FAZIT zu "Ein Leben lang"

Literaturhexle

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Wie hat euch der Roman als Ganzes gefallen? Worin liegen seine Stärken und Schwächen?
Bitte schreibt ein spontanes Fazit in ein paar Sätzen.
 

Christian1977

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Ich war anfangs gepackt von dieser unorthodoxen Erzählweise, dieser auch formal spannenden Mischung aus Interviews, Memos und Fachliteratur.

Aufgrund der fehlenden Figurenentwicklung habe ich die zweite Hälfte allerdings als sehr zäh empfunden. Die Grundfrage, was eine Freundschaft aushalten kann, finde ich spannend, aber ihr fehlt wegen der Erzählart und der zeitlichen Distanz die Dringlichkeit.

Die Figuren blieben für mich blass, auch wegen der fehlenden inneren Monologe. Was haben sie wirklich empfunden? Das ist doch etwas anderes als das, was man einer Journalistin erzählt.

Das Finale und das Statement des Verurteilten waren für mich immerhin noch ein Höhepunkt. Ich reflektierte über das deutsche Justizsystem und Gefängnisstrafen im Allgemeinen. Damit berührte mich der Autor immerhin einmal richtig, wenn auch sehr spät.

Ich habe natürlich den Münchner Fall anschließend gesucht und war erstaunt, wie nah der Autor sich an die Details hält - nur dass der Onkel eine Tante war.

Kurioserweise kommt gerade in diesem Monat offenbar wieder Bewegung in den Fall. Die Süddeutsche hat schon berichtet. So gibt es einen neuen Unterstützerkreis, angeführt von Sebastian und Till. Nein, natürlich nicht, es sind zwei Frauen.

Sehr detailliert findet ihr alles unter zweifelhaft.org

Mein Urteil? Hm, zwischen 3 und 4, mit Tendenz zur 3.
 

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Mich hat die Erzählweise sofort gepackt und neugierig gemacht. Namen haben nur die fünf Freunde, über die Journalistin erfahren wir schon bei der ersten Kontaktnahme, dass es sich um eine Frau handelt, ihre Gedanken finden sich immer wieder in ihren Memos, sie ergänzt wichtige Details wie die einzelnen Indizien durch die Antworten der einzelnen Freunde zum jeweiligen Thema. Der weitere Personenkreis der Hauptfiguren: der Gefangene, der Anwalt, der Onkel. Neugierde und Spannung blieben für mich bis zum Ende der Geschichte aufrecht.
 

Christian1977

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Findet ihr eigentlich nicht auch, dass sich Justiz und Clique ähnlich verhalten? Beide lassen sich auch laut Clique von Vorurteilen leiten, zumindest wirft die Clique es dem Richter vor. Aber haben sie nicht auch das Vorurteil, dass er kein Mörder sein kann?

Und noch ein bisschen Gemecker: Die Cover von Diogenes sind ja oft nicht besonders passend, aber selten habe ich ein unpassenderes als dieses gesehen. Schön mal ne Runde am Strand lesen, während der Freund auf sein Urteil wartet oder wie? Selten so den Kopf geschüttelt.
 

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Schön mal ne Runde am Strand lesen, während der Freund auf sein Urteil wartet oder wie?
Ja, ein Bild mit sehr viel Symbolik, die Frauen leben ihr Leben weiter, der Freund, abgewandt, im Abseits, ausgeschlossen. Wobei es für mich als Bild für Gefängnis gegen Leben in Freiheit wäre, aber auf keinen Fall ein Symbol für die Freundschaft der Clique, denn in diesem Fall hätten sie sich längst von ihm abgewandt und würden sich um ihr eigenes, in diesem Fall angenehmes, Leben kümmern, aber in diesen Interviews und Gesprächen mit der Journalistin sieht das doch anders aus.
 

Literaturhexle

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Und noch ein bisschen Gemecker: Die Cover von Diogenes sind ja oft nicht besonders passend, aber selten habe ich ein unpassenderes als dieses gesehen
Das habe ich auch gedacht! Ich habe das Buch überwiegend mit Leselotte- Umschlag gelesen und war regelrecht schockiert, als ich diesen gestern Abend abgezogen habe :eek:. Das ist doch keine leichte Strandlektüre und zum Inhalt passt es gar nicht!
Aber haben sie nicht auch das Vorurteil, dass er kein Mörder sein kann?
Ja klar. Da prallen zwei konträre Auffassungen aufeinander. Die Freunde sind verblendet und spornen sich immer wieder gegenseitig an. Für mich waren die belastenden Indizien dann wirklich eine Erleuchtung, weil ich zuvor auf Seiten der Freunde stand.
 

Christian1977

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Ja, ein Bild mit sehr viel Symbolik, die Frauen leben ihr Leben weiter, der Freund, abgewandt, im Abseits, ausgeschlossen.
Nicht schlecht, wie du das Bild interpretierst, wäre ich nicht drauf gekommen. So bekommt es etwas mehr Sinn. Dennoch bleibe ich dabei, dass es auf mich zu sommerlich und friedlich wirkt.
Buch überwiegend mit Leselotte- Umschlag gelesen
Was ist eine Leselotte?
Meine Lieblingsfigur, weil sehr gerade und daher für mich nachvollziehbar und interessant, ist Sabine.
Ich kann das am Ende besser nachvollziehen, denn sie hat wohl das stärkste Profil. Blöd fand ich in diesem Zusammenhang übrigens, dass erst am Ende herauskommt, dass sie mit Benjamin verheiratet ist. Da hätte die Journalistin bei besserer Recherche schon früher draufkommen können. Wobei es ehrlich gesagt für den Roman vielleicht sogar unerheblich ist.

Könntet ihr euch eigentlich vorstellen, dass Christoph Poschenrieder selbst diese Journalistin ist und sich mit der echten Clique unterhalten hat, dies aus rechtlichen Gründen aber als Roman verkaufen muss?
 

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Und noch ein bisschen Gemecker: Die Cover von Diogenes sind ja oft nicht besonders passend, aber selten habe ich ein unpassenderes als dieses gesehen. Schön mal ne Runde am Strand lesen, während der Freund auf sein Urteil wartet oder wie? Selten so den Kopf geschüttelt.
Ich bin generell kein großer Fan der Diognes Cover, allerdings ist die Bildung wohl sehr hochwertig.
 
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Reaktionen: Die Häsin

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Ja klar. Da prallen zwei konträre Auffassungen aufeinander. Die Freunde sind verblendet und spornen sich immer wieder gegenseitig an. Für mich waren die belastenden Indizien dann wirklich eine Erleuchtung, weil ich zuvor auf Seiten der Freunde stand.
Für mich bleibt die Schuldfrage am Ende offen. Ich tendiere vielleicht sogar ein bissel mehr in Richtung Unschuld. Mal sehen, ob ich es vielleicht schaffe, "Das Bildnis des Dorian Gray" zu lesen und ich dadurch ein besseres Gefühl für diese Frage bekomme.
 

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Ich habe dieses Buch sehr gerne gelesen, Poschenrieder konnte mich mit seinem Schreibstil definitiv fesseln. Ich fand den Wechsel der Perspektiven sehr gut gemacht- auch wenn viele Fragen offen bleiben. Fast würde ich sagen, das Buch lebt davon.
Am Ende lässt mich der Bezug auf Oscar Wildes Roman etwas ratlos zurück.
War ich zunächst länger der Ansicht, es gehe um ein Psychogramm der Clique und die Frage, was nicht sein kann, das nicht sein darf. Nun bin ich da nicht mehr soo ganz sicher, dadurch dass ich den Wilde Bezug nicht einordnen kann...
 

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Nach einer Nacht drüber schlafen, kann ich sagen:
Der Roman hat mich als Studie (über Freundschaft oder über Ethik) und als anspruchsvollen Roman, der sich einer bestimmten Thematik widmet, nicht überzeugt, auch nicht gepackt. Was die ethischen Fragen angeht, das, was mich wirklich interessiert hätte, das alles wird nur angerissen.

Andererseits hatte der Roman einen hohen Unterhaltungswert. ich habe ihn wirklich gerne gelesen. Die kurzen Fragmente der einzelnen Stimmen haben dafür gesorgt, dass ich mich nicht langweile. (Allerdings haben sie auch die Vertiefung mit den Problemen verhindert).
Dass die indirekte Erzählweise nie verlassen wurde, nicht einmal im Prozeßteil, hat dem Autoren einige Unannehmlichkeiten erspart und ermöglicht, mit einigen Allgemeinplätzen davonzukommen .. das ist schade.
Die Stimme des Anwalts fand ich schwach, die des Angeklagten misslungen. Nun denn.
Ergo: ein guter Unterhaltungsroman, der immerhin ein paar Dinge anreißt und Kopfkino anwirft -...- und die Information über ein wirkliches Verbrechen (allerdings frage ich mich, ob ich diese Info gewollt und gebraucht hätte).
 

Wandablue

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Könntet ihr euch eigentlich vorstellen, dass Christoph Poschenrieder selbst diese Journalistin ist und sich mit der echten Clique unterhalten hat, dies aus rechtlichen Gründen aber als Roman verkaufen muss?
hahaha - das wäre ein sehr netter Gag. Ja, könnte ich. Aber nach Daggi bin ich vorsichtig mit solchen Thesen . (Bei Dagmar Schifferlis Roman "Meinetwegen" haben wir viel mehr hineingelesen als die Autorin beabsichtigte).

Aus rechtlichen Gründen - nö. Aber will. Wenn er das so gemacht hätte, und daraus einen Roman machen wollte- finde ich das fast genial. Hat er oder hat er nicht? Die Hexe könnte ihn fragen. Sie ist darin Expertin.
 
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Literaturhexle

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Könntet ihr euch eigentlich vorstellen, dass Christoph Poschenrieder selbst diese Journalistin ist und sich mit der echten Clique unterhalten hat, dies aus rechtlichen Gründen
Vorstellbar ist alles. Auch die 15 Jahre würden in etwa passen;)
Aber ein Schriftsteller wie Poschenrieder kann sowas auch imaginieren. Mir ist das nicht so wichtig, glaubwürdig fand ich es allemal.
 

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dass es auf mich zu sommerlich und friedlich wirkt
Es gibt da diese eine Szene in der Hütte am See, Sommerbeginn, Hütte am See (II), Till sagt aus, wie schön es gewesen wäre, mit einer Flasche Bier in der hand im warmen Wasser zu sitzen - aber sie hatten ja dieses Problem ... Bei dieser Beschreibung des Sommertages auf Seite 128 hatte ich durchaus etwas Buchcover-Ähnliches vor Augen.
 

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Sehr detailliert findet ihr alles unter zweifelhaft.org
Gerade habe ich mich durch https://www.zweifelhaft.org/ gelesen, die dort zu lesenden Details sind tatsächlich so oder teilweise zumindest sehr ähnlich in diesem vorliegenden Roman zu lesen, inklusive die Sache mit den Banknoten und es gibt sogar den Musiker im Freundeskreis und viel Kritik aus Fachkreise an diesem immer noch höchst umstrittenen Indizienprozess. Eine interessante Ergänzung, die mich sehr gepackt hat, was wohl auch daran liegt, dass ich gerade diesen Roman zu Ende gelesen habe und damit einen direkteren, intensiveren Zugang zum Thema, als wenn ich darüber nur in der Tageszeitung gelesen hätte. Jetzt kann ich es mir tatsächlich vorstellen, dass dies genau der "nicht erschienene" Roman der Journalistin ist - und es scheint mir eine durchaus realistische Möglichkeit.
 

otegami

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Eine interessante Ergänzung, die mich sehr gepackt hat, was wohl auch daran liegt, dass ich gerade diesen Roman zu Ende gelesen habe und damit einen direkteren, intensiveren Zugang zum Thema, als wenn ich darüber nur in der Tageszeitung gelesen hätte. Jetzt kann ich es mir tatsächlich vorstellen, dass dies genau der "nicht erschienene" Roman der Journalistin ist - und es scheint mir eine durchaus realistische Möglichkeit.
Ging mir gerade genauso! ;)
 
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