Fazit zu "Die dritte Quelle"

petraellen

Aktives Mitglied
11. Oktober 2020
424
1.232
44
Hm. Ich folge dir da. Es ist traurig. Denn obiges Zitiertes kann ich nur bestätigen und unterstreichen und leider auch, dass die Idee gut ist, aber eben nicht bildhauerisch gelungen ;-). Die Figur ist zu unkenntlich im Stein geblieben.
Ich muss jetzt grade an einen Autor denken - kann sein, dass es Stephen King war? - der mal zu einem Kritiker gesagt haben soll: "Toll, was Sie da alles aus meinem Roman gelesen haben. Ich kann nur sagen, ich habe es nicht hineingetan."

Konkret:
Das Weihnachtsessen, Kok's Tod, die Begegnung mit Ruth sind nicht echt. Das ist klar. Daher wissen wir, dass Steen sich Dinge einbildet.
Vor diesem Hintergrund hätte Köhler (IMHO) viel klarer herausarbeiten müssen, was von den weiteren Szenen mit Mayra, speziell die Hochzeit, imaginiert ist und was nicht. Da bleibt es im Vagen. Das finde ich unbefriedigend.
Wahrscheinlich gebe ich drei Punkte. Zwei nicht, dafür gab es doch zu viele Stellen, die mir Freude gemacht haben.
Warum sollte das Weihnachtsessen, Kok's Tod, die Begegnung mit Ruth nicht echt sein? Die Hochzeit sehe ich als echt an. Mir persönlich hat der Roman gefallen, gerade weil Harald Steen einen eigenartigen Charakter hat, der zwar mir auch nicht immer so sympathisch ist, den ich aber besser finde, als wenn alles glatt verlaufen wäre.
 
  • Stimme zu
Reaktionen: Wandablue

Wandablue

Bekanntes Mitglied
18. September 2019
9.383
21.203
49
Brandenburg
Das Weihnachtsessen ist echt. Klar. Die Wittmers bringen Steen Essen in sein Apartment. Aber sie können Marya nicht sehen! und dass Marya hier unsichtbar ist, lässt darauf schließen, dass Steen ein mächtig unzuverlässiger Erzähler ist, dem man nicht mehr trauen kann.

Kannst du aber sehen, wie du möchtest, @petraellen .
 

petraellen

Aktives Mitglied
11. Oktober 2020
424
1.232
44
Das Weihnachtsessen ist echt. Klar. Die Wittmers bringen Steen Essen in sein Apartment. Aber sie können Marya nicht sehen! und dass Marya hier unsichtbar ist, lässt darauf schließen, dass Steen ein mächtig unzuverlässiger Erzähler ist, dem man nicht mehr trauen kann.

Kannst du aber sehen, wie du möchtest, @petraellen .
Steen saß aber nicht in seinem Appartement, sondern im Speisesaal des Hotels . Nebenan feierte die Familie. (S.328) Mayra saß neben ihm, was keiner bemerkte. Das Essen brachte Sofia, die Angestellte. Marya hat eine Tochter und ist damit schon eher weg, So konnte auch Wittmer sie nicht mehr sehen, als er auf Steen zur vorgerückter Stunde traf. Steen selbst erzählt ja nicht, es ist ein auktorialer Erzähler.
 

Die Häsin

Bekanntes Mitglied
11. Dezember 2019
4.557
16.329
49
Rhönrand bei Fulda
Ich habe gerade mal in den Wiki- Eintrag zum Zarathustra geschaut. Das ist ja sehr interessant. Ich habe das übrigens nie gelesen, ich lese Nietzsche nicht. Nein, Nietzsche les ich nicht.

Da steht zum Beispiel:
Das Kennzeichen des „höheren Menschen“ ist seine Selbstüberwindung. Diese Anstrengung, die Züchtung und Bildung gleichermaßen ist, ist ein schöpferisches Bestreben, das nicht auf dem Marktplatz stattfindet, wo der Pöbel im Austausch der Waren nur tut, was dem persönlichen Vorteil dient. Der höhere Mensch ist vielmehr schöpferisch und selbstzweckhaft tätig, um der Vollendung der Dinge willen. Er wertet um, was den Menschen auf dem Marktplatz gleichgültig ist und unnütz scheint, darum steht er einsam gegen den Pöbel. Er ist ein Neuerer und damit ein Vernichter.
Als Bejaher des Lebens sind seine bevorzugten Ausdrucksformen die Leichtigkeit des Tanzes und das Lachen.


Das unbekümmerte Klauen in den Höfen und auf der Plantage, das Tanzen ...

Die neuen Tugenden des „Übermenschen“ sind vor allem:
  • das Schaffen, die Tat. Der Übermensch ist ein schaffender Mensch. Zum Schaffen gehört jedoch immer auch das Vernichten.
  • Selbstliebe, die Knechtsein und Wehmut verhindert
  • Liebe zum Leben und Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten
  • der (männliche) Wille des Übermenschen, der sein einziger Handlungsmaßstab ist
  • Mut, Härte und Kompromisslosigkeit in der Durchsetzung seiner Ziele
Das passt doch wie A.. auf Eimer zu Steens Aktivität in seinem Claim ...

Jetzt muss ich mich nur noch mal eingehend mit "O Mensch, gib acht" befassen.
Es gibt in einer der Mahler-Sinfonien eine sehr schöne Vertonung davon.
 
Zuletzt bearbeitet:
  • Like
Reaktionen: Wandablue

Literaturhexle

Moderator
Teammitglied
2. April 2017
19.250
49.195
49
Es gibt keine Ehe! Was ich für echt halte, ist die Arzthelferin, die Friseurin. Basta. Mehr jibbt et nicht. ihre Begleitung Steens existiert nur in seiner Fantasie.
Genau. Mayra gibt's auf der Insel. Sie hat ihm das Blut abgewaschen, ihn nackt gesehen und seine vertrocknete Leidenschaft geweckt. Das ist stimmig. Daraus hat er sich seine Liebesgeschichte gebaut. Bedenkt: er ist ein Mann, der nie Erfolg bei Frauen hatte, und ein Psychopath.
Was, wenn Steen sich diese Passagen quasi selbst schreibt, und deshalb sind sie so schlecht geschrieben?
Der gesamte Roman ist aber doch aus personaler Erzählperspektive geschrieben. Zumindest fasse ich ihn so auf. Während der ersten zwei Teile (die Reise und die Insel) hatte ich wenig auszusetzen am Stil. Auch die Dialoge mit dem Hund haben mir gefallen.
Die Sprache verflacht zusehends.
Vllt geb ich doch noch nen Stern dazu. Gratis sozusagen.
Das fände ich natürlich schön:)

Häsin, ich bin völlig bei dir! Die Beispiele habe ich im letzten LA auch schon aufgeschrieben. Ich muss den Roman noch ein bisschen sacken lassen, um zu einem Fazit zu kommen.
 
  • Like
Reaktionen: Die Häsin

Die Häsin

Bekanntes Mitglied
11. Dezember 2019
4.557
16.329
49
Rhönrand bei Fulda
Ich gebe zu, ich wurde schon im allerersten LA misstrauisch, als ich erfuhr, dass er als einzige Lektüre Nietzsche im Gepäck hat.
Das lässt nichts Gutes ahnen. Es ist übrigens ein ähnliches Klischee, wie wenn so ein Backpacker Thoreau im Gepäck hat.
 
  • Like
Reaktionen: Literaturhexle

Die Häsin

Bekanntes Mitglied
11. Dezember 2019
4.557
16.329
49
Rhönrand bei Fulda
Das musst du mir erklären. Ich kenne Nietzsche nämlich nicht. Was hat es mit dem Klischee auf sich?
Ich habe ja einiges von Jack London gelesen. Die Aussteiger bei Jack London haben immer Nietzsche gelesen.
Das ödet mich derart an, dass mir Nietzsche wirklich dauerhaft verleidet ist. Immer wenn ich dachte, jetzt könnte ich vielleicht doch mal Nietzsche lesen, lief mir so ein Heini über den Weg, der Nietzsche gelesen hatte und infolgedessen unglaublich unsympathisch wurde. Da hält mich allein das schlechte Beispiel vom Lesen ab.

Thoerau im Gepäck hatte zum Beispiel Christopher Candless, der in Alaska mit seinem Aussteigertraum gescheitert ist. Es gibt ein sehr kluges Buch von John Krakauer, in dem er etliche Beispiele solcher Menschen beleuchtet.

Buchinformationen und Rezensionen zu In die Wildnis: Allein nach Alaska von Jon Krakauer
Kaufen >
 

Literaturhexle

Moderator
Teammitglied
2. April 2017
19.250
49.195
49
So. Dieses enttäuschende, aus meiner Sicht völlig unrealistische Ende musste ich erst einmal verdauen. Nachdem ich das gesamte Buch noch einmal habe Revue passieren lassen, gefällt mir jedoch auch sehr vieles. Mit Harald Steen hat der Autor eine vielschichtige, ambivalente Figur geschaffen. Das Rätselraten um seine Herkunft, seine psychische Gesundheit, die Unterscheidung zwischen Wunsch und Wahrheit haben für mich während der Lektüre einen großen Reiz ausgemacht. Die Diskussion mit euch war zudem das Salz in der Suppe. Gerne würde ich den Autor dazu befragen;)

Ich halte an meiner Ansicht fest, dass ein Großteil der letzten zwei Teile sich nur in Haralds Fantasiewelt abgespielt hat. Das wäre einigermaßen schlüssig - auch wenn ich es niemals so geschrieben hätte und auch die Stilistik gelitten hat.

Die anderen Teile, die authentische Beschreibung der unbequemen Reise, die tollen Landschaftsbilder, die inneren und äußeren Konflikte unseren Protas, seine abgedrehten Anwandlungen... All das hatte was.
Außerdem ist mir dieser Satz noch ins Auge gesprungen: Gefragt nach den Fortschritten seines Romans antwortet Steen: „Ich versuche, einen Verlag dafür zu finden. Ist nicht leicht. Es ist ein kompliziertes Buch geworden. Vielleicht ein paar Wendungen zuviel.“ (S. 415) Ist das vielleicht ein Twist, der auch auf diesen realen, uns vorliegenden Roman zutrifft? Ich finde schon.

Also, lange Rede: Ich werde aufrunden und dem Roman 4 Sterne geben.
 

petraellen

Aktives Mitglied
11. Oktober 2020
424
1.232
44
Es gibt kaum eine Wirklichkeit, über die Nietzsche nicht etwas gesagt hätte: es lassen sich über fast alle großen und kleinen Dinge, über Staat, Religion, Moral, Wissenschaft, Kunst, Musik, über Natur, Leben, Krankheit, über Arbeit, Mann und Frau, Liebe, Ehe, Familie, über Völker, Zeitalter, Geschichte, geschichtliche Persönlichkeiten, Zeitgenossen, über die letzten Fragen des Philosophierens Zusammenstellungen aus seinen Schriften machen. (Quelle: Nietzsche Einführung in das Verständnis seines philosophierens, Karl Jaspers In der Reihe De Gruyter Studienbuch ). Und auch die dritte Quelle enthält Passagen, die darauf hindeuten. Z. Beispiel : Ein Hund Schlug an. Steen lehrt den Kopf in den Nacken, stieß ein Heulen aus. S.157 . Abenteuer bedeutet auf Extremsituationen zu treffen, jeglicher Art. Daher wird gerne Nietzsche zitiert. Moral, Krankheit, Mann und Frau sind ja Themen in diesem Roman.
 

Wandablue

Bekanntes Mitglied
18. September 2019
9.383
21.203
49
Brandenburg
Moral, Krankheit, Mann und Frau sind ja Themen in diesem Roman.
Da möchte ich teilweise sanft widersprechen. Die Themen sind Einsamkeit, Identitätsverlust und Voyeurismus, allerdings in einem ganz speziellem Sinne: (Suche nach den Tathergängen). Alles unter dem Aussteigermotiv subsumiert.
Krankheit ist natürlich enthalten. Aber es geht mehr um den Verfall einer Psyche anhand einer ganz speziellen Obsession.
 
  • Stimme zu
Reaktionen: Renie

Renie

Moderator
Teammitglied
19. Mai 2014
5.858
12.454
49
Essen
renies-lesetagebuch.blogspot.de
Dieser Roman hätte so gut sein können, wenn die letzten beiden Leseabschnitte nicht gewesen wären.
Die Grundidee, die Galapagos-Affäre zum Anlass zu nehmen und daraus einen fiktiven Protagonisten zu erschaffen, der sich von diesem Ereignis beeinflussen lässt, gefällt mir, genauso wie der besondere Schauplatz.
Doch für mich hat sich der Autor bei der Weiterentwicklung seines Protagonisten verrannt, was insbesondere zum Ende besonders deutlich geworden ist. Steen ist geistig krank. Er ist obsessiv und leidet unter Wahnvorstellungen. Anfangs fallen seine merkwürdigen Verhaltensweisen nicht so sehr ins Gewicht, man wundert sich eher über seine Eigenarten. Doch je mehr sich Steen in seine Irrungen und Wirrungen hineinsteigert, umso merkwürdiger wird dieser Roman. Zum Ende ist für mich nicht mehr zu erkennen, was der Realität entspricht und was in Steens Fantasie stattfindet. Da der Roman aus Steens Perspektive erzählt wird, könnte man dieses Durcheinander zum Ende des Romans als stimmig bezeichnen. Doch mir war es schlichtweg zuviel. Dieses Verschwimmen und Hinterfragen von Wahrheiten bzw. Fantasien ist mir zu anstrengend. Ich wollte einen Auswandererroman lesen, meinetwegen einen Selbstfindungsroman. Hätte ich gewusst, dass dieser Roman zur Geschichte über den seelischen Absturz seines geistig kranken Protagonisten mutiert, hätte ich ihn nicht gelesen.
 

Anjuta

Bekanntes Mitglied
8. Januar 2016
1.635
4.771
49
62
Essen
Ich habe mich bis zum Ende hin gut unterhalten gefühlt von diesem Roma und kann euch nicht ganz zustimmen bei Eurer Einschätzung der letzten LAs, @Renie und @Literaturhexle . Ich fand sogar, dass sich Steen und seine inneren Wirrnisse zum Ende hin immer mehr beruhigen. Die Beziehung zu Mayra nordet ihn ein wenig ein. Und er zeigt sich mehr als soziales Wesen. Darüber hinaus erfahren wir zur Galapagos-Affäre nicht mehr viel Neues. Es bleibt ein Rätsel der Vergangenheit, was denn da nun wirklich passiert ist. Die eigentliche Neuigkeit zum Ende ist: Es gibt wohl eine zweite bewohnte Stelle auf der Insel, auf der sich auch Wasser, also eine Quelle, befinden muss und dort lebt ein rothaariges Wesen. Wessen Nachfahr kann das sein? Wer an der Affäre Beteiligte hatte rote Haare? Ich erinnere mich nicht so genau. Ist mir aber eigentlich auch egal. Ich brauchte diese Klatschgeschichte nicht unbedingt (wenngleich ein interessanter Aufhänger), um an dem Roman Gefallen zu finden. Das Leben so weltabgewandt in unserer durchvernetzten Gesellschaft, das hat mein Interesse wach gehalten. Und dass dorthin jemand fährt/geht, der psychisch nicht ganz auf der Höhe ist, das ist für mich nicht nur nachvollziehbar, sondern eher zwangsläufig. Ich störte mich also so gar nicht an den geistigen Aussetzern von Steen und der Unklarheit über Realität und Wahn. Das passte für mich hervorragend zum Ambiente und war letztlich eine Weiterführung der exzentrischen bis gestörten Charaktere der "Affäre".
 

Literaturhexle

Moderator
Teammitglied
2. April 2017
19.250
49.195
49
Interessant und nachvollziehbar deine Ausführungen und wie immer schlüssig argumentiert. Wie unterschiedlich man Dinge empfinden kann - immer wieder spannend!
Wer an der Affäre Beteiligte hatte rote Haare?
Steen auf alle Fälle. Deshalb dachte ich spontan an einen Bruder, der noch von Dr. Ritter abstämmig ist.
Da Mayra diese Person aber offenbar nicht sah, könnte es sich tatsächlich (erneut) um eine Halluzination Steens handeln. Oder die imaginierte "Selbstfindung", die @petraellen ins Rennen warf.

Es bleibt nur, den guten Julian Barnes zu zitieren: Wir wissen es nicht.
 
  • Like
Reaktionen: Renie