FAZIT zu "Die Enkelin"

Circlestones Books Blog

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28. Oktober 2018
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Wienerin auf Rügen
www.circlestonesbooks.blog
Mit dieser Geschichte hat mich der Autor auf eine sehr weite Reise mitgenommen, wobei Birgit, die durch ihre Flucht und das Zurücklassen ihrer Tochter, nur in einem Abschnitt aus dem Hintergrund hervortritt und dann leise immer mehr aus der Geschichte verschwindet. Doch ihre Entscheidung war es, die das Leben ihrer Tochter und ihrer Enkelin in Bahnen gelenkt hat, die sie so sicher nicht erwartet hat. Wie hätte sie wohl reagiert, wenn sie Svenja und Sigrun gefunden hätte? Es sind viele Themen, die Bernhard Schlink hier mit seinen Figuren einbringt, Flucht aus der DDR, die weitere, bis heute spürbare Trennung zwischen Ost und West, die sich besonders in der Entwicklung jener Länder zeigt, die früher zur DDR gehörten. Sehr gut gefällt mir, wie er auch das Thema der Wiederbelebung beinahe verlassener Dörfer einbringt, die positiven Ideen von Paula und ihrem Mann und auf der anderen Seite das völkische Landleben in der nationalsozialistischen Blut-und-Boden-Ideologie. Es ist ein leises Buch, die Geschichte dieses einsamen alten Mannes, etwas aus der Zeit gefallen und des jungen Mädchens, die Enkelin seiner Frau und somit auch quais seine Enkelin. Ich mag die Sprache des Autors und seine Art, wie er diese Geschichte aufgebaut hat.
 

Christian1977

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8. Oktober 2021
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"Die Enkelin" und ich sind ja leider nicht die besten Freunde geworden, was aus meiner Sicht vor allem an den unglaubwürdigen Figuren, zu wenig Subtilität und vor allem anfangs auch am Sprachstil lag.

Dennoch habe ich den Roman ab einem gewissen Zeitpunkt (spätestens ab Teil 2) mit Interesse gelesen. Insbesondere die detaillierten Einblicke in das Leben der Völkischen, aber auch die wärmer werdende Beziehung zwischen Kaspar und Sigrun haben mich - trotz der Kritik an den Figuren - gut unterhalten.

Das Finale hat mich überrascht und berührt und ich halte es für den gelungensten Teil des Romans.

Die von Circlestone angesprochenen wichtigen Themen habe ich auch so herausgelesen, ich fand nicht alle gleichermaßen überzeugend umgesetzt.
 

Xirxe

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19. Februar 2017
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Ein schönes Buch mit einer stillen, aber beeindruckenden Hauptfigur Kaspar, der für eine Beziehung zu seiner Enkelin Vieles in Kauf nimmt - was vermutlich nur Wenigen gelingen würde (mich eingeschlossen ;)). Für mich symbolisiert er einen wahrhaft Liebenden, nicht nur gegenüber Birgit, auch gegenüber Sigrun. Es gibt von Khalil Gibran einen schönen Spruch:
Die Liebe gibt nichts als sich selbst und nimmt nichts als von sich selbst. Die Liebe besitzt nicht, noch will sie Besitz sein. Denn die Liebe ist der Liebe genug.
Kaspar lässt die Menschen sein und werden, die sie sind, was für Manche wirken mag, als sei er gleichgültig. Doch es stimmt nicht und seine Frau und seine Enkelin haben diese Art wohl schätzen und lieben gelernt.
Gelungen finde ich zudem, wie am Ende sich alles wieder zusammenfügt: Sigruns Entscheidung hätte auch von Birgit sein können, dieser Wille zur Unabhängigkeit, zur Freiheit der eigenen Entscheidungen. Sie kann vielleicht das Leben führen, das für Birgit und auch für ihre Mutter nicht möglich war. Kaspar wird sie darin bestimmt unterstützen.
Ansonsten stimme ich dem ersten Teil des letzten Satzes von @Christian1977 völlig zu:
Die von Circlestone angesprochenen wichtigen Themen habe ich auch so herausgelesen,
und fand sie gut getroffen. Ein schönes Buch, über dessen Inhalt bzw. einen Teil davon ich sicher noch ab und zu nachdenken werde.
 

Querleserin

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30. Dezember 2015
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Wadern
querleserin.blogspot.com
Auch ich kann mich @Circlestones Books Blog Ausführungen anschließen. Ein bewegender Roman mit einem starken Protagonisten, der auf seine behutsame Art mehr erreicht hat als viele es mit rabiateren Methoden hätten erreichen können. Ich finde, er hat Sigrun nachhaltig beeinflusst, und bin überzeugt, dass sie ihren Weg als Pianistin gehen wird. Seine bedingungslose Liebe ist auf jeden Fall bewundernswert. Stimme @Xirxe zu, ich hätte sicherlich versucht, Sigrun zu belehren und ihr deutlich meinen Standpunkt dargelegt. Damit hätte Kaspar sie verloren.
Schlink nimmt es zudem in eine Welt mit, von der man sich wünschen würde, es gäbe sie nicht. Er ruft uns in Erinnerung, dass dies immer noch ein ernstzunehmendes Problem ist.
Gut, dass zumindest eine Figur den Absprung geschafft hat.
 

Bibliomarie

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10. September 2015
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Das Buch hat es mir anfangs ein wenig schwer gemacht, aber nach dem zweiten Abschnitt gefiel es mir immer besser.

Die Annäherung an Sigrun und ihre Entwicklung hat mir gut gefallen.

Den Ausritt in die gewaltbereite rechte Szene fand ich etwas konstruiert, aber es war wohl für Schlink dramaturgisch notwendig, weil Sigrun damit endgültig mit ihrem bisherigen Leben abschließen konnte und einen Neuanfang am anderen Ende der Welt macht.


PS für Literaturhexle: Mein Rezension folgt etwas später. Ich werde Montag operiert, das kam ziemlich plötzlich und ich hoffe, dass ich in wenigen Tagen wieder Zuhause bin.
 
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wal.li

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1. Mai 2014
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Schlink nimmt es zudem in eine Welt mit, von der man sich wünschen würde, es gäbe sie nicht. Er ruft uns in Erinnerung, dass dies immer noch ein ernstzunehmendes Problem ist.
Gut, dass zumindest eine Figur den Absprung geschafft hat.
Das hätte ich genauso ausgedrückt. Ich wüsste nicht, wie ich darangehen würde, hätte ich Bekannte in so einem Umfeld. Es hat mir sehr gut gefallen, wie Kaspar das angeht. So ruhig und einfühlsam. Schließlich hat wenigstens Sigrun es geschafft, ihren eigenen Weg zu finden (hoffentlich).
 
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wal.li

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1. Mai 2014
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Für mich ist "Die Enkelin" eines der Bücher, die erst etwas dröge wirken, dann aber mitnehmen, nachdenklich stimmen und lange nachwirken. Es ist sehr zu bedauern, dass es heutzutage immer noch oder wieder Menschen gibt, die diesem völkischen Gedankengut nachhängen. Mich hat es sehr beeindruckt, wie ruhig und unaufgeregt Kaspar seiner Enkelin zeigt, dass es auf der Welt mehr gibt als die Enge, die ihre Eltern ihr anerzogen haben. Ich hatte den Eindruck, auch wenn Sigrun das nicht sofort annehmen konnte, hat es doch in ihr gearbeitet und letztlich über die Musik dazu geführt, dass sie sich lösen konnte. Ich würde mir wünschen, dass es viele Kaspars und Sigruns gäbe.
 

Anjuta

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8. Januar 2016
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Essen
Ich habe das Buch mit sehr viel Interesse und Freude gelesen. Ich fand darin einen Konflikt literarisch aufbereitet, der unser derzeitiges Leben aus meiner Sicht sehr prägt. Und der auch in der Sachliteratur seinen Wiederhall findet. In dem Genre bin ich alles andere als eine Expertin, aber mir fällt zB ein:
Mir fällt da

Hier ist diese schwierige Aufgabe in eine Geschichte eingebunden, die sie sehr anschaulich macht, auch wenn ich ihr nicht immer glauben und folgen konnte. Zu vieles wirkte da auf mich konstruiert und geglättet. So vieles ging so einfach und problemlos, wie es das wirkliche Leben selten bieten kann:
- die verborgene Schwangerschaft
- die Geburt im Geheimen
- die Flucht aus der DDR
- das Auffinden der verlorenen (Stief-)Tochter

Aber dennoch: die Gradwanderung des Dialogs und der Empathie mit jemandem, der den Holocaust leugnet, das ist schon wirklich ein intensives und hier gut angepacktes Thema!
 

Literaturhexle

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2. April 2017
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Mein Fazit fällt auch durchwachsen aus. Der erste Teil hat mich beeindruckt. Der plötzliche Tod Birgits und die Leerstellen, die er lässt, wurden glaubwürdig gezeichnet. Auch ihre Aufzeichnungen haben zu ihrer Figur gepasst. Ihr gespaltenes Leben in einem gespaltenen Land, die Trennung von der Heimat, von der Tochter, haben tiefe Spuren auf ihrer Seele hinterlassen. Spuren, die sie letztlich in den Alkohol und damit auch in den Tod getrieben haben. Beeindruckend.

Mit dem zweiten Teil begann für mich die Märchenstunde. Der alte Mann, der das Vermächtnis seiner Frau erfüllen will, deren Enkelin lieben lernt und sie aus dem völkischen Reichsumfeld befreien will. Wie macht er das? Mit seinen Mitteln, die da wären: Musik, Kunst, Kultur, Literatur und Bildung in jeglicher Form. Sehr unwahrscheinlich, dass sich eine pubertierende 14-jährige darauf einlässt, aber Sigrun ist genau so ein Mädchen!
Die Familie Sigruns sowie manche Nebenfigur wird mit Stereotypen beschrieben, auch da fehlt das Maß.
Man darf nicht alles hinterfragen wollen. "Die Enkelin" ist ein Unterhaltungsroman, der starke Themen der deutschen Geschichte und der deutschen Teilung aufgreift, was ihm auch gut gelingt. Viele Szenen in Ost-Berlin, über das Kennenlernen Kaspars und Birgits, die Vorbereitungen zur Flucht und deren Durchführung - habe ich als sehr bildhaft und authentisch empfunden.

Ein Plus auch für den (für mich) überraschenden Schluss. Nach dem Lesen unseres zweiten LA war ich überzeugt, es gäbe Friede Freude Eierkuchen. Über die Träume des Opas von der künstlerischen Karriere seines Schützlings können wir allerdings wieder trefflich diskutieren.

Für mich wäre es ein 3 Sterne Buch. Da ich aber dem Schattenkönig auch 3 Sterne zugestehe, obwohl er mich weit stärker gequält hat, werde ich hier wohl aufrunden. Die Bewertungsskala müsste einfach ein paar mehr Sterne haben, um gerecht sein zu können.
 

Christian1977

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8. Oktober 2021
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Die Bewertungsskala müsste einfach ein paar mehr Sterne haben, um gerecht sein zu können.
Ich kenne dieses Dilemma sehr gut. Mit welchem Buch vergleicht man und warum? Mit dem letzten mit drei Sternen oder mit dem letzten mit vier Sternen?

Bei diesem Roman hier war ich tatsächlich mal klar festgelegt, das gibt es auch nicht so wahnsinnig oft.
 

RuLeka

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30. Januar 2018
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Ich kenne dieses Dilemma sehr gut. Mit welchem Buch vergleicht man und warum? Mit dem letzten mit drei Sternen oder mit dem letzten mit vier Sternen?
Wenn ich total begeistert bin, dann ist es einfach: 6 Sterne! :)
Aber ansonsten ist es schwierig. Welche Erwartungen hatte ich? Kenne ich andere Bücher des Autors, vergleiche ich damit. Ist es ein Unterhaltungsroman oder hat es den Anspruch, literarisch anspruchsvoll zu sein?
So ganz objektive Kriterien gibt es zwar ( Stil/ Sprache/ Glaubwürdigkeit der Figuren usw.), aber ob drei oder vier Punkte hängt manchmal auch von der jeweiligen eigenen Befindlichkeit ab.
 

RuLeka

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30. Januar 2018
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Der Roman hat bei mir einen zwiespältigen Eindruck hinterlassen. Den ersten Teil , Kaspars und Birgits Geschichte fand ich ganz interessant. Hier beschreibt Schlink meistens noch ziemlich glaubwürdig die Geschehnisse und die Figuren . Die „ Umerziehung“ Sigruns war mir zu didaktisch und wenig realistisch. Das Thema hingegen wichtig und es ist notwendig, darauf hinzuweisen.

Leider habe ich wieder Schwierigkeiten, meine Rezension als Einzelrezension zu finden. Unter Portal/ Gegenwartsliteratur sind immer nur die Sammelrezensionen zu finden. Ich bin zu blöd.
 
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Literaturhexle

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2. April 2017
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Sassenach123

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27. Dezember 2015
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Bin etwas unschlüssig was diesen Roman angeht. Ich habe ihn ganz sicher gern gelesen. Allerdings gingen meine Erwartungen an den Roman oft in eine andere Richtung. Das kann ich dem Autor eigentlich nicht ankreiden, es sind ja seine Eindrücke, sein Gedankengut, was er dort niedergeschrieben hat. Der Funke sprang nicht über, dass trifft es am besten. Am Anfang, im ersten Abschnitt beispielsweise, habe ich unbedingt wissen wollen, warum Kaspars Ehe so geendet hat. Im weiteren Verlauf ließ für mich dieses Interesse deutlich nach. Schade!
 

kingofmusic

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30. Oktober 2018
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Ich weiß nicht wieso, aber ich habe den Roman einfach "gelesen". Sicher mag die ein oder andere Wendung "märchenhaft" und vielleicht auch unrealistisch gewesen sein. Aber kann Herr Schlink das Buch nicht einfach deshalb so formuliert haben, weil er den pandemiebedingt ausgelaugten Menschen für ein paar Stunden das Gute zurückbringen wollte - egal, ob es realistisch ist oder nicht? "Drei Haselnüsse für Aschenbrödel" ist auch nicht realistisch - trotzdem habe ich am Ende immer Tränen der Glückseligkeit in meinen Augen, weil es einfach zu schön ist :). Ob 4 oder 5* weiß ich noch nicht.