FAZIT und NACHWORT zu "Der Keim"

Die Häsin

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11. Dezember 2019
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Rhönrand bei Fulda
Ich habe mir die Rezension endlich abgerungen. Gerungen deshalb, weil ich - zu meinem eigenen Erstaunen - das Buch als etwas schwierig zu lesen empfunden habe. Es ist seltsam, weil Kumpfmüller gleich am Anfang seines Nachworts so betont, wie mühelos man dieses Buch lesen könne. Bei mir hat es nicht gestimmt.

Mag sein, dass ich den falschen Ansatz hatte und es zu spät merkte. Wie ich schon erwähnte (ich glaube, im letzten LA sprach ich es an), habe ich das Gefühl, in eine Denkfalle getappt zu sein, weil ich das Buch zu sehr vom Rechtsstandpunkt aus gelesen habe. Es geht um zwei Gewalttaten, wobei die zweite immerhin so zu erklären ist, dass die Inselgemeinschaft meinte, das Recht selbst in die Hand nehmen zu dürfen. Dass sie das hinterher als Irrweg erkennen, ändert nichts daran, dass sie sich zunächst subjektiv als Verfolger ihres Rechts aufmachen, während sich die erste Tat jeder Deutung entzieht; dafür sorgt der Erzähler. Als ehemalige Juristin hat es mich insbesondere gereizt und geärgert, wie die Dorfgemeinschaft hier den Bruder des ermordeten Mädchens zum Haupttäter erklärt, als ob alle anderen nur mitgelaufen seien, um zu sehen, was passiert.

Erst auf den letzten Seiten verschob sich (nach meinem persönlichen Leseverständnis) der Schwerpunkt des Erzählten auf die individuelle Auseinandersetzung mit Schuld und Gewissen - im moralischen, nicht juristischen Sinn. Da mag der Schwerpunkt schon die ganze Zeit gelegen haben und mir ist es bloß entgangen, dass es so war. Das ist es, was ich mit Denkfalle meine. Ich habe vermutlich falsch gelesen und sollte mit einem weniger vorurteilsbelasteten Zugang nochmal von vorn beginnen. Das werde ich auch machen, mit etwas Abstand.

Dass ich nicht die volle Punktzahl gegeben habe, liegt nicht am Inhalt, sondern daran, das ich wie gesagt das Lesen als mühsam empfunden habe, und zwar von dem Moment an, als der Fremde auftaucht. Die ersten Seiten haben mich begeistert - zum Beispiel die Stelle auf S. 12: "Der Schweinestall war Teil einer großen, rot gestrichenen Scheune ..." und dann fährt die Kamera gleichsam zurück, wir sehen die Scheune im Hof, den Hof auf der Insel, die Insel in der Bucht (wäre es ein Film, sähen wir als nächstes ein Luftbild). Solche Einzelheiten begeistern mich. Die Charaktere haben mich dagegen nicht so recht mitnehmen können; dass der Täter im Nachwort als Wiedergänger Jesu interpretiert wird, finde ich fast schon komisch.

Ich kritisiere hier auf allerhöchstem Niveau, nur um zu begründen, warum ich mich nicht zur Höchstpunktzahl durchringen konnte.
 

Irisblatt

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15. April 2022
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Mag sein, dass ich den falschen Ansatz hatte und es zu spät merkte. Wie ich schon erwähnte (ich glaube, im letzten LA sprach ich es an), habe ich das Gefühl, in eine Denkfalle getappt zu sein, weil ich das Buch zu sehr vom Rechtsstandpunkt aus gelesen habe.
Das hängt bestimmt mit deinem beruflichen Hintergrund zusammen. Interessant, ich wäre überhaupt nicht auf die Idee gekommen, es so zu lesen.
 

Barbara62

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19. März 2020
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Als ehemalige Juristin hat es mich insbesondere gereizt und geärgert, wie die Dorfgemeinschaft hier den Bruder des ermordeten Mädchens zum Haupttäter erklärt, als ob alle anderen nur mitgelaufen seien, um zu sehen, was passiert.
Damit liegen sie doch aber genau auf der Linie des späteren Gerichtsurteils: Verurteilt werden wird nur Rolv.
 
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Literaturhexle

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2. April 2017
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Verurteilt werden wird nur Rolv.
Das bleibt doch im Grunde auch offen. Wenn er mit dem Messer zugestochen hat, ist es wahrscheinlich, dass er auch für den Tod verantwortlich ist. Die anderen haben höchstens Beihilfe geleistet. Aber das wissen wir nicht. Das ist nicht Kern des Buches.

@Die Häsin : bleibt man nicht sein Leben lang Juristin, auch wenn man Rentnerin ist? Das kann man doch nicht abstreifen wie ein Hemd;)
 

Die Häsin

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11. Dezember 2019
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@Die Häsin : bleibt man nicht sein Leben lang Juristin, auch wenn man Rentnerin ist? Das kann man doch nicht abstreifen wie ein Hemd;)
Das gilt wohl eher für den Lehrerberuf ... :rofl

Ich habe den Beruf nicht lange ausgeübt. Ein paar Umverdrahtungen im Hirn sind mir aber leider geblieben.
 

Federfee

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13. Januar 2023
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Vor drei Tagen habe ich der Bibliothek vorgeschlagen, das Buch von Teresa Reichl anzuschaffen - nicht weil ich es lesen möchte, sondern weil es für eine bestimmte Zielgruppe wichtig sein könnte.
Wenn es junge Leute zum Lesen bringt, wäre es gut. Ich würde es sogar lesen, mich wahrscheinlich über die Sprache ärgern, aber vielleicht auch ein paar gute Gedanken finden ;-) Kaufen würde ich es allerdings NIE.
 

Die Häsin

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11. Dezember 2019
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Wenn es junge Leute zum Lesen bringt, wäre es gut. Ich würde es sogar lesen, mich wahrscheinlich über die Sprache ärgern, aber vielleicht auch ein paar gute Gedanken finden ;-) Kaufen würde ich es allerdings NIE.
Ich habe die Leseprobe angelesen. Um es mit Göde zu sagen: Hier wendet sich der Gast mit Grausen. Aber ich bin ja quasi das Gegenteil der angepeilten Zielgruppe; diese besteht aus jungen Nichtlesern, ich bin eine alte Leserin. Wenn sie damit die Kids ans Buch bringt, tut sie was Gutes.
 

Die Häsin

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11. Dezember 2019
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Rhönrand bei Fulda
Ich habe die Leseprobe angelesen. Um es mit Göde zu sagen: Hier wendet sich der Gast mit Grausen. Aber ich bin ja quasi das Gegenteil der angepeilten Zielgruppe; diese besteht aus jungen Nichtlesern, ich bin eine alte Leserin. Wenn sie damit die Kids ans Buch bringt, tut sie was Gutes.
Nachtrag: der mit dem Gast war Schiller, nicht Göde. Ich hab's nachgearbeitet. Die Zeile stammt aus "Der Ring des Polykrates".
Sprach's und schiffte schnell sich ein. :cool:
 

Sassenach123

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27. Dezember 2015
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Ein Roman, der mir sehr gefallen hat, auch wenn einiges nicht immer klar rüberkommt. Die Bezüge zur NS-Zeit kann man hineininterpretieren, man kann ihn allerdings auch lesen ohne überhaupt einen Bezug dazu herzustellen.
Am besten gefallen hat mir die Stimmung die während des gesamten. Joches vorherrscht. Ich habe bisher noch nichts vergleichbares gelesen und kann mir gut vorstellen, weitere Titel des Autors zu lesen.