FAZIT zu "Ein Leben lang"

otegami

Bekanntes Mitglied
17. Dezember 2021
1.833
6.330
49
71
Tja, ich war begeistert von diesem Roman! Konnte ich doch nach Herzenslust analysieren auf Grund des Gesagten der fünf Freunde. (Wahrscheinlich fand ich deshalb auch Sabine und Benjamin am sympathischsten.)
Genial fand ich auch die Analyse von Sabine am Ende: "Wir hätten uns früher fragen müssen, ob wir zu ihm halten, weil er es nicht getan hat oder obwohl er es getan hat."
Mir war es auch egal, ob er es war oder nicht! Spielte für mich keine Rolle! Ich fand die Aussagen übereinander so bezeichnend und die Beschreibungen.
Der Autor hat es geschafft, mich nicht nur gut zu unterhalten, sondern er hat mich gerade zu gefesselt und mir zusätzlich noch etliche Informationen über die Kriminalistik geboten.
 

Literaturhexle

Moderator
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2. April 2017
19.250
49.167
49
Auch mich hat der Roman von Beginn an sehr gefesselt. Im Mittelpunkt steht die Freundesgruppe, die schon während der U-Haft und des Prozesses viel Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat. Diese verschiedenen Perspektiven lesen sich sehr spannend, weil man sie zusammensetzen, mit anderen Aussagen abgleichen und evaluieren kann. Alle kreisen sie um den namenlosen Freund X, der vereinzelt auch zu Wort kommt, allerdings wohl dosiert. Ebenfalls spannend sind die Einlassungen über Details zur Kriminalistik und Jurisprudenz. Da ich wenig mit Strafverhandlungen zu tun habe, war einiges Wissenswertes dabei.

Die Struktur Vorgeplänkel (Aufwärts)/Prozess/Epilog (Abwärts) hat mir sehr gut gefallen. Es wurde deutlich, wie viel Ausdauer man für einen Prozess mitbringen muss, die juristischen Mühlen mahlen eben langsam.

Natürlich hat mich final interessiert, ob X nun schuldig ist oder nicht. Im Mittelpunkt standen aber die Freunde und die zentrale Frage: Was macht es mit einer Freundschaft, wenn ein Freund des Mordes angeklagt wird? Dieser Dynamik geht Poschenrieder (von einem wahren Fall inspiriert) auf den Grund. Das Ende mit dem Bezug auf Dorian Gray finde ich ziemlich genial. Dadurch habe ich meine Antwort, ob X den Mord tatsächlich begangen hat oder nicht, bekommen.

Poschenrieder scheint ein sehr wandelbarer Autor zu sein. Ich werde den Roman mit 4,5 Sternen (also de facto 5) bewerten.
 

luisa_loves-literature

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9. Januar 2022
836
3.350
44
Blöd fand ich in diesem Zusammenhang übrigens, dass erst am Ende herauskommt, dass sie mit Benjamin verheiratet ist.
Das hat mich auch wirklich sehr überrascht, denn das wurde ja nirgendwo vorher auch nur angedeutet. Ich habe das als Hinweis für uns gelesen, auch den Freunden nicht über den Weg zu trauen, sie mit einer gewissen Skepsis zu behandeln. Vielleicht hat es für mich in gewisser Weise fast den Moment gespiegelt, als die Freunde herausfinden, dass der Freund schon vor Ewigkeiten das Jurastudium geschmissen hat. Sie hatten ihm vertraut. Ich hatte irgendwie notwendigerweise mehr oder weniger den Freunden vertraut und tatsächlich insbesondere Sabine und Benjamin - und dann verschweigen sie, dass sie jahrelang verheiratet sind und vier Kinder haben. Ich bin aber genau wie du der Ansicht, dass es keine besondere Relevanz hat.

Am Ende lässt mich der Bezug auf Oscar Wildes Roman etwas ratlos zurück.
Auch wenn ich grundsätzlich ein großer Fan von diesem "Dorian Gray"-Bezug bin, weiß ich nicht, ob er so glücklich gewählt ist. "Dorian Gray" zählt nun nicht unbedingt zu den allseits bekannten und gelesenen Texten, daher finde ich es etwas schwierig, solch einen Text vorauszusetzen - auch wenn natürlich inhaltlich schon etwas darüber erzählt wird. Mit Märchenbezügen wie z.B. "Schneewittchen" wäre es sicher einfacher.
 

luisa_loves-literature

Aktives Mitglied
9. Januar 2022
836
3.350
44
Ich mochte den Roman sehr. Ich habe mich nie gelangweilt, fand ihn äußerst abwechslungsreich und interessant. Aus bereits genannten Gründen bin ich (mit leichten Abzügen in der B-Note (s.o ;)) sehr begeistert von dem Schluss. Allerdings werden es dennoch keine 5, sondern wohl eher 4 Sterne werden. Ich hätte mir mehr Trennschärfe in den verschiedenen Freundesstimmen gewünscht und vor allem mehr Verbindung zwischen den Themenkomplexen der Freundschaftsdynamik und der Selbstinszenierung/-wahrnehmung des Gefangenen. Letzteres lauerte immer im Hintergrund und war dann am Ende der Höhepunkt, erfährt aber im Verlauf des Romans ein bißchen zu wenig Beachtung.

Aber insgesamt eine Lesefreude und kein "großer Fehler" :p
 

parden

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13. April 2014
5.835
7.675
49
Niederrhein
www.litterae-artesque.blogspot.de
Findet ihr eigentlich nicht auch, dass sich Justiz und Clique ähnlich verhalten? Beide lassen sich auch laut Clique von Vorurteilen leiten, zumindest wirft die Clique es dem Richter vor. Aber haben sie nicht auch das Vorurteil, dass er kein Mörder sein kann?
Es gab ja auch die Überlegung, ob die Clique mit ihrer ständigen Loyalitätsbezeugung womöglich den Prozess negativ beeinflusst haben könnte - bei so viel unverbrüchlicher Unschuldsbeteuerung der Freund:innen für den Angeklagten könnte ja das Gericht (unbewusst) zu einer Gegenbewegung motiviert worden sein.
Und noch ein bisschen Gemecker: Die Cover von Diogenes sind ja oft nicht besonders passend, aber selten habe ich ein unpassenderes als dieses gesehen. Schön mal ne Runde am Strand lesen, während der Freund auf sein Urteil wartet oder wie? Selten so den Kopf geschüttelt.
Naja, so schlecht finde ich es nicht. Immerhin haben sich die Freund:innen auch schon früher alle an der Hütte am See getroffen, in unbeschwerten Zeiten, da könnte das Bild durchaus passend sein. Da habe ich schon unpassendere Cover von Diogenes gesehen.
 

Sassenach123

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27. Dezember 2015
4.294
10.424
49
49
Das habe ich auch gedacht! Ich habe das Buch überwiegend mit Leselotte- Umschlag gelesen und war regelrecht schockiert, als ich diesen gestern Abend abgezogen habe :eek:. Das ist doch keine leichte Strandlektüre und zum Inhalt passt es gar nicht!

Ja klar. Da prallen zwei konträre Auffassungen aufeinander. Die Freunde sind verblendet und spornen sich immer wieder gegenseitig an. Für mich waren die belastenden Indizien dann wirklich eine Erleuchtung, weil ich zuvor auf Seiten der Freunde stand.
Habe vorher noch nie etwas von einer Leselotte gehört, sie scheint allerdings eine enorme Entlastung zu bieten.
 

Sassenach123

Bekanntes Mitglied
27. Dezember 2015
4.294
10.424
49
49
Für mich bleibt die Schuldfrage am Ende offen. Ich tendiere vielleicht sogar ein bissel mehr in Richtung Unschuld. Mal sehen, ob ich es vielleicht schaffe, "Das Bildnis des Dorian Gray" zu lesen und ich dadurch ein besseres Gefühl für diese Frage bekomme.
Geht mir ähnlich, es gibt Hinweise in beide Richtungen, aber wenn ich mich festlegen müsste, würde ich auch zu unschuldig tendieren
 

Sassenach123

Bekanntes Mitglied
27. Dezember 2015
4.294
10.424
49
49
Mir hat der Roman ebenfalls sehr gut gefallen. Ein paar Längen gab es zwar, hauptsächlich während des Prozesses, aber das schmälert die Bewertung nicht.

Der Clou, als mir am Ende aufging, dass der Autor einen realen Mord aufgegriffen hat, hat mir auch das Ende versüßt. Ohne dem wäre ich viel enttäuscht gewesen, da wir nicht genau erfahren ob unser Freund nun unschuldig war oder nicht.

Das Cover lässt zwar nicht direkt eine Verbindung zu, aber @Circlestones Books Blog Erklärung finde ich stimmig
 
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Literaturhexle

Moderator
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2. April 2017
19.250
49.167
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Habe vorher noch nie etwas von einer Leselotte gehört, sie scheint allerdings eine enorme Entlastung zu bieten.
Ich genieße dieses hübsche Assessoire tatsächlich immer wieder:)
Sie werden auch in den großen Ladenketten Thalia oder Osiander angeboten, meine ich. Dort könntest du sie dir anschauen. Ich habe die Leselotte auch schon ein paar mal "erfolgreich" verschenkt.
 
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parden

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13. April 2014
5.835
7.675
49
Niederrhein
www.litterae-artesque.blogspot.de
Im Grunde war ich sehr angetan von dem Roman. Die Idee, die Dynamik der Freundschaften angesichts solch einer monströsen Tat und der Möglichkeit, dass einer der Freunde diese begangen hat, zu beleuchten, fand ich hochinteressant. Der anfängliche Lesesog legte sich bei mir im Prozessverlauf doch etwas, so dass ich hier einen Stern abgezogen habe, auch wenn das Erleben der Freund:innen dem Geschehen entsprechend authentisch war. Näheres ist in der Rezension nachzulesen:

Zum Parkhausmord München habe ich übrigens eine Dokumentation aus dem Jahr 2021 gefunden. Fand ich ganz interessant...
 
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Reaktionen: Die Häsin und RuLeka

RuLeka

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30. Januar 2018
6.406
23.956
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66

Barbara62

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19. März 2020
3.769
14.402
49
Baden-Württemberg
mit-büchern-um-die-welt.de
Ich fürchte, ich habe meinen Beitrag im Fazit vergessen, obwohl die Rezension schon ein paar Tage online ist.

Mir hat das Buch gut gefallen, es hat fraglos einen Sog. Die Vielstimmigkeit war leichter zu beherrschen als befürchtet, muss also daher gut gemacht sein. Dass es kein ganz eindeutiges Schuldeingeständnis gab, hat mich nicht gestört. Für mich war der Freund der Täter, aber ganz ohne Zweifel läuft ein Indizienprozess vermutlich nie ab.

Dass die Journalistin nichts von der Beziehung zwischen Sabine und Benjamin mit immerhin vier Kindern wusste, halte ich für unglaubhaft, aber das ist ein absoluter Randaspekt.

Ich kann nicht ganz genau sagen, was mir für 5 Punkte gefehlt hat, aber nach meinem Bauchgefühl waren es vier gute Sterne und eine Empfehlung.
 

buchregal

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8. April 2021
864
957
44
71
Das Konstrukt dieses Romans war ungewöhnlich, hat mir aber gut gefallen.

Die Charaktere sind sehr unterschiedlich und haben alle ihren eigenen Blick. Trotzdem sind sie befreundet und halten zusammen, auch wenn es immer wieder Zeiten gibt, wo der Kontakt abbricht. Freundschaft bedeutet ihnen viel und sie zeigen ihre Loyalität, doch hatte ich manchmal den Eindruck, dass es ihnen auch wichtig ist, wie andere sie sehen. Sie zeigen ihm Gerichtssaal, dass sie zusammenstehen. Doch der Prozess dauert lange und jeder hat seine Verpflichtungen, so dass diese Freundschaftsfront oft nur aus einer Person besteht. So richtig sympathisch war mir niemand.

Beim Prozess wird deutlich, dass man einen anderen Menschen nie so ganz kennt. Auch der Angeklagte hat seine Geheimnisse, die er seinen besten Freunden nicht anvertraut hat.

Die Journalistin hat viele Gespräche geführt, am Ende wird nichts aus ihrem Projekt. Es hat sich nichts Neues für die Öffentlichkeit ergeben.

War er’s oder nicht? Unerheblich, es ist dennoch ein interessanter und packender Roman, den ich gerne gelesen habe.
 

Die Häsin

Bekanntes Mitglied
11. Dezember 2019
4.556
16.320
49
Rhönrand bei Fulda
Ich denke noch nach über meine Rezension. Je mehr Zeit vergeht, seit ich das Buch gelesen habe, umso mehr frage ich mich, worum es eigentlich primär gehen soll - was keine Kritik am Buch ist. Es geht um die Unvereinbarkeit einer "menschlich-normalen" Betrachtungsweise mit der juristischen. Zum Beispiel würde, rein menschlich gesehen, ein Schweigen des Angeklagten wohl immer zu seinem Nachteil ausgelegt (es sei denn, es liegt auf der Hand, dass es zum Schutz Angehöriger geschieht). Juristisch soll aber genau das nicht passieren. Und dann gibt es auch die menschliche Neigung, Verdachtsmomente quasi zusammenzuzählen, was den Gesetzen der Logik aber zuwiderläuft, genauso wie zwölf Einsen keinen Pasch ergeben.
Wir können beobachten, wie die Clique den Onkel runtermacht, keiner hat ein gutes Wort über ihn, obwohl genau das ja den Verdacht gegen unseren X bestärkt - für ihn wäre es viel besser, wenn die Freunde betonen würden, dass da immer bestes Einvernehmen geherrscht hat.
Die Show mit den Klebezetteln geht nach hinten los, wenn sich eine Zeugin meldet, die tatsächlich jemanden beobachtet hat, nämlich X. Und dass die Clique im Gerichtssaal aufsteht, sobald X hereinkommt, ist auch nicht unbedingt zielführend.

Eine Denkfalle nach der anderen.
Was das Spiegelmotiv betrifft, brauchen wir bloß das Märchen zu bemühen: "Spieglein, Spieglein an der Wand", und der Spiegel erzählt nicht mehr das, was man hören möchte, sondern die hässliche Wahrheit. Im nachhinein finde ich es recht geschickt gemacht von Poschenrieder, dass "der Gefangene" keinen Namen hat. Er ist bloß eine Folie, auf die die Clique ihren Zusammenhalt projiziert.

Ich finde, es ist ein tolles Buch, und würde am liebsten noch mal von vorne lesen, ehe ich die Rezension schreibe. Wenigstens einige Teile. Könnte sein, dass ich mit Höchstwert bepünktle.
 

ulrikerabe

Bekanntes Mitglied
14. August 2017
3.050
7.678
49
Wien
www.facebook.com
Auch wenn ich grundsätzlich ein großer Fan von diesem "Dorian Gray"-Bezug bin, weiß ich nicht, ob er so glücklich gewählt ist. "Dorian Gray" zählt nun nicht unbedingt zu den allseits bekannten und gelesenen Texten, daher finde ich es etwas schwierig, solch einen Text vorauszusetzen - auch wenn natürlich inhaltlich schon etwas darüber erzählt wird. Mit Märchenbezügen wie z.B. "Schneewittchen" wäre es sicher einfacher.
Witzig, ich dache mir beim Lesen, jetzt kommt er noch mit der Inhaltsangabe daher, den Dorian Gray kennt doch eh jeder... :)
 

ulrikerabe

Bekanntes Mitglied
14. August 2017
3.050
7.678
49
Wien
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Ich finde, es ist ein tolles Buch, und würde am liebsten noch mal von vorne lesen, ehe ich die Rezension schreibe.
Wahrscheinlich liest sich dann vieles mit anderen Augen. das ganze Buch würde ich aber nicht nochmal lesen wollen. Dann fällt auch die Unvoreingenommenheit gegenüber den Figuren weg. Es kann aber gut sein, dass ich ein paar meiner markierten Passagen nochmals lese. Da passiert es mir manchmal, dass ich währen dem Rezensionsschrieben meine Meinung zum Buch nochmal ändere. :)

Bei mir muss sich jedenfalls der Eindruck noch ein bisschen setzten. Jetzt freue ich mich erstmal über meine sauber gekehrte Küche (von wegen links, rechts und führender Hand) :)
 

Die Häsin

Bekanntes Mitglied
11. Dezember 2019
4.556
16.320
49
Rhönrand bei Fulda
Ich hatte bei dem "Gefangenen" immer den Eindruck, dass er viel mehr hätte sagen müssen, oder andere Dinge, als er gesagt hat. Ich hätte erwartet, dass er seine Unschuld beteuert, oder im Gegenteil, endlich "sein Gewissen erleichtert". Tut er aber beides nicht. Entweder hat die Autorin hier einiges wegredigiert, oder das geheimnisvolle Bild, dass X hier abgibt, gehört zur Erzählabsicht Poschenrieders - auch für uns, die Leser, ist X quasi eine leere Leinwand, eine Projektionsfläche ... Das sind einstweilen ungeordnete Gedanken. Ich werde einiges nochmal nachlesen.
 

otegami

Bekanntes Mitglied
17. Dezember 2021
1.833
6.330
49
71
...... auch für uns, die Leser, ist X quasi eine leere Leinwand, eine Projektionsfläche .
Sehr gut ausgedrückt! Bei mir kam es auch so an, als wenn der Ausgang des Prozesses dem Angeklagten 'Wurscht' gewesen wäre: zu verlieren hatte er nichts mehr, sein Ruf war sowieso ruiniert, der Weg zu seinem Traumberuf (Schauspieler) versperrt durch zu wenig Talent. Ein Lebenstraum ist auch nicht erkennbar!
"Naja, dann gehe ich halt 'a weng' ins Gefängnis - da wird für mich gesorgt, ich muss mich um nix kümmern, bekomme neue Lebenserfahrungen, bleibe interessant für meine Freunde und das Image des Undurchschaubaren habe ich außerdem!"