FAZIT zu "Aufzeichnungen aus dem Untergrund"

Literaturhexle

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Wie hat euch dieser Klassiker gefallen? Bitte teilt uns euer erstes spontanes Fazit in ein paar Sätzen mit.
 

Emswashed

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Tatsächlich war ich erst einmal schockiert von den Ergüssen und Widersprüchen dieses lupenreinen Misanthropen. Ich habe hier schon seit Jahren die Brüder Karamasov ungelesen stehen und wähnte einen echten Leseschatz in meinem Regal. Doch ach, sollte das jetzt wirklich der Appetithappen zum großen Buffet sein?
Nun, nach einem Drittel wurde es besser und es kam Handlung in die Sache, die mir anfänglich doch zu sehr philiosophisch angehaucht war. Allerdings blieb mir der Protagonist zutiefst unsympathisch.
Das Nachwort von Ursula Keller knipste dann endlich das Licht in meiner Dunkelkammer an! Es IST die Vorlage für sämtliche Schurken, die folgen sollten (einschließlich einer der Karamasovs - bin gespannt). Dementsprechend hat sich Dostojewski hier ausgetobt und, unter dem Eindruck seiner Verurteilung, alles "Gemeckere" über die Welt gleich mit hinein geschrieben.

Jaha, jetzt verstehe ich das auch und allzu schlimm (lang) war es ja nun auch nicht. UND ich bin immer noch voller Begeisterung über die Ausstattung dieses Büchleins, mit sehr angenehmer Papierhaptik (und meinem Lieblingsgrün unter dem Schutzumschlag).
 

Die Häsin

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11. Dezember 2019
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Rhönrand bei Fulda
Ich denke, unser Erzähler ist eher die Vorlage für Raskolnikow.
Bei den Karamasows bin ich mir nicht sicher, ich kann mir wohl denken, welcher der Brüder gemeint ist, aber der ist viel intelligenter und reflektierter als unser Erzähler.

Die Karamasows sind übrigens ein ausgesprochener Lesegenuss; ich weiß noch, wie mich dieses Buch damals inspiriert hat. Sollte sich hier mal eine Leserunde zusammenfinden - ich habe mir die neuere Übersetzung von Swetlana Geier gekauft und noch nicht gelesen, kenne nur die alte.
 
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Emswashed

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Bei den Karamasows bin ich mir nicht sicher, ich kann mir wohl denken, welcher der Brüder gemeint ist, aber der ist viel intelligenter und reflektierter als unser Erzähler.

Zumindest behauptet das Frau Keller und ich habe es eben auch nur als Grundfigur aufgefasst, die natürlich in den Romanen variieren kann.
 

Die Häsin

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11. Dezember 2019
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Ich bin mal so frech und zitiere einen älteren Beitrag aus meinem geliebten Klassikerforum, von einem Teilnehmer namens "Thomas" (der schon lange nicht mehr aktiv ist):

>>Hier steht er bereits in früher Blüte: der Nihilist vom Stamme Zarathustras, der Übermensch Nietzsches, (...). Bedurfte es danach in Dostojewskis Werk noch eines Raskolnikow? Eines Rogoschin? Eines Stawrogin? Sie alle sind grob, aber effektiv vorgezeichnet in dem namen- und identitätslosen Autor der „Aufzeichnungen ...“, der sich aus Gründen, die wir nicht erfahren, der Menschheit überlegen glaubt. „Kann denn ein Mensch, der zur Erkenntnis gelangt ist, noch irgendwelche Selbstachtung besitzen?“ Es blieb allerdings den Figuren der Nachfolgewerke vorbehalten, dieses Denken in Handlungen zu überführen.<<

Eine kluge Analyse, wie ich finde. (Rogoschin ist eine Figur aus "Der Idiot", Stawrogin der Schurke aus "Die Dämonen". Ich hätte jetzt fast geschrieben, es sind Schurkenfiguren, aber wohl eher Getriebene.)
 

Emswashed

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Sollte ich es dann lieber als Vorwort lesen? Ich habe ja noch die Wahl...

Och nö, eigentlich nicht, denn so kann man erst einmal unvoreingenommen seinen eigenen Gefühlen freien Lauf geben. Kellers Nachwort ist dann sowas wie Erlösung! ;)

Außerdem gibts dann noch eine Auflösung einer kleinen Ungereimtheit, wo ich eigentlich selber hätte draufkommen können. Scherlock Holmes hätte es sofort bemerkt.:cool:
 
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kingofmusic

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UND ich bin immer noch voller Begeisterung über die Ausstattung dieses Büchleins, mit sehr angenehmer Papierhaptik (und meinem Lieblingsgrün unter dem Schutzumschlag).
Da bin ich absolut bei Dir! Die Manesse-Bibliothek ist wirklich was feines und ich freue mich schon auf die Ausgabe von Mrs. Dalloway im nächsten Jahr ;) (die doch hoffentlich hier zum Zuge kommt, @Literaturhexle :D).
 

kingofmusic

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30. Oktober 2018
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Nun, wie schon häufig angedeutet wurde: Die Aufzeichnungen sind wahrlich keine Wohlfühllektüre und psychisch labilen Menschen gegenüber würde ich das Buch auch nie als Literaturtipp oder -empfehlung feilbieten. Und doch hat mich Dostojewski im 2. Teil der Aufzeichnungen irgendwann "abgeholt". Seine Weitsicht bzgl. der Situation von Frauen im Bordell hat mich fasziniert.
Und auch das Nachwort von Frau Keller fand ich bei der Einordnung in Dostojewski´s Werk höchst aufschlussreich. Hinzu kommt die (wie ich finde) großartige Übersetzung und die wunderschöne Aufmachung. Ich denke, trotz der vielen Schwierigkeiten, die ich im Lauf der Lektüre hatte, werde ich 4* aus dem Untergrund ziehen und die Aufzeichnungen garantiert noch einmal lesen.
 

RuLeka

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Ich hatte meine Schwierigkeiten mit dem Buch, dabei war meine Vorfreude so groß. Es hat mich im Nachhinein auch noch beschäftigt, so dass ich einiges zum Buch gelesen habe. Mir wurde dadurch zwar manches klarer, doch Freude am Buch hat es mir auch nicht gebracht.
Vielleicht ertrage ich z.Z., wo das Geschrei so vieler „Wutbürger“ so laut ist, nicht noch einen, der beständig den Zustand der Welt beklagt, die Schlechtigkeit der Mitmenschen betont, selbst aber unfähig ist zu jeglichem Mitgefühl und Verständnis.
Deshalb hat es nur zu drei Punkten gereicht, obwohl ich weiß, dass Dostojewski ein großer Schriftsteller ist.
 

Literaturhexle

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2. April 2017
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Also ein Lesegenuss sieht sicherlich anders aus. Ich verbuche das Büchlein unter Erweiterung meiner Allgemeinbildung;). Wobei mich der zweite Teil des kleinen Romans deutlich stärker fesseln konnte als der erste - sie gehören aber beide zusammen. Vieles habt ihr oben schon erwähnt.

Die Sprache Dostojewskis hat mich allerdings durchgehend beeindruckt: Die Befindlichkeiten unseres Antihelden und Misanthropen muss man erstmal in dieser Ausführlichkeit und Vielfältigkeit ausdrücken können. Ein Riesenlob an die Übersetzerin, der es gelungen ist, den Text ohne Stolpersteine und mit zahlreichen hilfreichen Anmerkungen versehen ins Deutsche zu übertragen. Auch das verständlich gehaltene Nachwort hilft bei der Einordnung dieses Romans in das Gesamtwerk des großen Autors, das ich definitiv noch besser kennenlernen möchte.

Ein Dank an den Manesse-Verlag, weil er diese wertigen, liebevoll gestalteten Klassiker-Ausgaben herausbringt, die das bibliophile Herz höher schlagen lassen. Die Ausstattung verdient mindestens 5 Sterne;)

 
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RuLeka

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30. Januar 2018
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Ein Riesenlob an die Übersetzerin, der es gelungen ist, den Text ohne Stolpersteine und mit zahlreichen hilfreichen Anmerkungen versehen ins Deutsche zu übertragen. Auch das verständlich gehaltene Nachwort hilft bei der Einordnung dieses Romans in das Gesamtwerk des großen Autors, das ich definitiv noch besser kennenlernen möchte.

Ein Dank an den Manesse-Verlag, weil er diese wertigen, liebevoll gestalteten Klassiker-Ausgaben herausbringt, die das bibliophile Herz höher schlagen lassen. Die Ausstattung verdient mindestens 5 Sterne;)
Dem Lob an verschiedene Seiten möchte ich mich anschließen. Die Übersetzung liest sich flüssig; die vielen Anmerkungen und das Nachwort sind hilfreich bei der Einordnung des Buches.
Und die Ausstattung ist so, wie ich es vom Manesse - Verlag gewohnt: exzellent!
 

Die Häsin

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11. Dezember 2019
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Mich hat das Büchlein angeregt, mich wieder mit Dosti zu beschäftigen - ich habe mir die Karamasows auf die überquellende Leseliste für 2022 gesetzt.
Die Aufzeichnungen aus dem Untergrund sind keine leichte oder angenehme Lektüre, darin sind wir uns wohl alle einig. Als Psychogramm finde ich diese Wutrede des ersten Teils aber durchaus aktuell. Wir begegnen ja gerade jetzt auch wieder Menschen, die sozusagen gegen alles sind und ziellos draufloswüten, ohne auf den Punkt bringen zu können, wogegen sie eigentlich genau sind - mehr oder weniger gegen alles, sie fühlen sich machtlos gegenüber der Obrigkeit, nicht genügend beachtet, haben das Gefühl, nichts ausrichten zu können ... Wutbürgertum vom Feinsten.
 

Sassenach123

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27. Dezember 2015
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Die Meinungen hier sind ja wirklich zweigeteilt. Ich muss mich leider bei den Nörglern einreihen. Mir war es einfach zu hoch, meine Denkweise scheint mit diesem Werk nicht kompatibel zu sein;)
Dennoch war es nicht ganz umsonst, es ist trotzdem ein schönes Gefühl so einen Klassiker selbst gelesen zu haben.
Vielleicht kommt ja irgendwann ein zweiter Anlauf, der mir mehr Erkenntnisse bringt.
Die wundervolle Ausgabe bekommt einen Platz im Regal, so oder so