FAZIT zu "Die Abtrünnigen"

Literaturhexle

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2. April 2017
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Wie hat euch der Roman als Ganzes gefallen? Bitte gebt uns ein spontanes Fazit in ein paar Sätzen.
 

alasca

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13. Juni 2022
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Ganz schwierig, das hier ist lediglich ein vorläufiges Fazit, ich muss noch sehr viel über den Roman nachdenken. Zunächst mal der Titel - Desertion, deutsch Verlassen. Den deutschen Titel "Die Abtrünnigen" lasse ich mal ganz außer acht, der passt ja so dermaßen überhaupt gar nicht...!!! Wenn, hätte er "Die Verlassenen" heißen müssen. Oder schlicht "Verlassen".

Das Verlassen ist das eine große Thema im Roman - das andere ist Geschichte bzw. die Geschichten, die wir uns erzählen. Oder die Nationen sich erzählen. Denn wie sonst konnten die Kolonialherren ihr Handeln rechtfertigen? Die Bebilderung kolonialer Macht ist natürlich auch ein Thema, aber bleibt aus meiner Sicht bei diesem Roman doch etwas im Hintergrund.

Wer hat nun wen verlassen? Zunächst mal hat Pearce Rehana verlassen. Aber auch Christie hat ihren Mann Frederick verlassen, weil sie es nicht ertrug, den Kolonialismus hautnah mitzuerleben. Dann hat Amin Jamila verlassen. Rashid seine Familie. Grace wiederum Rashid. Da kommt einiges zusammen. Und offenbar gibt es Geschichtsauffassungen, die der Meinung sind, dass England seine Kolonie Sansibar/Tansania voreilig und unvorbereitet in die Freiheit entlassen hat, woraufhin sich die Tragödie des Bürgerkriegs entfaltete. Wobei sich die Frage stellt, wie sie hätte vorbereitet werden können und ob es überhaupt den "richtigen" Zeitpunkt für die Dekolonialisierung geben kann. Hier wären Historiker und Politologinnen gefragt.

Amins Tragödie ist die, die mich am meisten berührt hat. Das liegt an der Erzählweise von Gurnah, die immer wieder die Fiktion bricht und eine Fiktion in der Fiktion schafft, so dass Dokumentarisches, Historisches, Fiktionales sich vermischen und durchdringen, aber eben auch eine gewisse Inkohärenz und Distanz schaffen.

Ich denke, dass dieser Kunstgriff zu viel des Guten tut und dem Roman schadet, weil er seine Eindringlichkeit mindert.

Da Gurnah aus Sansibar stammt und einen ähnlichen Lebenslauf hat wie Rashid, stellt sich zudem mal wieder die Frage nach dem autobiographischen Element.
 

Literaturhexle

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2. April 2017
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Das ist wirklich komisch, dass noch so viele ohne Buch sind (ich auch:(). Und du bist schon durch.
 

Eulenhaus

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13. Juni 2022
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In Die Abtrünnigen erzählt Gurnah viele Geschichten eindrücklich in einer 3-Generationen-Familiengeschichte. Er zeigt die kolonialen und postkolonialen Widersprüche in seiner früheren Heimat an der ostafrikanischen Küste auf. Die sozialen Ungerechtigkeiten, Vorverurteilungen und Diskriminierungen benennt der Autor deutlich. Besonders die Unterdrückung der Frauen und ihr Nicht-Vorkommen in der Öffentlichkeit betrachtet er kritisch.
Die drei Erzählteile des Romans umfassen den Zeitraum von der Jahrhundertwende bis in die 50er und weiteren Jahre des 20. Jahrhunderts. In einem sanften, mitfühlenden Erzählstil verknüpft der Ich-Erzähler, man erkennt den Autor, die Handlungsstränge im letzten Teil.
Das Werk ist voller „Abtrünniger“: die verbotenen Lieben, die Migration, die Unabhängigkeitsbestrebungen der afrikanischen Länder, die Umgehung althergebrachter Sitten und Bräuche.
Ein gelungenes Buch, 4 Sterne.
 

Federfee

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13. Januar 2023
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Ganz schwierig, das hier ist lediglich ein vorläufiges Fazit, ich muss noch sehr viel über den Roman nachdenken.
Ich denke immer noch ;) und lasse mich auch von euren positiven Eindrücken ein wenig beeinflussen.
Zunächst mal der Titel - Desertion, deutsch Verlassen. Den deutschen Titel "Die Abtrünnigen" lasse ich mal ganz außer acht, der passt ja so dermaßen überhaupt gar nicht...!!! Wenn, hätte er "Die Verlassenen" heißen müssen. Oder schlicht "Verlassen".
Ja, seltsam, so ein unpassender, unverständlicher Titel. Verlassen dagegen kommt oft vor, wie du ja auch sehr treffend aufgezählt hast.
Die Bebilderung kolonialer Macht ist natürlich auch ein Thema, aber bleibt aus meiner Sicht bei diesem Roman doch etwas im Hintergrund.
Stimmt das war gar nicht das Hauptthema - so scheint es. Was aber dann? Das ist es, was mich wahrscheinlich an diesem Buch stört.
Und offenbar gibt es Geschichtsauffassungen, die der Meinung sind, dass England seine Kolonie Sansibar/Tansania voreilig und unvorbereitet in die Freiheit entlassen hat, woraufhin sich die Tragödie des Bürgerkriegs entfaltete. Wobei sich die Frage stellt, wie sie hätte vorbereitet werden können und ob es überhaupt den "richtigen" Zeitpunkt für die Dekolonialisierung geben kann. Hier wären Historiker und Politologinnen gefragt.
Ich muss ehrlich sagen, dass ich nicht genug darüber weiß, um mir ein Urteil erlauben zu können. Allerdings geistert bei mir vage die Vorstellung herum, dass die Briten etliche Fehler gemacht haben (auch im Palästina-Bereich), die noch heute zu Konflikten führen oder die Ursache dafür sind, also möglicherweise auch in Afrika.
Amins Tragödie ist die, die mich am meisten berührt hat. Das liegt an der Erzählweise von Gurnah, die immer wieder die Fiktion bricht und eine Fiktion in der Fiktion schafft, so dass Dokumentarisches, Historisches, Fiktionales sich vermischen und durchdringen, aber eben auch eine gewisse Inkohärenz und Distanz schaffen.
Gut geschrieben!! DAS ist es, was mich stört.
Da Gurnah aus Sansibar stammt und einen ähnlichen Lebenslauf hat wie Rashid, stellt sich zudem mal wieder die Frage nach dem autobiographischen Element.
Ich bin mir auch ziemlich sicher, dass einiges aus seiner Erfahrung entspringt. Wie könnte es auch anders sein?!
 

Federfee

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13. Januar 2023
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Nun muss ich aber schnell ein Fazit schreiben, bevor die Nobelpreisträgerin Tokarczuk den Nobelpreisträger Gurnah aus meinem Buch- und Lesegedächtnis verdrängt, bevor die Eindrücke gänzlich verblassen.​

So gut wie den meisten hier hat es mir leider nicht gefallen und ich kann nicht mal eindeutig sagen, warum. Vielleicht, weil ich nicht weiß, was Gurnah damit sagen will? Vielleicht, weil ich enttäuscht war, dass die anfänglichen Hauptpersonen Hassanali, Rehana und Pearce später nur noch ganz nebenbei auftauchten? Leider weiß ich es nicht und finde es auch mit Nachdenken nicht heraus.

Schreiben kann Abdulrazak Gurnah zweifellos, aber ich habe lieber traditionelle Romane mit einem roten Faden oder mit einem Schwerpunkt-Thema. Letztlich hatte ich das Gefühl großer Distanz zum Buch, zu den Personen, den Themen.​
 

Circlestones Books Blog

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Gurnah ist ein leiser, aber eindrücklicher Erzähler und für mich überraschend angenehm zu lesen (Nobelpreisträger, das schreckt mich sonst eher ab, da denke ich immer spontan an Jelinek). Eine sehr vielseitige Geschichte zwischen Liebe und Politik, mit aktuellen Themen, gleichzeitig auch ein Roman mehrerer Generationen, beginnend in Kenia Ende des 19. Jahrhunderts, endend beinahe einhundert Jahre später. Mir hat der Roman gerade wegen der hier schon kritisierten Mischung sehr gut gefallen,
 

Federfee

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13. Januar 2023
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Ooops, das klingt jetzt seltsam. 'Gut geschrieben ' bezieht sich auf deinen Beitrag - damit hier kein Missverständnis entsteht
 
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Reaktionen: Emswashed

Circlestones Books Blog

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28. Oktober 2018
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Es war das erste Buch von Abdulrazak Gurnah, das ich gelesen habe und ich habe jetzt zwei weitere Romane von ihm auf meiner Liste, allerdings die englischen Ausgaben. Ich denke noch immer über diesen Roman nach, werde jetzt mal mit einer Rezension beginnen, wenn ich die sehr unterschiedlichen Meinungen hier lese, überlege ich persönlich, warum mich der Autor so überzeugend erreicht hat, vermutlich liegt es wieder mal daran, dass ich in erster Linie die Geschichte suche, die mir ein Autor, eine Autorin erzählen will, und erst in zweiter Linie die Figuren. Doch auch diese waren gerade wegen der so unterschiedlichen Charaktere für mich interessant und ihr Verhalten im Hinblick auf Erziehung, gesellschaftliche Zwänge und persönliche Vorstellungen nachvollziehbar.
 

Literaturhexle

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Da ich den Klappentext nicht präsent hatte, bin ich unvoreingenommen in die Lektüre gestartet. Der erste Teil hat mich ziemlich gefesselt. Gurnah schreibt ruhig, in anschaulichen Bildern, baut seine Protas schlüssig und liebevoll auf. Ich bin Hassanili und seiner Familie gern gefolgt. Die unterschiedlichen Sichtweisen der Kolonialisten empfand ich informativ.
Der zweite Teil fängt im Grunde fast völlig neu an mit einem Zeitsprung von rund 60 Jahren. Es geht um Amin, Rashid und deren Schwester. Hier wurde mir manches zu langatmig hergeleitet. Auch erzählt Gurnah verschiedene Geschichten, aus denen sich sein Ganzes ergibt. Manches fand ich spannend, manches überflüssig. Allerdings versteht es der Autor meisterlich, seine Fäden am Schluss wieder zusammenzuführen, so dass sich zumindest ein Verständnis für das weitschweifige Erzählen ergibt.

Thematisch hat mich dieser Roman längst nicht so erreicht wie "Nachleben". Dennoch gelingt es Gurnah auch hier, dem Leser die Gebräuche, Kulturen, Lebensstile seiner Heimat nahe zu bringen. Er zeigt eindrucksvoll die Sünden des Kolonialismus auf und vor allem, wie diese über Jahre im Negativen fortwirken und Generationen von Menschen beeinträchtigen und beeinflussen. Er verzichtet weitgehend auf Schwarz-/Weiß-Malerei, was man ihm hoch anrechnen muss.
Ich denke, ich werde im (aufgerundeten) Vier-Sterne-Bereich landen.
 

Literaturhexle

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2. April 2017
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"Desertion" hat laut Wiki eine militärische Konnotation:
Fahnenflucht, Desertation oder Desertion bezeichnet das Fernbleiben eines Soldaten von militärischen Verpflichtungen in Kriegs- oder Friedenszeiten – benannt nach der Flucht von der Regimentsfahne, unter der sich alle Soldaten zum Gefecht zu versammeln hatten.
Insofern finde ich den deutschen Titel ziemlich passend gewählt. "Verlassen" wäre m.E. zu kurz gegriffen. Wörtlich wäre wohl "Fahnenflucht" oder "Desertation". "Die Abtrünnigen" hat aber breitere Deutungsmöglichkeiten.
 

Emswashed

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9. Mai 2020
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Dieser Roman macht mich ratlos. Es mag zum einen daran liegen, dass ich die Leseabschnitte mit größeren Zeitabständen las, zum anderen aber auch an den zwei größeren Gebieten, die einmal die Liebesgeschichte zwischen Martin und Rehana erzählt, dann aber (fast) übergangslos in die Familiengeschichte von Farida, Amin und Rashid eintaucht, die so ganz nebenbei Amins Liebesgeschichte abhandelt.

Es gab ein paar Passagen, die mich sehr begeistert haben, die allerdings nur wie zu kurz gekommenes Beiwerk erschienen. Dabei hatten sie doch die Landesgeschichte, den Postkolonialismus und die gesellschaftlichen Umstrukturierungen im Gepäck.

Oft ließ mich Gurnah im Unklaren über Zeit und Ort (oder es war mir, wie schon zuvor das Verwandschaftsverhältnis Rehana/Barbara, zu anstrengend nach den richtigen Hinweisen zu suchen). Hier hätte ich mir mehr Angaben, vielleicht sogar eine Karte sehr gewünscht.

Die ganze Geschichte schien mir wie ein Pferd, das von hinten aufgezäumt wird, vor und die Schwerpunkte lagen leider nicht dort, wo ich sie mir gewünscht hätte.

Vielleicht wären zwei sehr schöne Einzelromane daraus geworden... ich weiß nicht, warum ich mich mit diesem Buch so schwer tue.