FAZIT zu "Elizabeth Finch"

Literaturhexle

Moderator
Teammitglied
2. April 2017
19.480
50.072
49
Wie hat euch der Roman als Ganzes gefallen? Bitte gebt uns ein spontanes Fazit in ein paar Sätzen.
 

Emswashed

Bekanntes Mitglied
9. Mai 2020
2.742
9.822
49
Es ist eine Geschichte, durchaus! Aber sie fallen zu leicht auseinander. Man könnte meinen, dass es nur Julian Apostata in Finchs Leben und Elizabeth in Neils Leben gab. Neils Essay geschah, um Elizabeth posthum zu beeindrucken. Es ist Neils "verwurstelte und verquälte" Art, die ihn die Tatsachen übersehen ließen, die über die Gewichtung der Abschnitte im Buch bestimmt haben.
Anna bringt Licht ins Dunkel, aber zu spät und zu bruchstückhaft.
Wir hingen die ganze Zeit an Neils verliebten Lippen (stieß mir schon zum Anfang auf) und mussten ihm auf Gedeih und Verderb folgen.
Wie ein Überraschungsei wurde uns der Kaiser Julian untergeschoben, sollte uns von EF ablenken. Dabei bekam er soviel Raum und Zeit, dass wir ganz in die müßige und auch einseitige Debatte, ob ein heidnisches Europa sich anders entwickelt hätte, hineingezogen wurden.
Hat Julian Barnes hier mit seinen Lesern "experimentiert"? Oder hat er gar ein Schubladenprojekt "rausgehauen"? Ich darf ihm zugute halten, dass er auf gewohnt eloquente Weise sehr viele Spuren legt. Er schafft es, Interesse für Themen zu wecken, die man unter normalen Umständen "in der Schublade" liegen lassen würde.
 

Naibenak

Bekanntes Mitglied
2. August 2021
1.219
5.394
49
Mein Fazit fällt wohlwollender aus ;)
Ich habe ein Buch gelesen und damit einen Autor (glücklicherweise) kennengelernt, der offenbar seine Leser*innen ein wenig provozieren und hinter dem sprichwörtlichen Ofen hervorlocken will. Ein Mittelteil, der auf den ersten Blick aus dem Rahmen fällt und mit etwas teils provokanten Ideen um die Person Julian Apostata aufrüttelt, aber gleichermaßen in philosophischer und historischer Hinsicht enorm zu fesseln vermag. Dies auch insbesondere aufgrund der Verwendung von sehr unterschiedlichen Quellen der letzten Jahrhunderte, die aufzeigen, wie bekannt dieser Mann bis heute ist und wie inspiriert Philosophen und Gelehrte von ihm waren. Dies wiederum nicht nur einseitig! Im dritten Teil werden Parallelen deutlich - zwischen EF/JA und Neil. Neil, der Erzähler, der EF immer aus Bewunderung und Verliebtheit erhöht hat, erkennt genau das. Auch erkennt er, dass die Geschichten über JA sehr unterschiedlich sind. Er erkennt, dass er eigentlich nichts wirklich weiß über eben diese beiden Personen, nur die Geschichten, die sie definieren und die man selbst hineininterpretiert. Er sinniert darüber, wie er selbst wohl am Ende von anderen Menschen wahrgenommem wird... Es ist eine philosophische und historische Reise, die mich aufgrund kluger Gedanken und Ideen zum Denken angeregt, sowie aufgrund des hochinteressanten Geschichtsunterrichts gefesselt hat. Die verbindenden Elemente dieser unterschiedlichen Romanteile habe ich zunehmend wahrgenommen, was mich am Ende recht zufrieden das Buch hat zuklappen lassen. Schönes Ding!
 

Literaturhexle

Moderator
Teammitglied
2. April 2017
19.480
50.072
49
Ich habe nicht Barnes mit Barnes verglichen, sondern Elizabeth Finch mit kürzlich Gelesenem, deshalb...
Recht hast du:joy
Genau dasselbe wollte ich mit meinem 4☆ Beispiel vom Simon sagen....

Die verbindenden Elemente dieser unterschiedlichen Romanteile habe ich zunehmend wahrgenommen
Danke für die explizite Erklärung! Das klingt sehr schlüssig. Ich schaue mir das nochmal an.

Du wirst Barnes lieben. Ganz bestimmt!!! Seine weiteren Werke sind noch "besser".
 

Literaturhexle

Moderator
Teammitglied
2. April 2017
19.480
50.072
49
Mir hat wohl "Vom Ende einer Geschichte" am besten gefallen. Es hat auch den Booker gewonnen. Ich brauchte allerdings die Zweitlektüre, um es richtig zu lieben (mit einer kleinen LR hier;))
Beim ersten Lesen war ich aber auch noch eine andere Leserin.

"Der Lärm der Zeit" ist aber auch toll oder "Die einzig wahre Geschichte". Die älteren Werke kenne ich auch noch nicht leider.
 

Wandablue

Bekanntes Mitglied
18. September 2019
9.695
22.102
49
Brandenburg
Ich bin nicht angetan.
Erstens. Heldenverehrung, sublim sexualisiert - wer braucht so was?
Zweitens: Spätstudenten - kurios.
Drittens: Profs, die sich anbeten lassen. Dubios.
Viertens. Wiederauferstehung eines zu Recht in der historischen Versenkung Befindlichen - unnötig.
Fünftens: Machart. Gefüllt mit pseudointellektuellem Geschwafel.
Sechstens: die meisten aufgestellten Thesen halte ich für falsch.
Siebtens. was soll das?
 
  • Like
  • Stimme zu
Reaktionen: RuLeka und Emswashed

Emswashed

Bekanntes Mitglied
9. Mai 2020
2.742
9.822
49
Fünftens: Machart. Gefüllt mit pseudointellektuellem Geschwafel.

Naja, mir zumindest hats ein Zugewinn an Wissen gebracht, wofür ich gleich Verwendung fand (auch ein kleiner Nachtrag):
Ich sah vor wenigen Tagen eine Comedysendung im TV und der Erzähler berichtete von der Frühgeburt seiner Tochter und wie er viele bange Stunden an ihrem Inkubator verbrachte. Bei jeder kleinen Unregelmäßigkeit machte er alle verrückt. Schwester "Ursula" beruhigte ihn und versicherte, dass auch sie jederzeit die Werte seiner Tochter sehen würde und wenn tatsächlich etwas aus dem Ruder liefe, würde sie und "ihre 11 Schwestern" ninjamäßig sofort herbeieilen und das Kind retten.:helo
Ich fands zwar nicht wirklich witzig (ähnliche Situation erlebt) aber die Ursula und ihre 11 Schwestern kamen mir dann doch sehr bekannt vor.:grinning
 

Literaturhexle

Moderator
Teammitglied
2. April 2017
19.480
50.072
49
Hat Julian Barnes hier mit seinen Lesern "experimentiert"?
Ich denke schon. Die Struktur darf man besonders nennen.
dass er auf gewohnt eloquente Weise sehr viele Spuren legt.
Genau. Wie ein Puzzle
schafft es, Interesse für Themen zu wecken, die man unter normalen Umständen "in der Schublade" liegen lassen würde.
Das macht einen Reiz aus. Vielleicht auch, weil ich mich mit philosophischen Fragen noch nicht allzu oft beschäftigt habe.
Dies wiederum nicht nur einseitig! Im dritten Teil werden Parallelen deutlich - zwischen EF/JA und Neil.
Danke. Das hätte ich ohne dich nicht gesehen!


Es ist kein leicht zugängliches Buch! Man muss sich darauf einlassen, auch die Aufteilung in drei Teile mit der Abhandlung über JA in der Mitte empfinde ich als sperrig. Ich musste weite Teile ein zweites Mal lesen, um ein besseres Verständnis zu bekommen. Definitiv handelt es sich hier nicht um ein Romanchen für zwischendurch oder für Zeiten, wenn der Kopf nicht frei ist.

Julian Barnes fordert seine Leser hier noch stärker als üblich. Ich bin ihm meistens gern gefolgt, die Gedankenspiele "Was wäre gewesen, wenn..." haben mir Spaß gemacht. Barnes schreibt so geschliffen, so elegant, mit unterschwelligem (englischem?) Humor gewürzt, dass ich das meiste wirklich GERN gelesen habe. Zahlreiche Smileys am Textrand zeugen davon. Zum Ende hin hat mich das Buch im dritten Teil dann etwas verloren. Hier war mir Naibenak eine Hilfe - und das erneute Lesen.

Man kann Parallelen zwischen EF, JA und dem unzuverlässigen Erzähler Neil herausfinden, der tatsächlich seine Lehrerin auf ein Podest gestellt hat, ebenso wie jene den alten Kaiser vergötterte. Neil ist ein unzuverlässiger Erzähler, auf den letzten Seiten wird spätestens deutlich, dass Barnes nicht allzu ernst genommen werden will. Das fand ich amüsant.

Mit Sicherheit habe ich nicht alles kapiert, was mir hier serviert wurde. Vielleicht habe ich mich einlullen lassen- Stil ist mir nicht unwichtig und tröstet mich auch schon mal über eine holprige Handlung hinweg. Ich habe keine Ressentiments gegen die dargestellten Themen. Ich fühlte mich zu Überlegungen inspiriert, die ich sonst nicht gehabt hätte. Ich sehe den Roman auch als Aufruf zu Toleranz, zum genauen Hinsehen. Viele Religionen und Dinge haben viel mehr Seiten, als man auf den ersten Blick sieht. Es gibt nicht nur eine Wahrheit.

Nachdem ich mich heute nochmal in das Buch hineingefuchst habe, sollte ich morgen die Rezension tippen. Wie gesagt, eingängig ist hier nichts und merken kann ich es mir auch schwer. Aber ich goutiere die Qualität eines Julian Barnes, der tatsächlich kein schlechtes Buch schreiben kann, nur ein sehr intellektuelles, sperriges. Ob ich am Ende zu 5 Sternen komme, weiß ich noch nicht, aber 4 sind ihm sicher.
 

Literaturhexle

Moderator
Teammitglied
2. April 2017
19.480
50.072
49
Ich bin nicht angetan.
Erstens. Heldenverehrung, sublim sexualisiert - wer braucht so was?
Zweitens: Spätstudenten - kurios.
Drittens: Profs, die sich anbeten lassen. Dubios.
Viertens. Wiederauferstehung eines zu Recht in der historischen Versenkung Befindlichen - unnötig.
Fünftens: Machart. Gefüllt mit pseudointellektuellem Geschwafel.
Sechstens: die meisten aufgestellten Thesen halte ich für falsch.
Siebtens. was soll das?
Ich habe den Eindruck, dass du mit diesem Roman auf mannigfaltige Weise getriggert worden bist: Kritik am Christentum, Verherrlichung der tierischen Opfergaben, Erhöhung eines Kaisers (Heldenverehrung), zwei eigenwillige Protagonisten, die genau diesen Kaiser hofieren,...
Entsprechend fällt dein Fazit ziemlich krass und ernüchternd aus.
Das ist deine Meinung, die steht dir natürlich zu.
Nachvollziehen kann sie in dieser Form aber überhaupt nicht.

Was ist an der Heldenverehrung "sublim sexualisiert"?
 

Naibenak

Bekanntes Mitglied
2. August 2021
1.219
5.394
49
Ich sehe den Roman auch als Aufruf zu Toleranz, zum genauen Hinsehen. Viele Religionen und Dinge haben viel mehr Seiten, als man auf den ersten Blick sieht. Es gibt nicht nur eine Wahrheit.
Absolut! Genau das sehe ich in diesem Roman auch an erster Stelle! Und genau das ist SICHTBAR.

Es wird m.M.n. hier auch gar nicht eine Person (JA) in den Himmel gehoben ohne Wenn und Aber. Barnes zählt in erster Linie auf: diverse Quellen aus der Geschichte bzgl. JA, die immerhin UNTERSCHIEDLICH ausfallen. Hierbei wird deutlich, was Polytheismus bedeuten KANN (Abschlachten der armen Tiere zu Tausenden, Orakelbefragungen...) und Barnes zeigt gleichzeitig auf, was unter dem Deckmantel des Christentums passiert ist. Für mein Empfinden will Barnes, dass jede*r am Ende zu dem Schluss kommt, genauer hinzuschauen. Selbst nachzudenken. Er sagt nicht: "das ist wahr und das nicht". Absolut nicht. Genau das Gegenteil ist der Fall. Und diesen Kniff finde ich so besonders in seinem Roman :)
 

Literaturhexle

Moderator
Teammitglied
2. April 2017
19.480
50.072
49
Er sagt nicht: "das ist wahr und das nicht". Absolut nicht.
Genau deiner Meinung!
Und am Ende "zerstört" er doch seinen Heldenmythos (wenn es denn einen gab) wieder, indem er hinter die Fassade leuchtet und das Ganze als eine Art Irrfahrt von Neil beschreibt, der im Nachgang selbst darüber lacht.

Ich bleibe bei meinem Statement: Man darf es nicht zu ernst nehmen! Was zweifellos schwerer fällt, wenn religiöse oder andere Gefühle verletzt werden.

Ich sehe auch überhaupt keine Überhöhung des Polytheismus. Pros und Cons werden aufgelistet. Die Verknüpfung Julian/Elizabeth/Neil ist zweifellos gewagt, teilweise sperrig. Aber spätestens am Ende , wo das ganze Geschreibsel in der Schublade verschwindet, ist doch klar, dass Barnes hier keine weltverändernden Thesen an die Wand nageln wollte.
 

Naibenak

Bekanntes Mitglied
2. August 2021
1.219
5.394
49
Die Welt ist ja leider sooo voll von "Schwarz" und "Weiß". Das macht mich oft unglaublich müde und es frustriert. Gerade da ist es für mein Empfinden mal sehr angenehm, wenn jemand wie Barnes daherkommt und seinen Roman auch um dieses Thema herum aufbaut. Es gibt so viele Zwischentöne! Wollte ich nochmal gesagt haben. Ich glaube, ich bin ein neuer Barnes-Fan *hahahaha* :D