Ich bin froh, es noch mal gelesen zu haben. Wenn man den Inhalt auf die Eckdaten runterbricht - "reicher und schöner junger Mann wünscht, dass sein Porträt an seiner Stelle altern möge, was auch geschieht; der junge Mann hat damit einen Freifahrtschein für ein lasterhaftes Leben und nutzt das auch voll aus, bis ihm beim Anblick des hässlich gewordenen Bildes graust und er das Bild und damit sich selbst vernichtet" - könnte man meinen, man habe es mit einem moralinsauren Buch zu tun. Das ist aber gar nicht der Fall. Im Gegenteil, ich fand viele der Überlegungen, die Wilde Dorian in den Mund legt, hochinteressant. Zum Beispiel der Gedanke, dass Strafe und Buße dem Menschen besser tun als Vergebung. Das erinnert mich an die Menschen, die sich selbst (wörtlich oder metaphorisch) geißeln, um sich besser zu fühlen ...
Auch sprachlich finde ich das Buch absolut überzeugend. Allerdings heißt es in dem Nachwort, das meiner Ausgabe beigegeben ist, dass Wilde nach Fertigstellung des Dorian Gray zum Schluss gekommen sei, Romanschreiben liege ihm nicht: "Ich fürchte, sie (die Erzählung) ähnelt ziemlich meinem eigenen Leben - nur Konversation und keine Handlung. Ich bringe keine Handlung zustande. Meine Personen sitzen in Fauteuils und plaudern" soll er in einem Brief geschrieben haben. Von seinem Prosawerk ist, soweit ich weiß, nur noch das Gespenst von Canterville richtig bekannt geworden.