FAZIT zu "Die Abtrünnigen"

Emswashed

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9. Mai 2020
2.674
9.513
49
Und die Rezi fiel mir auch nicht leicht. Ist aber auch wirklich blöd gelaufen. Mit etwas mehr Zeit und Konzentration, hätte ich das Buch vielleicht auch anders würdigen können.:think
 
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Reaktionen: RuLeka und Irisblatt

dracoma

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16. September 2022
1.514
5.784
49
Mir hat die souveräne Erzählweise sehr gut gefallen. Gurnah lässt verschiedene Erzähler zu Wort kommen, und als Erzähler fokussiert er immer unterschiedliche Figuren, so dass ein breit gefächertes Bild entsteht. Auch mit den zeitlichen Sprüngen - einmal überspringt er eine ganze Generation! - geht er souverän um und setzt dann Reflexionen ein, mit denen der Leser die Lücken füllen kann.
Besonders gut gefallen haben mir die kräftigen Bilder, mit denen Gurnah arbeitet.
Und noch besser gefallen hat mir die sachliche Art, mit der Gurnah mit dem Phänomen der kolonialen Herrschaft umgeht. Da gibt es keine Klagen, keine Schauergeschichten und keine Schuldzuweisungen, sondern er bemüht sich sichtlich um einen klaren Blick auf seine Heimat Was ihm natürlich leichter fällt, weil er - schließlich ist er auch ein Abtrünniger - von außen blicken kann.
Was mir weniger gut gefallen hat, sind die akademisch-belehrenden Passagen, z. B. wenn es um ein Gedicht von Senghor geht.
 

dracoma

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16. September 2022
1.514
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49
Und was mir überhaupt nicht gefallen hat, ist die Tatsache, dass ich zu Beginn ständig im Glossar nachschlagen und die Lektüre unterbrechen musste. Das Bemühen um kulturelle Authentizität ist ja in Ordnung, aber wenn ich z. B. "Simsim" nachschlagen muss und dann erfahre, dass das "Sesam" ist, dann finde ich dieses Bemühen um Authentizität ausgesprochen hinderlich.
Damit wird mir der Zugang zu der Welt, die mir das Buch doch eröffnen will, versperrt - zumindest erschwert.
Das Werk ist voller „Abtrünniger“: die verbotenen Lieben, die Migration, die Unabhängigkeitsbestrebungen der afrikanischen Länder, die Umgehung althergebrachter Sitten und Bräuche.
Ich habe überlegen müssen: wer trünnt hier von wem ab?
Darf ich Deine Liste ergänzen?
Auch der Verbot der Sklavenhaltung und v. a. des Sklavenhandels ( Sansibar lebte davon!) gehört dazu, und auch der Brite Pearce trünnt ab.
 

luisa_loves-literature

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9. Januar 2022
836
3.350
44
Wörtlich wäre wohl "Fahnenflucht"
Ja, ich wäre auch am ehesten bei "Fahnenflucht" - die Briten, Pearce, Rashid, Farida letztlich auch, Amin in gewisser Weise, Frederick Turner, seine Frau ...fast alle Figuren hier begehen eine Form der "Fahnenflucht" und "desertieren", lassen ihre Liebe, Familie, Pflicht, Aufgabe, Land im Stich. Vielleicht war es auf Deutsch zu militärisch, "Die Abtrünnigen" hat zumindest das aktive Element, dass "Den Verlassenen" definitiv fehlt. Bei "Abtrünnigen" gibt es ein Entscheidungsmoment, es passiert dir nicht.
Da gibt es keine Klagen, keine Schauergeschichten und keine Schuldzuweisungen, sondern er bemüht sich sichtlich um einen klaren Blick auf seine Heimat Was ihm natürlich leichter fällt, weil er - schließlich ist er auch ein Abtrünniger - von außen blicken kann.
Ja, das finde ich auch bemerkenswert. Das ist ihm auch in "Nachleben" bereits hervorragend gelungen.
 

luisa_loves-literature

Aktives Mitglied
9. Januar 2022
836
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44
Ich fand den Roman toll, habe alles genossen und denke immer noch über die verschiedenen Beziehungen nach, die hier dargestellt werden, und wie sie das Verständnis des Romans bereichern können. Ich mag Gurnahs Sprache und seinen Stil (auch wenn ich die Übersetzung hier als teilweise verständniserschwerend oder ungenau) empfunden habe und ich mag seine Kontrolle über die großen Themen, die er anspricht.
Seine Texte haben einfach viele Schichten, starke Bilder, sind informativ und elegant und fesseln mich sehr, auch weil sie so viel aussagen können. "Nachleben" fand ich eventuell ebenfalls einen Hauch stärker, sicher bin ich mir aber noch nicht, ich muss noch ein paar Tage nachdenken - aber fünf Sterne werden es bei mir allemal.
 

RuLeka

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30. Januar 2018
6.408
23.972
49
66
Die Abtrünnigen" hat zumindest das aktive Element, dass "Den Verlassenen" definitiv fehlt. Bei "Abtrünnigen" gibt es ein Entscheidungsmoment, es passiert dir nicht.
Insofern passt „ Abtrünnig“ sehr gut. „ Fahnenflucht“ ist auch eine Entscheidung, nichts, was einem passiert.
 

dracoma

Bekanntes Mitglied
16. September 2022
1.514
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Das ist ihm auch in "Nachleben" bereits hervorragend gelungen.
Ich habe "Das verlorene Paradies" gelesen, und da fiel mir das auch auf - gerade weil es einige Passagen gab, wo er den moralischen bzw. ethischen Zeigefinder hätte heben können. Die Bewertung überlässt er seinem Leser, er erzählt nur.
Mir hatte "Das verlorene Paradies" übrigens sehr gut gefallen, ein vielschichtiger Roman mit biblischen Anklängen.
 

RuLeka

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30. Januar 2018
6.408
23.972
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Mir hat der Roman sehr gut gefallen. Es ist der dritte, den ich von Gurnah gelesen habe. Vielleicht hatte ich deshalb weniger Probleme mit den Brüchen in der Erzählung, das kannte ich schon von seinen anderen Romanen.
Gurnah hat mir auch hier wieder einen lebensprallen Einblick in eine mir fremde Welt gegeben. Seine Figuren sind niemals eindimensional, sondern facettenreich und vielschichtig.
Seine Sprache ist bilderreich und dank @ luisa-loves-literature habe ich manche Metaphern überhaupt als solche erkannt.
Der Austausch hier war für mich dabei äußerst bereichernd.
Mit der Rezension habe ich mich schwergetan, nicht mit der Punkte- Vergabe, die stand bald fest. Doch einem so vielschichtigen, kunstvoll konstruierten Roman gerecht zu werden, ist nicht leicht.
Hier das Ergebnis:
 

Federfee

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13. Januar 2023
2.001
8.251
49
Dieser Roman macht mich ratlos.
Ich kann dich gut verstehen, ich war ja auch nicht begeistert. Du hast fein Unbehagen aber einleuchtend dargestellt.
Liebesgeschichte zwischen Martin und Rehana erzählt, dann aber (fast) übergangslos in die Familiengeschichte von Farida, Amin und Rashid eintaucht, die so ganz nebenbei Amins Liebesgeschichte abhandelt.
Das hat mich auch gestört.
Dabei hatten sie doch die Landesgeschichte, den Postkolonialismus und die gesellschaftlichen Umstrukturierungen im Gepäck.
In diesem Bereich hatte ich auch mehr erwartet.
 

Sassenach123

Bekanntes Mitglied
27. Dezember 2015
4.295
10.430
49
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Dies war mein zweiter Gurnah, ein Roman von ihm liegt noch bereit. Da mich das Buch wirklich spät erreicht hat, hinkte ich doch enorm hinterher, was meine Freude am lesen aber nicht schmälern konnte. Mir haben beide Erzählstränge gut gefallen, auch wenn sie nur ganz locker miteinander verwoben sind.
Was mir ebenfalls unheimlich gut gefallen hat ist, dass man als Leser viel von der Zeit und dem Land mitbekommen hat. Und auch von den Sitten und Gebräuchen, die so anders sind als bei uns. Vor allem in der zweiten Geschichte, die Liebelei Amins, die strengen Gepflogenheiten, eine andere Welt in die ich für die Dauer des Buches sehr gerne abgetaucht bin
 

Lesehorizont

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29. März 2022
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53
Mainz
Am Ende sind es bei mir 4 Sterne geworden. Ich fand den Roman etwas schwächer als "Nachleben"; über eine längere Zeit war mir die Verknüpfung mit der Kolonialismuskritik zu dünn. Ich bin froh, dass der Roman am Ende nochmal eine Brücke dazu geschlagen hat. Gurnah hat eine Meisterschaft darin, leise aber bestimmt aufzuzeigen, wie weitreichende Folgen die Kolonialisierung Ostafrikas bis hinein in die kleinsten Mikroräume der Gesellschaft hat/te.