FAZIT über den Roman als Ganzes

Literaturhexle

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2. April 2017
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Wie hat euch der Roman gefallen? Was habt ihr als besonders gut oder schlecht empfunden?
Hat das kurze Nachwort des Autors etwas zum Verständnis beigetragen?
 

Circlestones Books Blog

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28. Oktober 2018
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Das Nachwort erklärt, warum er die Geschichte aus Sicht einer direkt betroffenen Figur erzählt. Gerade dadurch konnte diese Machtlosigkeit der Menschen gegenüber einem nach Kriegsende unter Schweizer Interessen und mit unerschöpflichen Schweizer Fördermitteln arbeitenden Großkonzern Montecatini (später nach der Fusion mit Edison als Chemiekonzern Montedison in Mestre für zahlreiche Umweltverfahren im Zusammenhang mit der Lagune von Venedig verantwortlich) so direkt und mit realtiv einfachen Worten geschildert werden, und umso stärker die Gefühle, was es für die Bauern bedeutete, ihr Land als Lebensgrundlage für ihr einfaches Leben zu verlieren. Betrogen durch die falsche Angabe der Tiefe des geplanten Stausees und durch lächerliche Abfertigungen. Wichtig ist auch der in der Danksagung erwähnte Lehrer Ludwig Schöpf, der zwar kein Zeitzeuge ist, aber seither diese Geschichte davor bewahrt, vergessen zu werden. Dieser Turm im See ist mehr als ein originelles Fotomotiv, ich habe durch diesen Roman sehr viel darüber erfahren. Mich hat die Figur der Trina nicht immer begeistert, weil sie für mich auf dem Klappentext Rückseite als starke Frau, die bis zuletzt aktiv Widerstand leistet, beschrieben ist, das sah ich nicht ganz so. Im gefährlichen, heimlichen Unterricht als junge Lehrerin hat sie tatsächlich noch agiert, mit den Jahren aber nur mehr reagiert, nicht sie entscheidet sich zu bleiben, sondern ihr Ehemann Erich, sie folgt ihm auf der Flucht vor den Nazis, sie verfasst die Briefe und Schriftstücke an die diversen Obrigkeiten bis zum Papst, als es um die Verhinderung des Staudammes geht. Wo ihre Mutter sich in die Arbeit flüchtet, um nicht nachdenken zu müssen, flüchtet sie sich in das Schreiben. Da ich generell immer vorrangig an der Geschichte interessiert bin, die mir ein Autor*in erzählen will, und weniger an den Figuren, ändert das für mich nichts an meiner Meinung zu diesem Roman. Vielleicht wird für mich gerade durch diese beiden Frauenfiguren, die Mutter, die arbeitet, um nicht nachdenken zu müssen und Trina, die sich ins Schreiben rettet, die zornige, aber ohnmächtige Hilflosigkeit der Menschen gegenüber der Obrigkeit und ihrem Schicksal noch ingensiver spürbar. Wichtig am Rande auch die nächste, junge Generation, Marica, die fortgeht, ohne jemals wieder "zurückzublicken".
 

Anjuta

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8. Januar 2016
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Das Nachwort erklärt, warum er die Geschichte aus Sicht einer direkt betroffenen Figur erzählt.
Das habe ich auch aus dem starken Nachwort entnommen.
[zitat]Hätte ich nicht sofort den Eindruck gehabt, hier eine private und persönliche Geschichte anzusiedeln, in der sich die historischen abläufe spiegeln und die die Möglichkeit bot, ganz allgemein über Verantwortungslosigkeit, über Grenzen, über Machtmissbrauch und die Bedeutung des Wortes zu sprechen, dann hätte ich, trotz der Faszination, die dieser Ort auf mich ausübt, nicht genug Interesse aufgebracht... Auch ich wäre stehen geblieben und hätte mit offenem Mund den Kirchturm bestaunt, der auf dem Wasser zu schwimmen scheint.[/zitat]
Und so hat uns Balsano mit seinem Buch die Möglichkeit geboten, eine touristische Attraktion mit ihm gemeinsam nicht als Touristen zu bestaunen, sondern in ihrer Bedeutung für ganz essenzielle Werte des Lebens zu begreifen.
Diese Aufgabe hat er nicht nur sehr gut als solche erkannt, sondern er hat sie auch sehr gut gelöst. Bei mir jedenfalls hat es geklappt. Jetzt muss ich nur noch den Kirchturm auch mal in echt sehen und werde sicher mit ganz merkwürdigen Gefühlen davor stehen, nicht wissend, wie ich mich angemessen zu verhalten habe, um seiner Geschichte und Bedeutung gerecht zu werden.
Also: ein aufrüttelndes Buch, dessen Nachwirkungen ich unbedingt irgendwann mal vor Ort nachspüren möchte!
 

ulrikerabe

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14. August 2017
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Das habe ich auch aus dem starken Nachwort entnommen.
[zitat]Hätte ich nicht sofort den Eindruck gehabt, hier eine private und persönliche Geschichte anzusiedeln, in der sich die historischen abläufe spiegeln und die die Möglichkeit bot, ganz allgemein über Verantwortungslosigkeit, über Grenzen, über Machtmissbrauch und die Bedeutung des Wortes zu sprechen, dann hätte ich, trotz der Faszination, die dieser Ort auf mich ausübt, nicht genug Interesse aufgebracht... Auch ich wäre stehen geblieben und hätte mit offenem Mund den Kirchturm bestaunt, der auf dem Wasser zu schwimmen scheint.[/zitat]!
Genau das habe ich mir auch notiert.

Und ich denke, dass Balzano diese Geschichte äußerst gut gelungen ist.
 

ulrikerabe

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14. August 2017
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Aus einem Interview mit dem Autors: [zitat]Ein Schriftsteller muss immer versuchen, das Schweigen zum Reden zu bringen, das ist die größte Herausforderung. Ein Schweigen, dem es gelingt, das auszudrücken, was man nicht sagen kann, das, wofür die Wörter nicht genügen. In „Ich bleibe hier“ wollte ich eine Frau darstellen, die an das Wort als Mittel zum Widerstand glaubt. Auch als das Wasser das Dorf überflutet, auch als Trina alles verliert, auch als sie besiegt ist, bleiben ihr die Worte. Und solange wir die Möglichkeit haben, sie auszusprechen, haben wir nicht alles verloren.[/zitat]

Das ganze Interview: https://www.buchkultur.net/marco-balzano/
 

Querleserin

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30. Dezember 2015
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Dass Balzano das "Schweigen zum Reden" bringen will, dies ist ihm mit diesem Roman gelungen. Sowohl die Situation der Südtiroler, die im Dilemma zwischen Bleiben oder Gehen standen, deren kulturelle Identität Spielball der politischen Kräfte geworden ist, das hat er eindrücklich dargelegt.
Aber auch, wie machtlos die Bewohner Grauns gegenüber den ökonomischen Interessen des Konzerns Montecatini gewesen sind. Da nutzen auch die geschriebenen Worte Trinas nicht mehr.
Und so hat uns Balsano mit seinem Buch die Möglichkeit geboten, eine touristische Attraktion mit ihm gemeinsam nicht als Touristen zu bestaunen, sondern in ihrer Bedeutung für ganz essenzielle Werte des Lebens zu begreifen.
Das ist ihm wahrlich gelungen! Es ist weitaus mehr als nur ein Fotomotiv für ein Selfie.

Jetzt muss ich nur noch den Kirchturm auch mal in echt sehen und werde sicher mit ganz merkwürdigen Gefühlen davor stehen,
Ich bin vor zwei Jahren dort gewesen und obwohl ich wenig über seine Geschichte wusste, hatte ich keine Lust auszusteigen. Der Touristenstrom davor ekelte mich regelrecht an, intuitiv war mir bewusst, dass einst Menschen an diesem Ort gewohnt haben, die von den Wassermassen vertrieben wurden. Insofern hat mich besonders Balzanos Nachwort angesprochen.
Insgesamt fand ich trotzdem den letzten Teil am schwächsten und ich hätte gerne gewusst, was aus Marcia geworden ist...
 

Literaturhexle

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Mich hat die Figur der Trina nicht immer begeistert, weil sie für mich auf dem Klappentext Rückseite als starke Frau, die bis zuletzt aktiv Widerstand leistet, beschrieben ist, da
Das ist genau der Grund, warum ich Klappentexte und Rezensionen vor dem unmittelbaren Lesen eines Buches meide. Die Klappentexte sind Werbefläche und dienen dem Verkauf. Zuweilen wird zuviel vom Inhalt preisgegeben, zuweilen werden falsche Erwartungen geschürt.

Trina war anfangs stark, als sie trotz aller Widerstände die Kinder im Untergrund unterrichtete. Mit ihrer Heirat hat sie sich an Erich angepasst. Vielleicht hat der Verlust der Tochter ihr aber auch sprichwörtlich das Rückgrat gebrochen.
 

Literaturhexle

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Hätte ich nicht sofort den Eindruck gehabt, hier eine private und persönliche Geschichte anzusiedeln, in der sich die historischen abläufe spiegeln und die die Möglichkeit bot, ganz allgemein über Verantwortungslosigkeit, über Grenzen, über Machtmissbrauch und die Bedeutung des Wortes zu sprechen, dann hätte ich, trotz der Faszination, die dieser Ort auf mich ausübt, nicht genug Interesse aufgebracht... Auch ich wäre stehen geblieben und hätte mit offenem Mund den Kirchturm bestaunt, der auf dem Wasser zu schwimmen scheint
Ich finde auch, dass dies Balzano sehr gut gelungen ist. Das persönliche Schicksal macht die Tragweite einfach greifbar. Es ist ihm gelungen, eine spannende Geschichte zu schreiben, ohne jemals ins Triviale oder Tränendrüsige abzugleiten. Mich hat der Roman sehr beeindruckt und ich möchte diesen Turm auch mal sehen. Dabei schließe ich nicht aus, dass mich dieselben Gefühle heimsuchen könnten, die @Querleserin geschildert hat.
 

Literaturhexle

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2. April 2017
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Bedenken muss man, dass es auch hierzulande eine Menge Stauseen und gestaute Flüsse gibt, die bestimmt auch Häuser unter sich begraben haben. Empörend ist in diesem Falle die mangelnde Aufklärung und Entschädigung der Betroffenen.
Seltsam empfinde ich, dass die Kirche "aus Gründen des Denkmalschutzes" stehen blieb - und dadurch ein dauerhaftes, imposantes Mahnmal bleibt. Richtig logisch ist das ja nicht: Was soll eine denkmalgeschützte Kirche im Wasser?
 

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Bedenken muss man, dass es auch hierzulande eine Menge Stauseen und gestaute Flüsse gibt, die bestimmt auch Häuser unter sich begraben haben. Empörend ist in diesem Falle die mangelnde Aufklärung und Entschädigung der Betroffenen.
Seltsam empfinde ich, dass die Kirche "aus Gründen des Denkmalschutzes" stehen blieb - und dadurch ein dauerhaftes, imposantes Mahnmal bleibt. Richtig logisch ist das ja nicht: Was soll eine denkmalgeschützte Kirche im Wasser?
Die Kirche aus dem 14. Jahrhundert stand nicht unter Denkmalschutz, nur der Kirchturm. Daher durfte die Kirche gesprengt werden, was auch getan wurde, aber das Denkmalamt wollte den Kirchturm als Erinnerung erhalten, bezeichnete ihn als Kunstwerk und gewann ein Verfahren gegen Montecatini. Balzano hat ja nur einige wenige Schicksale herausgegriffen, tatsächlich war Graun damals ein Bauerndorf etwa 100 Höfen mit großen landwirtschaftlichen Flächen für ihre Viehzucht und die Menschen konnten von der Landwirtschaft leben. Ob es für die betroffenen Menschen und ihre Nachfahren hilfreich ist, den Turm als Erinnerung stehen zu lassen, kann ich nicht beurteilen, auf jeden Fall ist es das Wahrzeichen des Vintschgaus geworden und eine Touristenattraktion, was so sicher nicht gedacht war.
 

Literaturhexle

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Die Kirche aus dem 14. Jahrhundert stand nicht unter Denkmalschutz, nur der Kirchturm. Daher durfte die Kirche gesprengt werden, was auch getan wurde, aber das Denkmalamt wollte den Kirchturm als Erinnerung erhalten, bezeichnete ihn als Kunstwerk und gewann ein Verfahren gegen Montecatini. Balzano hat ja nur einige wenige Schicksale herausgegriffen, tatsächlich war Graun damals ein Bauerndorf etwa 100 Höfen mit großen landwirtschaftlichen Flächen für ihre Viehzucht und die Menschen konnten von der Landwirtschaft leben. Ob es für die betroffenen Menschen und ihre Nachfahren hilfreich ist, den Turm als Erinnerung stehen zu lassen, kann ich nicht beurteilen, auf jeden Fall ist es das Wahrzeichen des Vintschgaus geworden und eine Touristenattraktion, was so sicher nicht gedacht war.
Danke für deine Recherchen! Sie waren sehr hilfreich.
 
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kingofmusic

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30. Oktober 2018
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Kurz gesagt: starker Roman mit einer kompakten Geschichtsvermittlung! Mehr dazu später, wenn ich eine größere Tastatur vor mir habe. :cool:
 

KrimiElse

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26. Januar 2019
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Das ist genau der Grund, warum ich Klappentexte und Rezensionen vor dem unmittelbaren Lesen eines Buches meide. Die Klappentexte sind Werbefläche und dienen dem Verkauf. Zuweilen wird zuviel vom Inhalt preisgegeben, zuweilen werden falsche Erwartungen geschürt.

Trina war anfangs stark, als sie trotz aller Widerstände die Kinder im Untergrund unterrichtete. Mit ihrer Heirat hat sie sich an Erich angepasst. Vielleicht hat der Verlust der Tochter ihr aber auch sprichwörtlich das Rückgrat gebrochen.
Ich habe den Klappentext zuvor auch nicht noch einmal gelesen. Und das war gut so.
Ich sehe es wie du, dass Trina mit dem (vielleicht freiwilligen Weggang ihrer Tochter zerbrochen ist und sich nur mit großer Mühe wieder aufgerichtet hat. Vieles ist ihr egal und erscheint dunstig, besonders im Angesicht der immer größeren Verluste. Sie ist für mich eine erstaunlich lebenspralle Figur (auch wenn sie von Resignation und Verzweiflung geprägt ist), der Autor schafft es unglaublich gut, ihre Gefühle ohne großes pathetisches Gerede zu transportieren.
 

KrimiElse

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26. Januar 2019
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Bedenken muss man, dass es auch hierzulande eine Menge Stauseen und gestaute Flüsse gibt, die bestimmt auch Häuser unter sich begraben haben. Empörend ist in diesem Falle die mangelnde Aufklärung und Entschädigung der Betroffenen.
Seltsam empfinde ich, dass die Kirche "aus Gründen des Denkmalschutzes" stehen blieb - und dadurch ein dauerhaftes, imposantes Mahnmal bleibt. Richtig logisch ist das ja nicht: Was soll eine denkmalgeschützte Kirche im Wasser?
Am Ende wollte die Regierung nicht die Sprengung des Kirchturmes zulassen, das wäre vielleicht doch zu symbolträchtig gewesen, und der Denkmalschutz war nur ein Vorwand.
 

KrimiElse

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26. Januar 2019
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Die Kirche aus dem 14. Jahrhundert stand nicht unter Denkmalschutz, nur der Kirchturm. Daher durfte die Kirche gesprengt werden, was auch getan wurde, aber das Denkmalamt wollte den Kirchturm als Erinnerung erhalten, bezeichnete ihn als Kunstwerk und gewann ein Verfahren gegen Montecatini. Balzano hat ja nur einige wenige Schicksale herausgegriffen, tatsächlich war Graun damals ein Bauerndorf etwa 100 Höfen mit großen landwirtschaftlichen Flächen für ihre Viehzucht und die Menschen konnten von der Landwirtschaft leben. Ob es für die betroffenen Menschen und ihre Nachfahren hilfreich ist, den Turm als Erinnerung stehen zu lassen, kann ich nicht beurteilen, auf jeden Fall ist es das Wahrzeichen des Vintschgaus geworden und eine Touristenattraktion, was so sicher nicht gedacht war.
Danke fürs Erhellen. Vielleicht auch ein letzter Versuch, die Flutung zu verhindern?
 

KrimiElse

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26. Januar 2019
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Mir hat der Roman sehr gut gefallen, zum einen wegen der interessanten Geschichte, die spannend und für mich äußerst glaubhaft erzählt wurde, und zum anderen wegen der hervorragenden Zeichnung des Charakters Trina. Mit wenigen einfachen Worten schafft Balzano, mir Gefühle zu vermitteln und im Hintergrund Geschehnisse zu zeigen, das gefällt mir ganz ausgezeichnet. Ich mag auch das offene Ende, hier kommt noch einmal mit aller Deutlichkeit hervor, was Trina eigentlich alles verlor, ohne Ersatz und ohne wirkliche Hoffnung auf Neuanfang.