FAZIT zu "Der Aufgang"

Literaturhexle

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2. April 2017
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Wie hat euch der Roman gefallen? Was gibt es darüber als Ganzes zu sagen? Bitte schreibt ein spontanes Fazit in ein paar Sätzen.
 

Circlestones Books Blog

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28. Oktober 2018
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Wienerin auf Rügen
www.circlestonesbooks.blog
Meine ersten Eindrücke haben sich bis zum Ende noch verstärkt. Der Autor erzählt, berichtet, es ist ein Roman,der auf genau recherchierten Erinnerungen von Zeitzeugen, noch lebenden Familienmitgliedern aufbaut, in Verbindung mit Anekdoten und persönlichen Erinnerungen des Autors. Wir folgen Menschen vom Beginn ihres Lebens bis zum Ende, gleichzeitig besichtigen wir das Haus, in dem die wichtigsten Ereignisse dieser Menschen stattfanden, in der entgegengesetzten Richtung, vom Keller bis zum Dachboden. Der Aufgang, eine fließende Bewegung statt eines Spannungsbogens. Mir gefallen Romane, in deren Hintergrund Fakten stehen und besonders gut gefällt mir, wie der Autor erst später auf die Geschichte der Vorbesitzer aufmerksam wurde und nicht die in den letzten Jahren so beliebte Situation "Jemand, Nachfahre oder auch zunächst unbeteiligte Person, findet alte Unterlagen, Tagebücher, Fotos usw." Wäre es wieder ein Mitglieder der nachfolgenden Generationen gewesen, das die Geschichte der eigenen Familie aufarbeitet, hätte ich das Buch ebenfalls nicht lesen wollen - dieses Setting hier finde ich neu, anders und durchaus nachvollziehbar.
 

Christian1977

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8. Oktober 2021
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Für mich war das Buch ein Wechselbad der Gefühle, sozusagen ein Auf- und Abgang, um ein recht bemühtes Wortspiel einzubauen.

Erst der Ärger über den "Roman" auf dem Cover, dann wurde ich versöhnlich, weil mir der Beginn doch recht gut gefiel. Schließlich wurde ich enthusiastisch, weil Stefan Hertmans so wunderbar die Atmosphäre im Haus und im Stadtviertel auffing. Ich fand es großartig, wie er sein Leben mit dem der früheren Bewohner:innen verband, wie ernsthaft und empathisch er vorging, wie viel Zeit er sich nahm.

Doch diese Begeisterung nahm wieder ab, je mehr die Atmosphäre wieder verloren ging und wir fast nur noch den Figuren der Vergangenheit folgten. Gegen Ende langweilte ich mich sogar über weite Strecken, vielleicht hätte das Buch einfach kürzer sein müssen. Oder es nutzte sich bei mir ab.

Ich bin irgendwie traurig. Ich dachte zwischenzeitlich, das Buch könnte ein Highlight für mich werden. War es am Ende aber ganz und gar nicht mehr.

Ich werde wohl insgesamt auf vier Sterne kommen, pendele dabei aber zwischen sechs und zwei. ;) Im Vergleich mit den letzten beiden Diogenes-Büchern kann es bei mir aber nicht die gleiche Wertung bekommen wie Poschi und auch keine schlechtere als Johnny (Lee).

Ich denke immer noch daran, wie Stefan in Deutschland auf den Spuren der Kinder wandelte oder wie er als randalierender Student eventuell Mientje gesehen hat...
 

RuLeka

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30. Januar 2018
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Trotz mancher Längen habe ich das Buch mit Interesse gelesen. Die Figur des Willem und die Situation in Belgien vor, während und nach der Besetzung waren für mich ein weiterer Puzzlestein in der Geschichte des Dritten Reiches.

Die persönliche Verbindung des Autors zu seinem Protagonisten erklärt seine intensive Recherchearbeit.

Ich bin überzeugt, dass das Buch in Belgien eine andere Relevanz hat als für deutsche Leser.

Es ist für mich kein Lesehighlight gewesen, doch vier Punkte gibt es auf jeden Fall. Hertmans schreibt sehr gut, einerseits sachlich , nüchtern, andererseits voller Atmosphäre und ich bewundere ihn für die Arbeit, die er in dieses Buch gesteckt hat. Nach wie vor halte ich die Verarbeitung dieses Themas für wichtig und notwendig, auch wenn man ähnliche Geschichten kennt. Die Blickwinkel sind verschieden und bringen allein deshalb neue Erkenntnisse.
 

Literaturhexle

Moderator
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2. April 2017
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Ich lese extrem selten Biografien. Wenn ich es tue, muss mich die jeweilige Person, sei es z.B. Musiker oder Literat, extrem interessieren. Auf "Der Aufgang" steht Roman drauf und ich habe einen solchen im herkömmlichen Sinn erwartet. Irritiert haben mich von Beginn an die Fotografien und Bilder, die dem Text große Authentizität verleihen, für einen Roman aber eher unüblich sind.

Letztlich dürfte das Wenigste fiktional sein. Inspiriert durch sein altes Haus in Gent hat sich der Autor dessen früheren Bewohnern zugewendet. Im Zentrum steht der Flame Willem Verhulst, der sich nach dem 1. Weltkrieg zunehmend radikalisiert und sich schließlich als Kollaborateur bei den Nationalsozialisten andient. Seine Entwicklung und seinen Werdegang begleiten wir bis zum Tod. Große Teile der Geschichte sind sehr distanziert erzählt und eng am reichlichen Quellenmaterial orientiert. Dadurch habe ich keine wirkliche Nähe zu den Figuren empfinden können.

Das Buch ist ein wichtiges historisches Dokument "wider das Vergessen". Die Geschichte des SS-Mannes Verhulst hat es tausendfach gegeben, eben auch in Belgien. Mich konnte der Text nur am Anfang fesseln. Vieles wurde mir zu ausführlich geschildert, die Inhalte wirkten trocken, hatten mitunter nur lose Zusammenhänge. Gegen Ende empfand ich Episoden auch überflüssig, hatte den Eindruck, der Autor wolle seine gesamte Recherchearbeit präsentieren.
Ehefrau Mientje ist die eigentliche Hauptfigur für mich. Sie entwickelt unvorhersehbare Stärken, findet einen Weg, sich mit ihrem schwierigen Mann zu arrangieren.

Das Buch bis zum Ende zu lesen, war anstrengend. Ich werde auf 3 Punkte kommen, weil Ich der Überzeugung bin, dass "Der Aufgang" an sich kein schlechtes Buch ist. Meine Erwartungshaltung war die falsche, wir passten nicht zusammen;)
 
Zuletzt bearbeitet:

Wandablue

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18. September 2019
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Brandenburg
Vorauszuschicken wäre, dass mir der Stil des Autors sehr gut gefällt. Ich mag auch seine etwas nüchterne Art des Erzählens.

Zu Anfang war ich begeistert, weil die Kindheit Willem Verhulst uns plastisch vor Augen stand und ich viel Empathie für ihn empfand. Gleichzeitig gefiel mir der Bezug zu dem Haus.
Im Verlauf des Buches rückte das Haus jedoch allzusehr in den Hintergrund, was ich sehr schade finde. Ich hätte es begrüßt, wenn die persönlichen Bezüge zu dem Haus weiterhin mit Verve mitbeschrieben worden wären, hätte nicht lang sein müssen, aber ich hätte wissen wollen, was der zukünftige Hausherr mit diesem "Schrotthaufen" macht und was er daraus macht, wie er darin lebt und mit wem und was es ihn gekostet hat. Ob er es geliebt hat. Dieser Teil fehlte jedoch gänzlich und führt zu Punktabzug. Und warum verkauft er das Haus, nur wegen seiner Geschichte, da kann das Haus doch nichts dafür. Warum hat er keine neue Glyzinie gepflanzt?

Den Lebensweg Willem Verhulstens und seiner Familie ist aber weiterhin überzeugend dargestellt und ich bereue nicht, etwas von ihm erfahren zu haben.
Unterm Strich bleibt mein Eindruck positiv, aber ich vergieße Krokodilstränen wegen des ausgelassenen Hausteils und wie gesagt, die volle Punktezahl gibt es dafür nicht. Der Autor fängt so persönlich an - und lässt mich nachher im Regen stehen. Das finde ich unschön.

Rezi folgt.
 

Querleserin

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30. Dezember 2015
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Wadern
querleserin.blogspot.com
Wir folgen Menschen vom Beginn ihres Lebens bis zum Ende, gleichzeitig besichtigen wir das Haus, in dem die wichtigsten Ereignisse dieser Menschen stattfanden, in der entgegengesetzten Richtung, vom Keller bis zum Dachboden. Der Aufgang, eine fließende Bewegung statt eines Spannungsbogens. Mir gefallen Romane, in deren Hintergrund Fakten stehen und besonders gut gefällt mir, wie der Autor erst später auf die Geschichte der Vorbesitzer aufmerksam wurde
Wunderbar ausgedrückt. Auch wenn der Roman gegen Ende einige Längen aufweist, kann ich die Aussage @Circlestones Books Blog unterschreiben. Ich habe den Roman gerne als Biographie gelesen, in die der Autor seine eigenen Erinnerungen einflicht. Für mich bleibt jedoch Mientje die eigentliche Hauptfigur. Ihre Güte und Warmherzigkeit steht im krassen Kontrast zu Willems fehlender Einsicht und mangelnde Reue.
 

RuLeka

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30. Januar 2018
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Hier noch ein interessanter Artikel über flämische Kollaborateure. Der zeigt, dass „ Der Aufgang“ ein wichtiger Beitrag ist zur Aufarbeitung dieses Themas in Belgien.
 

luisa_loves-literature

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9. Januar 2022
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Ich kann dem Roman leider gar nichts abgewinnen. Das vorherrschende Gefühl war das der Langeweile und da ich von Hertmans sonst keine Werke kenne, frage ich mich aufgrund dieses Textes, wo seine schriftstellerischen Qualitäten liegen sollen. Hier kommen sie nämlich wenig geschliffen daher. Das fragmentarische Erzählen gelingt nicht wirklich, der Roman ist eine Collage von Interviews, Quellen und persönlichen Eindrücken, bei Bedarf wird bisweilen mit vollen Händen in die Atmosphärekiste gegriffen und diese mit voller Wucht ausgegossen (aber natürlich immer nur begrenzt und punktuell und wenn der Text sich kurz daran erinnert, dass er ja ein literarischer Roman sein möchte), die Figuren, die auf realen Menschen basieren, sind stereotyp, einfachst gezeichnet. Eine Auseinandersetzung mit Motiven, Beweggründen und Emotionen bleibt völlig aus. Dazu wird alles in einen zu großen Kontext gesetzt und gleichzeitig werden leider abstrus anmutende Verbindungen beschworen, die eigentlich keine sind. Das wird keinen Sterneregen bei mir geben. Langeweile geht für mich gar nicht. Ich merke jetzt erst wie interessant "Der große Fehler" war...
Letztlich dürfte das Wenigste fiktional sein.
Wenn der Großteil fiktional sein sollte, dann wird der Text für mich noch weniger gut. Dann kann ich die Langeweile überhaupt nicht mehr verzeihen.... ;)
 

Wandablue

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18. September 2019
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Brandenburg
Hier noch ein interessanter Artikel über flämische Kollaborateure. Der zeigt, dass „ Der Aufgang“ ein wichtiger Beitrag ist zur Aufarbeitung dieses Themas in Belgien.
Vor diesem Hintergrund bereue ich keinen einzigen meiner vier Sterne für dieses Buch! Danke Ruth, für die Info!
 

Literaturhexle

Moderator
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2. April 2017
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Ich merke jetzt erst wie interessant "Der große Fehler" war...
Haha! Alles ist eine Frage der Perspektive und 5 mögliche Sterne sind zu wenig.
Ganz so streng wie du urteile ich nicht. Aber zum Ende hin sollte irgendwie noch alles untergebracht werden, was man so herausgefunden hatte. Der Abschnitt hat sich wirklich gezogen.

Was mir einleuchtet ist, dass das Thema in Belgien selbst gewiss mehr Aufmerksamkeit bekommt, weil es dort noch nicht so sehr bearbeitet/strapaziert wurde. Dadurch hat das Buch gewiss seine Rechtfertigung.
 

Sassenach123

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27. Dezember 2015
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Ich hätte das Buch nicht gelesen, wenn es als Biografie angepriesen worden wäre. Allerdings bin ich froh, dass ich es gelesen habe, denn ich habe sehr viel Neues erfahren. Ich fand das Leben von Willem sehr anschaulich eingebettet in die geschichtlichen Ereignisse, so dass ich einige Längen und die Tatsache, dass hier und da ein wenig Fiktion einfließt, gut verzeihen kann.

Dieses Buch spaltet scheinbar wieder einmal unsere Leserschaft, ich bin immer wieder fasziniert, wie unterschiedlich die Eindrücke zu ein und demselben Buch ausfallen können.
 

RuLeka

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30. Januar 2018
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Im Podcast vom rbb weiterlesen gibt es ein sehr interessantes Gespräch mit Stefan Hertmans zu seinem neuen Buch. Es lohnt sich, auch für die, die dem Buch kritisch gegenüberstanden.

 
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Reaktionen: Christian1977

Barbara62

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19. März 2020
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Baden-Württemberg
mit-büchern-um-die-welt.de
Ich merke jetzt erst wie interessant "Der große Fehler" war...
Es geht mir genau umgekehrt wie dir. Mit drei Sternen kam "Der große Fehler" eigentlich viel zu gut bei mir weg. Ich habe kaum etwas erfahren und das Wenige übrigens, wie ich gerade merke, schon wieder teilweise vergessen. "Der Aufgang" hat mich dagegen sehr gut über die Situation in Belgien im 20. Jahrhundert, die flämische Frage und die Kollaboration informiert. Willem Verhulst steht dabei stellvertretend für viele andere, seinen Namen werde ich mir nicht merken, aber seinen Werdegang.

Ich habe keine Langeweile empfunden und auch keine großen Schwankungen, eher einen gleichmäßigen Erzähl- und Informationsfluss. Über seine Zeit im Haus wollte Hertmans offenbar nichts erzählen, auch nicht, warum er das Haus wieder verkauft hat. Die Rückblenden laufen parallel zur Besichtigung mit dem Abnahmeprotokoll in der Hand, nicht zu seiner Zeit als Hausbesitzer.

Für die LR hatte ich mich nicht beworben, weil sich das Thema bei mir schon etwas "aufgebraucht" hat, aber auf Umwegen kam das Buch dann doch überraschend zu mir. Bereut habe ich es keineswegs. Ich werde 4 Sterne vergeben und kann es gut weiterempfehlen. 5 wären es geworden, wenn ich nicht schon viele thematisch ähnliche Bücher gelesen hätte oder wenn die Verbindung zum Haus noch etwas origineller ausgefallen wäre.
 

buchregal

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8. April 2021
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Ich bin etwas zwiespältig. Ein Roman ist es für mich nicht, eine Biografie aber auch nicht.

Der Autor Stefan Hertmans erwirbt ein heruntergekommenes Haus. Dieses Haus und die Gegend beschreibt er so bildhaft und atmosphärisch, dass er mich gleich abgeholt hatte. Doch als er auf die Geschichte der früheren Bewohner stieß, ging das leider verloren. Der Schreibstil wurde dann eher sachlich berichtend. Willem Verhulst ist ein Flame, der sich gegenüber den Wallonen benachteiligt fühlt. Er will etwas ändern in dem er provoziert und krakeelt. Als die Nazis dann stärker werden, fühlt er sich von deren Ideologie angesprochen und wird zum willigen Kollaborateur. Vorher hat er nicht viel auf die Beine gestellt, doch nun tut er alles, um dort akzeptiert zu werden und aufzusteigen. Ich denke nicht, dass er ein überzeugter Nazi ist, aber sein Tun, das Denunzieren und seine Listen, sorgen für viel Leid bei anderen Menschen. Dabei macht er sich selbst nicht die Finger schmutzig. Er ist ein unsympathischer, ich-bezogener und rücksichtsloser Mensch. Seine Frau Mien ist mitseinem Tun nicht einverstanden und findet ihren Weg, ihm Widerstand zu leisten. Den Part über sie habe ich viel lieber gelesen als den über Willem, denn sie ist eine starke Frau, die sich durchs Leben kämpft und alles für ihre Familie tut.

Mir wurde das oft zu ausschweifend beschrieben, so dass die Geschichte doch einige Längen hatte. Am Ende dagegen sind viele Informationen noch untergebracht, die dem Autor nach seinen umfangreichen Recherchen wohl erwähnenswert erscheinen.

Ein interessantes Buch, das ich vielleicht nicht mit Begeisterung, aber gerne gelesen habe.