FAZIT zu " Die geheimste Erinnerung der Menschen"

Literaturhexle

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2. April 2017
19.250
49.167
49
Wie hat euch der Roman gefallen? Bitte geht uns ein spontanes Fazit in ein paar Sätzen.

Gerne dürft ihr auch auf die Ausstattung/Haptik des Romans eingehen.
 

GAIA

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27. Dezember 2021
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Thüringen
Ich muss noch für eine differenziertere Beschreibung meines Leseerlebnisses ein, zwei Nächte über das Buch schlafen, kann aber schon einmal sagen, dass es für mich definitiv ein 5-Sterne-Buch geworden ist. Dabei hätte ich es fast nicht gelesen. Und warum? Weil im Verlagstext steht: "eine soghafte Kriminalgeschichte. Ich finde ehrlich gesagt nicht, dass es sich um eine Kriminalgeschichte handelt. Aber lasse mich da auch gern umstimmen, wenn es stichhaltige Hinweise dafür geben sollte.

Meines Erachtens ist dieses Buch vorrangig so großartig, weil es die inhaltliche und die sprachliche Ebene so grandios miteinander verwebt. Jede stilistische Idee, die der Autor einführt, wird im Inhalt gespiegelt und erklärt damit die Wahl des Autors. Auch haben mir die vielschichtigen Betrachtungen zum Literaturbetrieb als solchen aber auch im Speziellen bezogen auf afrikanische Schriftsteller:innen und wie diese in Europa rezipiert werden, gefallen. Sarr gibt nie "die eine Antwort", sondern bietet durch seine verschiedenen Protagonist:innen verschiedene Lebenswege und Möglichkeiten an. Und letztlich war natürlich die ganze Geschichte tatsächlich "soghaft". Schon seit Längerem habe ich nicht mehr so begierig noch ein Kapitel und noch einen Satz gelesen. Nie hatte ich eine Ahnung, wohin die Geschichte sich entwickeln könnte. Das hat mir sehr gefallen.

Auf der vorletzten Seite habe ich mir markiert: "Es könnte sein, dass jeder Schriftsteller nur ein grundlegendes Buch in sich trägt, ein grundlegendes Werk, das er zwischen zwei Leerstellen schreiben muss." Also ich persönlich hoffe sehr, dass es nicht so ist, und dass Mohamed Mbougar Sarr mit seinen jungen 32 Jahren noch nicht "das eine grundlegende Buch" abgeliefert hat, sondern noch viele weitere, interessante Romane veröffentlichen wird. Ich bin ab jetzt eine begeisterte Leserin seiner (hoffentlich) noch kommenden Werke.
 
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Circlestones Books Blog

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28. Oktober 2018
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72
Wienerin auf Rügen
www.circlestonesbooks.blog
Ich bin noch etwas sprachlos und daher auch wortlos. Für mich einer der absoluten Höhepunkte meines Lesejahres 2022. Rezension folgt sicher erst in einigen Tagen, jetzt muss ich diesen Roman noch gedanklich verarbeiten. Für mich stimmte einfach alles, die Sprache, die vielen unterschiedlichen Geschichten und Figuren und immer wieder die Literatur und die Suche von Schriftstellerin nach der eigenen Sprache. Aus der Beschreibung auf der Buchrückseite und im Klappentext wusste ich nicht genau, was mich erwartet, ich war auf jeden Fall sofort neugierig auf diesen Roman und was auch immer ich erwartet hatte, es wurde auf jeden Fall übertroffen.

Auch die Gestaltung des Buches selbst, diese besonderen Ornamente, die sich auch auf dem Buch selbst und auf den Trennblättern zwischen den einzelnen großen Abschnitten wiederholen, gefallen mir sehr gut, hier wird der Artikel "Buch" wieder zum Wertgegenstand, nicht nur des Inhalts wegen.
 
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Anjuta

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8. Januar 2016
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62
Essen
Ich habe das Buch etwas hastig gelesen, da ich verspätet in die Leserunde eingestiegen bin. Wegen dieser Hast weiß ich nicht, ob ich dem Buch in all seinen Teilen so vollständig folgen konnte. Der erste Teil hat mich erstmal abgeschreckt. Da spiegelte die sprachliche Ebene die Sichtweise eines "Möchtegern-Literaten" wieder, der hier in der Erzählerposition war. Das passte tatsächlich genau und stimmig zu diesem Personal, war für mich aber ein harter Brocken. Im Mittelteil dann bekam der Roman dann plötzlich und unerwartet diese Sogwirkung, von der ihr oben schon geschrieben habt. Die Verquickung von Literaturgeschichte und -rezeption, europäischer und afrikanischer Kultur und Geschichte und inmitten all dieser Welten die Suche nach einem Buch und einem Autor, wobei beide dem Leser zwar nahegebracht, aber letztlich doch vollkommen unbekannt und im Nebel liegend bleiben. Das ist schon wirklich großes Kino! Der letzte Teil dann hat sich mir ein wenig entzogen. Da musste ich der Hast Tribut zollen und konnte dem roten Faden und dem Personalkarussel nicht immer ganz folgen. Das lag aber wohl, wie gesagt, weitgehend an mir. Für mich und meine Rezension (dauert noch ein paar Tage) werden es deshalb 4 Sterne werden.
 

petraellen

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11. Oktober 2020
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Ich bin mit dem Roman jetzt auch durch. Ich muss es erst mal setzen lassen. Für mich ist eine gewaltige Geschichte . Ein Roman, den es in dieser Dichte, Vielfalt, Sprache selten zu lesen gibt. Sarr hat den Preis zu recht bekommen. Er rüttelt auf, schärft den Blick in Richtung Literatur, Rassismus, Kolonialzeit und Postkolonialismus. Für mich wist der Roman nach Sternen, wenn es das gäbe, mind. 6 Stern wert.

 

petraellen

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11. Oktober 2020
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Das Buch ist Yambo Ouologuem gewidmet. Das hatte ich übersehen. Direkt am Anfang vor "Buch Eins" und vor dem Zitat von Roberto Bolaño. Bolaño, ein Dichter aus Chile, der nicht von seiner Dichtkunst leben konnte, ein Exilant in Mexiko und am Ende in Spanien. Sarr hat somit seinen Roman auf zwei reale Personen und ein wenig autobiografisches mit eingebaut. Das Zitat von Bolaño passt hervorragend. Sehr poetisch trifft das Zitat den Inhalt des Buches. Offensichtlich hat Sarr das Zitat als Ausgangspunkt seiner Geschichte genommen. Eine Reise, die durch ein Labyrinth geht und je näher man sich dem Ende nähert, von "Zeit und Geschwindigkeit" verschlungen werden kann.
 

Christian1977

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8. Oktober 2021
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Ich finde ehrlich gesagt nicht, dass es sich um eine Kriminalgeschichte handelt. Aber lasse mich da auch gern umstimmen, wenn es stichhaltige Hinweise dafür geben sollte.
Das finde ich auch überhaupt nicht, auch eine Detektivgeschichte erkenne ich nicht. Tatsächlich dient der Hinweis wohl dazu, ein breiteres Publikum anzusprechen. Das finde ich aber durchaus legitim, auch wenn sich vielleicht einige potenzielle Kriminalist:innen dann doch nicht so angesprochen fühlen. Dafür mag der Roman Leser:innen erreichen, die ihn ansonsten gar nicht entdeckt hätten.
Wegen dieser Hast weiß ich nicht, ob ich dem Buch in all seinen Teilen so vollständig folgen konnte.
Ich vermute, du liegst richtig mit dieser Einschätzung. Ich würde mich eher als schnellen Leser bezeichnen, aber dieser Roman ließ sich auch für mich nur langsam lesen. Und selbst dann konnte ich glaube ich nicht alle Facetten entdecken.
 
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GAIA

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27. Dezember 2021
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Thüringen
Das finde ich auch überhaupt nicht, auch eine Detektivgeschichte erkenne ich nicht. Tatsächlich dient der Hinweis wohl dazu, ein breiteres Publikum anzusprechen.
Zusammen mit deinem Kommentar aus dem 7.LA frage ich mich, ob vielleicht aufgrund dieses "Kriminalgeschichte"-Hinweises aus dem Klappentext in der von dir gesehenen "Buchzeit" ein Hauptthema des Romans in der Naziverfolgung durch Elimane in Südamerika gesehen wurde?!
 
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Christian1977

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8. Oktober 2021
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Im Großen und Ganzen hat mir der Roman gut gefallen, auch wenn sich bei mir im Gegensatz zu anderen nicht die komplette Begeisterung einstellen wollte.

Richtig gelungen und überraschend fand ich den formalen Aufbau in seinen unterschiedlichen Facetten. Sarr mischt die verschiedensten Textformen zusammen und ihm gelingt es dennoch, dass der Roman in seinem Aufbau rund wirkt. Das muss man erstmal hinbekommen.

Auch der Geschichte bin ich mit Spannung gefolgt, mochte vor allem die Rückblicke auf die Familiengeschichte Elimanes und die Biographeme - mit Ausnahme des selbst verfassten Textes von Elimane.

Emotional konnte mich der Roman nur manchmal richtig abholen, zudem fand ich einige Passagen im letzten Drittel des Buches zu lang und zu kompliziert in seinem Aufbau und seiner Erzählform.

Insgesamt komme ich auf gute vier Sterne.
 

Christian1977

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8. Oktober 2021
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Zusammen mit deinem Kommentar aus dem 7.LA frage ich mich, ob vielleicht aufgrund dieses "Kriminalgeschichte"-Hinweises aus dem Klappentext in der von dir gesehenen "Buchzeit" ein Hauptthema des Romans in der Naziverfolgung durch Elimane in Südamerika gesehen wurde?!
Das glaube ich eher nicht, denn ich halte die "Buchzeit"-Menschen eigentlich für klug genug, dies differenziert betrachten zu können. Die dort angesprochene "Rache"-Geschichte erkenne ich rückwirkend eher in den Episoden mit den Kritiker:innen und nicht in der Naziverfolgung.
 
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Wandablue

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18. September 2019
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Brandenburg
Handwerklich ist dieser Roman top und hat somit zu Recht den Prix Goncourt verdient. Thematisch schätze ich ihn nicht so sehr. Afrikanische Identitätssuche geht in der Verschachtelung des Textes beinahe unter und ergibt erst am Ende Sinn. Das Pathos langwieriger Passagen sagte mir nicht zu. Obwohl es gewollt war. Aber langweilig ist dieser Roman nicht.
 

Literaturhexle

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2. April 2017
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Handwerklich ist dieser Roman top und hat somit zu Recht den Prix Goncourt verdient. Thematisch schätze ich ihn nicht so sehr. Afrikanische Identitätssuche geht in der Verschachtelung des Textes beinahe unter und ergibt erst am Ende Sinn. Das Pathos langwieriger Passagen sagte mir nicht zu. Obwohl es gewollt war. Aber langweilig ist dieser Roman nicht.
Du siehst mich wegen deines Fazits überrascht. Ich hatte einen kompletten Verriss erwartet, weil ich den Eindruck hatte, dass sich dir die vielen schönen, gut konzipierten Teile des Buches sich erschlossen haben, weil dich andere Dinge so erbosten.
Da habe ich mich wohl geirrt;)
 

Wandablue

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18. September 2019
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Brandenburg
Du siehst mich wegen deines Fazits überrascht. Ich hatte einen kompletten Verriss erwartet, weil ich den Eindruck hatte, dass sich dir die vielen schönen, gut konzipierten Teile des Buches sich erschlossen haben, weil dich andere Dinge so erbosten.
Da habe ich mich wohl geirrt;)
Auch wenn mich die Schnörkel eines gedrechselten Möbelstücks zum Beispiel persönlich nicht ansprechen, kann ich sehr wohl die innewohnende Handwerkskunst anerkennen, sogar bewundern.
 

Emswashed

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9. Mai 2020
2.674
9.513
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Sarr hat mich ganz schön "am Ring durch die Manege" geführt (geklaut bei @Wandablue ), aber erstaunlicherweise habe ich es sogar mit einigem Vergnügen mit mir machen lassen. Allerdings fühlte ich mich weniger auf der Gralsuche, sondern mehr als Beobachter der Leidenschaften und Lebensentwürfe. Er hat meine Aufmerksamkeit beim Lesen voll und ganz in Anspruch genommen. Nicht die Protagonisten sind es, die mein Herz berührten, sondern vielmehr der leidvolle Zusammenstoß und anschließende Auseinanderstieben der so unterschiedlichen Kulturen, parallel zu den Zusammenkünften und das Verlassen von Liebenden und Familie.

Diegane und Elimane sind für mich nur Platzhalter für Grundsätzliches, noch nicht mal so sehr Anklage, vielmehr Schaubild der Lage....

Aber ich glaube, ich muss noch ein wenig brüten, bevor ich das in verständlichen Worten wiedergeben kann.

Die Farben des Schutzumschlags und der Buchdeckel haben für mich eindeutig einen warmen, afrikanischen Touch, das Schriftbild war angenehm, nicht zu groß und nicht zu klein und auch das Papier hatte genau die richtige Dicke (so dass es beim Blättern nicht knickt, aber auch in der Gesamtheit kein Klotz ergibt).