FAZIT zu "Hunger" unter Berücksichtigung von Nachwort und editorischer Notiz

Literaturhexle

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2. April 2017
19.241
49.148
49
Wie hat euch der Roman als Ganzes gefallen? Bitte schreibt ein spontanes Fazit in ein paar Sätzen und geht auch auf das Nachwort von Felicitas Hoppe sowie die editorische Notiz ein.
 

GAIA

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27. Dezember 2021
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Thüringen
Erst einmal zum Roman an sich: Die Geschichte habe ich grundsäzlich gern gelesen, bin dem Erzähler durch Kristiania/Oslo gefolgt und haben seinen Irrungen und Wirrungen gelauscht. Wenngleich ich sagen muss, dass die ständige Wiederholung ein und desselben Verhaltensmusters mit der Zeit wirklich anstrengend war passiv verfolgen zu müssen. Dass ein wirklich massiv hungernder Mensch ab einem bestimmten Punkt nicht seinen überhöhten Stolz und sein Ehrgefühl fahren lässt, um seinen Grundbedürfnissen nachzugehen, kann ich hier nur seiner stark auffälligen prämorbiden Persönlichkeitsstruktur zurechnen. Die Masse der Menschen würde schon viel früher realisieren, was zu tun wäre, um zu überleben. Der Erzähler ist diesbezüglich schon ein Sonderfall.
Insgesamt war mir der Roman in seiner Länge und damit vor allem in seinen vielen Wiederholungen ein und desselben Musters zu viel. Das Ganze als Kurzgeschichte oder Novelle hätte mir wahrscheinlich auch ausgereicht, um den Punkt von Hamsun zu greifen. Die physischen und kognitiven Veränderungen unter langanhaltendem Hunger hat er gut beschrieben, keine Frage. Ich bin froh, nun auch einmal diesen Klassiker gelesen zu haben, auch wenn er für mich kein Highlight darstellt.

Das Gesamtpaket der vorliegenden Veröffentlichung vom Manesse Verlag finde ich wirklich sehr gut gelungen. Endlich gab es durchnummerierte und im Text gekennzeichnete Anmerkungen! Die editorische Notiz ist erhellend. Die Übersetzung von Ulrich Sonnenberg ist gelungen.

Zum Nachwort von Felicitas Hoppe: Es hat mir sehr gefallen, dass sich das Nachwort auch wirklich ausführlich mit dem vorliegenden Werk beschäftigt und gut verständlich ist. (Im Gegensatz zur letzten Klassiker-Leserunde zur Penguin "Herz der Finsternis"-Veröffentlichung!) So war ich erleichtert zu lesen, dass "die Geschichte von Hunger hat keinen Kern, genauso wenig, wie man von einem bündigen Plot sprechen könnte". ;) Auch wenn Hoppe nicht auf die Frage eingeht, ob die Wahrnehmungen des Erzählers vielleicht auch verworren sind und Szenen des Buches Halluzinationen sein könnten, und sie sich nicht mit der sehr ausführlichen Szene in der Wohnung von "Ylajali" beschäftigt, konnte ich doch einiges Erhellendes aus dem Nochwort mitnehmen. Wie die Autorin selbst sagt, gibt es genügend Bücher die sich nur mit dem Roman "Hunger" detailliert beschäftigen. So muss man sich dann doch selbst belesen, wenn man mehrere Deutungsvarianten erfahren möchte. Toll finde ich, dass das Nachwort mit einer Quellenangabe unterfüttert ist. Meines Erachtens hat hier der Verlag wirklich alles richtig gemacht in der Zusammenstellung dieser Ausgabe. Mit einer kleinen Einschränkung: Hätte ich das Werk "Hunger" und den Autor Knut Hamsun nicht schon vorher im Blick gehabt, wär ich im Buchladen an diesem Cover vorbeigegangen. Haptisch ist der Umschlag zwar eine Besonderheit, aber auf den ersten Blick hätte mich das Buch leider nicht angesprochen. Das klingt jetzt böse, aber hätte ich das Buch im Laden gesehen, ohne dass es einem Genre zugeordnet gewesen wäre, hätte es auch eine neue Veröffentlichung von Fitzek, in der jemand böswillig von einem Mörder zu Tode gehungert wird, oder so sein können. Aber das Cover spielt für meine Bewertung keine Rolle.

Den Roman an sich würde ich insgesamt mit 3,5 Sternen bezüglich meiner Lektüreerfahrung bewerten. Da mir die Ausgabe des Manesse Verlags in ihrer Ausstattung sehr gut gefällt, runde ich auf 4 Sterne auf.
 

Christian1977

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8. Oktober 2021
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Mein Fazit bezieht sich lediglich auf den Roman und dessen Ausgabe dtv/List von 1982 ohne Nachwort und Editorische Notiz.

Mir hat "Hunger" im Großen und Ganzen gut gefallen, auch wenn ich genau wie @GAIA eine gewisse Eintönigkeit in der Figur und Handlung bemängeln muss. Doch trotz der nur geringen Entwicklung habe ich mich so gut wie nie gelangweilt.

Der Ich-Erzähler ist eine faszinierende Figur, die mich gleichermaßen genervt, aber auch gereizt hat. Sein manisch-depressiv anmutender Wahnsinn, seine Begegnungen mit den anderen Menschen in Kristiania, seine feine Beobachtungsgabe ließen mich immer wieder gespannt auf die neuen Begebenheiten blicken. Seine irren Ideen auf den Straßen und im Hinblick auf sein Schreiben brachten mich immer wieder zum Lachen, wodurch ich das schwere Grundthema des Hungerleides durchaus aufgelockert sah.

Die Atmosphäre hat mir sehr gut gefallen. Der Lärm auf den Straßen, die Schilderungen seiner Umgebungen - das alles gelingt Knut Hamsun schon sehr sehr gut.

In meinem Gesamturteil komme ich auf vier Sterne.
 

Eulenhaus

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13. Juni 2022
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Ich gebe dem Roman 5 Sterne, weil es Hamsun gelungen ist aus eigener Erfahrung den HUNGER sprachlich beeindruckend zu beschreiben. Er schildert die Zustände von Wahnsinn und Hoffnung, Güte und Verzweiflung sehr anschaulich, auch düster. In einer manisch-depressiven Stimmung nimmt das Hunger-Drama seinen Lauf. Die Hauptfigur findet keinen Platz in der weitgehend unterkühlten Gesellschaft.
 

parden

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13. April 2014
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Niederrhein
www.litterae-artesque.blogspot.de
Meine Meinung zum Nachwort habe ich schon im 4. Abschnitt geschrieben, ich mag mich da jetzt nicht wiederholen. Ich war jedenfalls nicht ganz so begeistert wie z.B. @GAIA . Aber ich bin auch mit dem Roman nicht warm geworden, und je mehr ich über den späteren Literaturnobelpreisträger erfahre, desto weniger mag ich mit diesem zu tun haben. Das Wort "Klassiker" sagt nichts darüber aus, dass einem jedes Werk gefallen muss, das unter diesen Begriff fällt. Ich werde vermutlich gerade noch 3 Sterne vergeben - für konsequent-widersprüchliches Handeln und Denken, für Größenwahn, Überheblichkeit und Selbstherrlichkeit vs. Selbstvorwürfe, Selbstmitleid und Verzweiflung, Verachtung gegenüber allen vs. devotem Verhalten - und all das wechselnd im Sekundentakt. In der detaillierten Beobachtungsgabe verblüffend, in all der Konsequenz mit seinem falsch verstandenen Stolz allerdings ermüdend, wenn nicht gar nervig.
 

GAIA

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27. Dezember 2021
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Thüringen
Ich war jedenfalls nicht ganz so begeistert wie z.B. @GAIA
Haha, als ich deine Beiträge mitlas, habe ich immer so gedacht: da hat parden wohl recht. Ich glaube, wär‘ meine Rezi nicht schon geschrieben, würde sie nun etwas kritischer ausfallen und ich würde vielleicht doch eher auf 3 Sterne abrunden bei 3,5 insgesamt.
Deine Kritikpunkte konnte ich auf jeden Fall auch nachvollziehen.
 

Literaturhexle

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2. April 2017
19.241
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Mich hat am meisten die sprachliche Virtuosität beeindruckt, die den Hunger, die Not, die Gewissenskonflikte, die Gefühlsschwankungen des Protas sehr glaubwürdig verdeutlicht und spürbar macht. Das scheint allerdings beim Hörbuch besser zum Tragen zu kommen.

Man hat den Eindruck, dass der Prota in einer fortwährenden Spirale gefangen ist: Hunger, Elend, Hilfe/Geld, falsches Ehrgefühl, Verschwendung... und wieder von vorn.
Das kann ermüden, die ein oder andere Spirale war für mich nicht nötig, nicht jede Wende brachte neue Fakten, eine Entwicklung sehe ich kaum. Der Prota ist völlig in seinem Verhaltensmuster gefangen. Er bringt wenig Rentables mit dem Bleistift zustande, denkt aber keine Sekunde darüber nach, durch andere Arbeiten zu Geld zu kommen (vom Ausflug ins Kontor mal abgesehen).

Das Buch selbst finde ich äußerlich sehr gelungen, die spröde Oberfläche passt zum Thema. Anmerkungen, editorische Notiz und vor allem das Nachwort finde ich informativ und erhellend. Die Parallele zu Pippi Langstrumpf ist wirklich augenfällig, auch wenn die Figuren so gänzlich unterschiedlich angelegt sind.

Ich denke, ich werde auch bei 4 Sternen für diesen Klassiker auslaufen.
 

kingofmusic

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30. Oktober 2018
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Tja, was soll ich sagen? "Hunger" hat einen Fan mehr :rofl . Der Inhalt ist an der ein oder anderen Stelle schwer verdaulich. Trotzdem hat mich die Präzision der geschilderten "Vorgänge" fasziniert. Das Nachwort finde ich knackig und informativ; ebenso die Anmerkungen und die editorische Notiz. Das als Grundlage sollte ausreichen, um meine 5* zu rechtfertigen (mehr dazu in meiner Rezension) :cool:.
 

Barbara62

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19. März 2020
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Baden-Württemberg
mit-büchern-um-die-welt.de
Mich hat "Hunger" letztlich mehr überzeugt als "Mrs. Dalloway", für die ich 3 Sterne gegeben habe, weil ich die Personen und die Handlung so gänzlich uninteressant fand. Das erging mir bei unserem Hungerhelden anders, auch wenn er mich tierisch nervte. Aber allein diese Tatsache zeigt, dass ich engagiert dabei war, sonst wäre er mir einfach egal gewesen.

Nicht besonders erhellend fand ich übrigens das Nachwort, das war mir zu aufgesetzt intellektuell (oder ich zu dumm).

Meine Rezension habe ich deshalb mit 4 Sternen garniert:


Und uff! - wieder eine Bildungslücke geschlossen. :party
 

Sassenach123

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27. Dezember 2015
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@Barbara62 hat einen interessanten Vergleich gezogen, denn mit Mrs Dalloway konnte ich damals ebenfalls rein gar nichts anfangen. Im Vergleich dazu schneidet "Hunger" definitiv besser ab.
Das Nachwort habe ich nur überflogen um ehrlich zu sein, ich hätte es nicht unbedingt gebraucht. Bei Klassikern habe ich allerdings immer das Gefühl ich müsse sie irgendwie würdigen, auch wenn sie mir im Grunde nicht gefallen haben. Mal sehen, wie ich den Spagat in der Rezension hinbekomme:cool:
 

milkysilvermoon

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13. Oktober 2017
1.803
5.061
49
Ich habe mich heute direkt an die Rezension gesetzt, damit ich das Buch abhaken kann. Bei mir hat sich leider kein Lesevergnügen eingestellt. Deshalb gibt es von mir nur wohlwollende drei Sterne.

Ich interpretiere den Protagonisten zugunsten des Autors als psychisch kranke Person. Nur so ließ sich die Geschichte für mich halbwegs erträglich lesen. Wenn man allen Unfug alleine dem (nicht dauerhaft bestehenden) Hunger zuschreiben wollte, ist das Verhalten des Namenlosen einfach nicht schlüssig. Zudem rechne ich Hansun an, dass das Werk für seine Zeit erstaunlich progressiv ist.

Das alles kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass mich die vielen unnötigen Wiederholungen, die Tempuswechsel und die Ausgestaltung des Protagonisten genervt haben.
 

parden

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13. April 2014
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Niederrhein
www.litterae-artesque.blogspot.de
Meine Meinung zum Nachwort habe ich schon im 4. Abschnitt geschrieben, ich mag mich da jetzt nicht wiederholen. Ich war jedenfalls nicht ganz so begeistert wie z.B. @GAIA . Aber ich bin auch mit dem Roman nicht warm geworden, und je mehr ich über den späteren Literaturnobelpreisträger erfahre, desto weniger mag ich mit diesem zu tun haben. Das Wort "Klassiker" sagt nichts darüber aus, dass einem jedes Werk gefallen muss, das unter diesen Begriff fällt. Ich werde vermutlich gerade noch 3 Sterne vergeben - für konsequent-widersprüchliches Handeln und Denken, für Größenwahn, Überheblichkeit und Selbstherrlichkeit vs. Selbstvorwürfe, Selbstmitleid und Verzweiflung, Verachtung gegenüber allen vs. devotem Verhalten - und all das wechselnd im Sekundentakt. In der detaillierten Beobachtungsgabe verblüffend, in all der Konsequenz mit seinem falsch verstandenen Stolz allerdings ermüdend, wenn nicht gar nervig.
Ich wollte wirklich 3 Sterne vergeben, aber beim Schreiben der Rezension regte sich da zunehmend Widerstand in mir - mir wurde immer deutlicher, wie wenig Zugang ich zu diesem Roman hatte. Sehr schade, ich bedaure dies am meisten. So konnte ich jedenfalls leider nur 2 Sterne vergeben... Aber schön, dass andere hier deutlich begeisterter waren.
 

Lesehorizont

Bekanntes Mitglied
29. März 2022
2.536
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53
Mainz
Ich las das Werk im Rahmen der Leserunde insgesamt zum dritten Mal, wobei auch die Fassung der 2019 erschienen Graphic Novel war. Bisher war ich bei jeder Lektüre jedes Mal aufs Neue fasziniert von der Erzählkunst Hamsuns, der das Schicksal des hungernd Herumtreibenden sehr einrücklich beschreibt. Ich halte das Buch für ein Meisterwerk. Bei mir zählt es zu meinen größten Lebens-Lesehighlights. Von daher konnte ich nur 5 Sterne zücken.