwar bei Hartmann nicht, aber in der Wiki über Solschenizyn, hat auch dieser sich antisemitisch geäußert.
Ich weiß nicht recht, was nun das Thema des Romans ist. Die Verführbarkeit, sie Wandelbarkeit des Menschen, der Mangel an Integrität auch bei Intellektuellen? Dafür hätten die Kapitel über Sabina Spielrein genügt. Warum überhaupt die Kapitel über Platten? Verglichen mit Sabina finde ich ihn eigentlich eher uninteressant; ich habe den Eindruck, dass seine Selbstzweifel ziemlich oberflächlich bleiben und sich hauptsächlich am ungewissen Schicksal seiner Frauen/Freundinnen festmachen, nicht an seinem früheren Idealismus. Das Buch muss noch ein wenig sacken, aber festhalten kann ich jetzt schon: Frau Spielreins Lebensweg hat mich wesentlich mehr ergriffen als derjenige Plattens.
 
G

Gelöschtes Mitglied 2403

Gast
Mir hat dieses Buch sehr gut gefallen, die Charaktere sind durch ihre Unangepasstheit eindrücklich, die Thematik absolut interessant. Das Gelesene reiht sich in schon gelesene Literatur mühelos ein und ich freue mich einen neuen Schriftsteller entdeckt zu haben. Ein interessantes Buch, wo ich in der Bewertung noch etwas unschlüssig bin. Ich schwanke wirklich zwischen 5 und 4 Sternen.
 

otegami

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17. Dezember 2021
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Am Anfang dachte / hoffte ich immer noch auf ein Kennenlernen der zwei Protagonisten, habe sogar ausgerechnet, dass sie altersmäßig zusammenpassen würden. Nichts war’s!!!! Zwei Biografien erwarteten uns hier im Buch.

Seltsamerweise störte mich das nicht – zu interessant waren diese beiden Lebensläufe.

Fritz Platten opfert auf dem Altar seiner fanatischen Einstellung seine Eltern, seine 4 Frauen und auch seine 2 Kinder! Sehr treffend empfand ich die Beschreibung des Systems der Heimlichkeiten - 'Über das durfte nicht gesprochen werden', 'jenes durfte sie ihm nicht sagen', 'die Wahrheit werde ohnehin vertuscht'- und war mächtig angewidert davon! (Das geht mir allerdings auch mit all den anderen politischen Religionen so!)

Sabina Spielreins Geschichte empfand ich erst gegen Ende als sehr aufwühlend! Davor war sie reinste Erholung für mich, besonders ihre Zeit in der Schweiz.

Beiden gemeinsam ist das tragische Ende, nur wenige Monate auseinander.

Haften bleiben wird bei mir der allgemein gültige Satz, der absolut zeitlos ist: „"Sobald politische Führer bereit sind, über Leichen zu sehen, gehören sie zur selben Kategorie, zu jener der Zerstörer und Mörder."
 
Zuletzt bearbeitet:

Sassenach123

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27. Dezember 2015
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Für mich war es ein sehr informatives Buch, da ich weder von Sabina Spielrein noch von Fritz Platten gehört hatte. Im Nachhinein habe ich mir zu Sabina den Wikipedia-Eintrag durchgelesen und der Autor scheint wirklich dicht am tatsächlichen Geschehen geblieben zu sein.
Sabinas Schicksal nahm mich definitiv mehr mit und interessierte mich eindeutig mehr, als das von Fritz, dennoch harmonieren die beiden Leben recht gut nebeneinander.
Ich muss noch ein wenig über meine Rezension nachdenken, schwanke momentan zwischen 4 und 5 Sternen
 

luisa_loves-literature

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9. Januar 2022
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Mich erinnert die Konstruktion es Romans ein wenig an das berühmte Zusammenwerfen von Äpfeln und Birnen. Oder um es ein wenig literarischer zu fassen, daran wenn Studierende eine Arbeit zur Verbindung von "Im Westen nichts Neues" und dem Hollywood-Blockbuster "Pearl Harbor" schreiben wollten. Beides Krieg - sonst keine Gemeinsamkeiten...das reicht mir einfach nicht aus. Ich spreche Hartmann selbstverständlich nicht ab, dass er ein größeres Ziel verfolgte - es nützt mir nur nichts, weil es sich nicht erkennbar darstellt und nur mit allergrößtem Konstruktionsaufwand unsererseits zu generieren ist. Für mich ist das dann in gewisser Weise am Thema vorbei.

So bleibt der Roman für mich sehr lesbar, gerade die Sabina-Teile finde ich äußerst überzeugend und ansprechend zu verfolgen und insgesamt hat er mir gefallen, aber der Text bleibt in seinem Potenzial stecken.