Ein bisschen ist mir Der Zauberer entzaubert worden. Dass alle seine Romansujets einen so unmittelbaren Bezug zu seiner Umwelt hatten, war mir nicht bewusst. Ich empfinde dies als Entzauberung.
Das nun wiederum wunderte mich überhaupt nicht, ich habe es mehr oder weniger erwartet. Vielleicht nicht gerade, dass die Anlehnung an erlebte Wirklichkeit sich bis auf den Guten und den Schlechten Russentisch erstreckt - aber dass ein Autor das Inventar des Erlebten "verbaut", halte ich für gängig.
Und dass er seinen Enkel als Vorbild nahm für die Darstellung eines entsetzlichen Kindssterbens finde ich als unglaublich unsensibel.
Das ist ein so typischer Künstlerroman-Topos, dass ich in diesem Fall wirklich gern wüsste, ob es so passiert ist.
Es gibt in Emile Zolas Roman "Das Werk" (der an die Laufbahn des Malers Cézanne angelehnt ist) eine Szene, als der im Mittelpunkt stehende Maler sein eigenes kleines Kind auf dem Totenbett malt (während die weinende Mutter daneben sitzt) und das Porträt zu einer Ausstellung einsendet ...
Mir ist erst gestern aufgefallen, als ich anfing, meine Rezi zu schreiben (bin noch nicht fertig), welche ungeheure Fülle an Stoff dieses Buch verarbeitet. Nicht nur Thomas Manns Schicksal, auch das der ganzen vielköpfigen Familie und des näheren Umfelds wird uns nahegebracht. Dazu ein Zeit- und Sittenbild, das zum Verständnis erheblich beiträgt, und schließlich werden wir am Rande noch ermuntert, mal wieder Thomas Mann zu lesen. Bei mir hat es jedenfalls funktioniert. Chapeau! Ich hätte ein paar kleine stilistische Einwände - ein bisschen trocken ist das Ganze ausgefallen, wie Wanda schrieb -, aber das ist möglicherweise genauso beabsichtigt. Könnte ich mir jedenfalls vorstellen. Ich denke noch etwas darüber nach.
Was anderes noch, da ich gerade dabei bin, zum Thema "Tod in Venedig".
Ich habe - ich glaube, im letzten Leseabschnitt - die Frage in die Diskussion geworfen, warum Thomas Mann für die Figur des Tadzio kein Mädchen gewählt hat. Ob das möglicherweise deshalb war, damit die straighten Leser gerade
nicht denken, Aschenbachs Interesse wäre ein sexuelles.
Gestern abend habe ich mir das Buch nochmal vorgenommen und quergelesen, wie Tadzio beschrieben wird. Da hätte Mann unmöglich eine Mädchenfigur dafür wählen können. Das Besondere an Tadzio ist, neben seiner Schönheit, gerade der Umstand, dass er erheblich mehr persönliche Freiheit zu genießen scheint als seine Schwestern. Diese werden als geradezu gepanzert beschrieben, mit steifer Kleidung und an den Kopf geklebten Haaren, während der schöne Tadzio im Höschen am Strand herumtollt und mit Kameraden rauft. Undenkbar, das andersherum zu schreiben, jedenfalls zur damaligen Zeit. Es wirft aber auch ein bezeichnendes Licht auf die Vorstellungen von Mädchen- und Jungenerziehung.