FAZIT zu "Eine Art Familie"

Literaturhexle

Moderator
Teammitglied
2. April 2017
19.240
49.141
49
Wie hat euch der Roman als Ganzes gefallen? Bitte schreibt ein paar Sätze als spontanes Fazit.
 

Literaturhexle

Moderator
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2. April 2017
19.240
49.141
49
Für mich zerfällt das Buch in einen relativ spannenden ersten Teil und einen sich ziehenden zweiten, der viele Wiederholungen aufweist, wenig Handlung hat und abgesehen von einigen historischen Fakten und gesellschaftlichen Entwicklungen nicht viel Neues bereithält. Die Biografie des Ludwig Lendle mag für die Familie sehr interessant sein. Für mich ist sie es nicht.

Vom Einstieg in den Roman, in dem Alma ihre Eltern auf so tragische Weise verliert, war ich regelrecht geflasht. Sprachlich großartig, mit stimmigen, eindrücklichen Metaphern startet der Autor in den Roman. Das Niveau kann er m.E. nicht halten, weder inhaltlich noch sprachlich.

Die philosophischen Grundthemen über das Verstreichen der Zeit und des Lebens werden immer wieder aufgekocht, weil sich der Protagonist offenbar in seinen Tagebüchern sehr intensiv damit auseinandergesetzt hat. Selbstmordphantasien gehören dazu. Desgleichen die Schlaf- und Narkoseforschung. Später erfahren wir auch viel über den Neffen, dessen Charakter dem Ludwigs in gewisser Weise ähnelt.

Da es sich hier nicht um einen rein fiktionalen Text handelt, sondern um einen, der auf Aufzeichnungen eines Dritten beruht, erklärt sich die detaillierte Darstellung. Gut finden muss ich sie nicht. In der zweiten Hälfte ließ der Autor jeglichen Spannungsaufbau vermissen. Der Protagonist zieht mehrfach um, entgeht der Entnazifizierung, gibt seinem Bedürfnis nach homosexueller Liebe nicht nach, bleibt ein einsamer Wolf bis zum Tod.
Auch Alma gerät dabei in den Hintergrund im zweiten Teil.
Schade. Nach dem tollen Beginn hatte ich wirklich mehr erwartet.

Als Pluspunkt muss man den Überblick über ein bewegtes Jahrhundert aus Sicht eines Soldaten/Studenten/Wissenschaftlers vermerken. Immer wieder blitzt Zeitkolorit auf, im Kleinen wie im Großen wird man anhand der Biografie Lendles durch die Zeit, ihre Umstürze und Veränderungen geführt. Da gibt es auch Dinge zu entdecken, über die man vorher wenig wusste.

Ich denke mal, dass am Ende 3 Sterne herauskommen.
 

RuLeka

Bekanntes Mitglied
30. Januar 2018
6.400
23.939
49
66
Das Buch ist nicht gerade ein Pageturner, trotzdem habe ich es gerne gelesen.
Inhaltlich orientiert sich Jo Lendle an den biografischen Fakten; um dem Innenleben und der Gedankenwelt seines Großonkels nahezukommen, kann sich der Autor auf dessen Aufzeichnungen stützen.
Ludwig Lendle war ein eher ungewöhnlicher Mann, ebenso ungewöhnlich die lebenslange Lebensgemeinschaft mit seiner Patentochter Alma und seiner Haushälterin. Lendle schildert die beiden als selbständig denkende Frauen.
Ich mochte den Humor, der ab und zu durchblitzt, die vielen klugen Abhandlungen und Gedanken. Lendle findet viele schöne Bilder und Metaphern, Spannung baut er nicht auf. Doch darum geht es ihm hiermit nicht.
Ich denke, er wollte hier seinem Großonkel ein Denkmal setzen.
Der Leser bekommt einen Einblick in das Hochschulwesen in den verschiedenen Zeiten und in einen Bereich der Naturwissenschaften.
Vier Punkte werden es bei mir schon werden.
 
Zuletzt bearbeitet:

Emswashed

Bekanntes Mitglied
9. Mai 2020
2.674
9.511
49
Tja, das ist eins dieser Bücher, die ich nicht wirklich einordnen kann. Die Sprache ist toll, obwohl Lendle hie und da leicht übers Ziel hinausgeschossen ist (oder wollte er nur seinen Bildungsgrad klarstellen?). Der Anfang hat mich tatsächlich gefesselt und meine Erwartungen ziemlich hochgeschraubt. Doch dann war es für mich wie Rummelplatz, an jeder Ecke eine verführerische Attraktion (Almas 20er Jahre "Erlebnisse", Ludwigs sexuelle Orientierung, die Schlafforschung...) aber keine Zeit und Gelegenheit, diese auch auszukosten.

Für eine Biografie waren mir zuviele Ablenkungen drin, für eine persönliche Hommage an den Großonkel, zu wenig liebevolles Lückenschließen, für einen Jahrhundertroman, zu WENIGE Nebendarsteller.... es ist weder Fisch noch Fleisch... aber durchaus essbar!
 

wal.li

Bekanntes Mitglied
1. Mai 2014
2.713
2.674
49
Ich habe Ludwig nun doch mal gegoogelt.
Wie gesagt, langweilig fand ich das Buch nicht. Ich glaube, da es auf den Tagebuchaufzeichnungen basiert, ist es teilweise sehr beschreibend. Gut gefallen hat mir, dass die Darstellung nicht beschönigend gewirkt hat. Ich habe mal irgendwo gelesen, dass nach dem Krieg jede Familie ihren Widerständler hatte und natürlich keine Nazis. Da macht der Autor schon sehr deutlich, dass es nicht so war. Sogar der Wissenschaftler Ludwig, der anfangs den Nazis nichts abgewinnen konnte, hat nachher doch an Nazi-Forschungen teilgenommen und sich nicht abgegrenzt. Und was nach dem Krieg passiert ist, war auch kein Wunder. Ich frage mich, wie lange die Reihen der Unternehmer und Arbeitnehmer noch mit Nazis durchzogen waren. Oder wenigstens Einige eingesehen haben, dass das System nichts taugte.
Da fand ich die Geschichte wirklich ehrlich und normal.
 

milkysilvermoon

Bekanntes Mitglied
13. Oktober 2017
1.803
5.061
49
Meine Meinung deckt sich stark mit dem @Literaturhexle

Sprachlich hat mich das Buch durchaus überzeugen können. Es gibt einige schöne Sätze und Metaphern. Zudem ist es Lendle gelungen, viel Zeitgeschehen unterzubringen, was mir gut gefallen hat.

Meiner Ansicht nach krankt das Buch aber, wie @Emswashed so treffend formuliert, dass es nichts Halbes und nichts Ganzes ist. Für einen Roman ist mir das Buch zu langweilig.

Bei mir werden es wohl auch nicht mehr als drei Sterne.
 
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Reaktionen: Emswashed und RuLeka

Anjuta

Bekanntes Mitglied
8. Januar 2016
1.635
4.771
49
62
Essen
Ich habe eine 5 Sterne-Rezension geschrieben und das spiegelt wieder, dass mir das Buch wirklich gut gefallen hat. Eine unkonventionelle Figuren-Konstellation hat mich durch die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts begleitet und geleitet und mir dabei Blicke auf Charaktere eröffnet, die sich nicht so simpel einordnen lassen in ein Raster von Gut und Böse, wo wir dazu neigen, genau das zu erwarten in den hier geschilderten Zeiten. Es sind Charaktere, die unsicher und mit vielen Zweifeln durch die Wirren der deutschen Geschichte schreiten. Ganz sicher keine Nazis lassen sie sich (lässt sich Lud) doch von ihnen vereinnahmen. Die unkonventionelle Lebensform, die uns hier präsentiert wird, schafft eine interessante Spannung genauso wie die familiäre Nähe des Autors zur Figurengruppe. Seine präzise, sachliche und treffende Sprache und der Schreibstil tun ein Weiteres für mein positives Fazit und die verdienten 5 Sterne!