Thema "Die Unschuldigen" von Michael Crummey

Literaturhexle

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Der elfjährige Evered und seine zwei Jahre jüngere Schwester Ada wachsen unter kargen Bedingungen auf. Sie sind die Kinder von Fischern, die allein inmitten der kanadischen Wildnis leben. Als ihre Eltern sterben, sind die Geschwister auf sich allein gestellt; sie wissen nur das von der Welt, was sie von Mutter und Vater gelernt haben. Also führen sie deren hartes Leben nach Kräften weiter. Bis die Loyalität der Geschwister auf die Probe gestellt wird und sie für ihre Zukunft kämpfen müssen. (Klappentext)

Gerade habe ich das Buch ausgelesen und möchte das Gespräch mit anderen Lesern suchen. Es wäre schön, wir könnten uns ein wenig darüber austauschen;)

@RuLeka @Barbara62 @Yolande und alle anderen
 

Literaturhexle

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2. April 2017
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Ich habe den Roman aufgrund eurer Empfehlungen auf meine WuLi gesetzt - und mein Wunsch wurde erhört:)

Vieles an dem Buch ist einzigartig: Konsequent wird aus den Perspektiven der beiden Kinder erzählt, ohne dabei kindisch zu sein. Nur die Naivität, das Unschuldige, ist zu spüren. So richtig Kind sind sie unter den rauhen Bedingungen wohl auch nie gewesen - sonst wären sie nicht in der Lage mit 9/11 Jahren sich selbst über Wasser zu halten.

Schon während der ersten Seiten hat mich ein Schock ereilt (ich meide Klappentexte): Zuerst der Tod des Babys, dann der Mutter, dann des Vaters.... Alles so realistisch beschrieben, dass ich meinen ersten Kloß im Hals hatte. Die Geschwister wurschteln weiter. Die "Hope" als das einzige Tor zur Außenwelt. Man hat nicht das Gefühl, dass der Beadle ehrlich mit Evered umgeht, aber man weiß es letzten Endes nicht. Vielleicht sind die Zeiten wirklich so hart, dass man sich keine Wohlfahrt leisten kann. Vom Nachbarort erfährt man nur wenig.

Diese komplette Isolation der Kinder empfand ich als bedrückend, auch wenn die Beschreibungen der Naturgewalten, der Jagd (auch da musste ich schlucken, man denke nur an das Bärenkind, dem die Augen weggeschossen werden...), der Nahrungsbeschaffung etc. wirklich herausragend sind.
Immer, wenn sie wieder Besucher hatten, spürte man, wie sie aufblühen, wissbegierig deren Geschichten lauschen und Neues hinzulernen wollen. Ich hatte fest gehofft, dass sich etwas an der grundlegenden Situation der Geschwister ändern würde.... Die Gespräche mit der toten Schwester ließen tief blicken, das Sammeln der Kuriositäten und Naturschätze, diese grenzenlose Einsamkeit. Das alles schmerzte mich beim Lesen.

Dass die aufkeimende Sexualität einen solch großen Raum einnimmt, hatte ich ebenfalls nicht erwartet. Dennoch war es gut gemacht und beschrieben. Es ist durchaus möglich, dass aus Mangel an Gelegenheit der Bruder/die Schwester Ziel der Triebe wird. Man hat darüber ja schon gelesen. Am Ende die Schwangerschaft. Völlig unwissend sind sie da hinein geschlittert. Die Eltern habe ihre Kinder trotz vorbereitender Krankheit nicht vorbereitet auf den Unbill des Lebens. Das wird der Zeit geschuldet sein, aber auch der Hoffnung, dass man doch überleben wird. Als Mutter/vater wird man den baldigen Tod wegschieben, wenn man die Kinder so schlecht versorgt weiß.

Ich bin also ziemlich deprimiert aus dem Buch ausgestiegen. Wohl wissend, dass es wunderbar geschrieben ist und jede genannte Auszeichnung verdient hat. Aber es ist so traurig. Bis zum Ende bleibt der Autor Realist: Natürlich hat die kleine Martha Fehlbildungen, weil Bungs ja eben nicht der Vater ist... Aber auch diese Zusammenhänge sind den Geschwistern unbekannt. Der Titel "Die Unschuldigen" trifft es sehr genau.

Wie geht/ging es euch damit?
 

RuLeka

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30. Januar 2018
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Ich habe das Buch im Krankenhaus gelesen und dachte ständig, was haben Generationen vor uns aushalten müssen, mit welchen Schicksalsschlägen leben, wieviel Not erfahren ( da ist so eine Knie- OP ein Klacks dagegen).
Dabei haben wir es hier mit einer speziellen Extremsituation zu tun. Die Vorstellung, dass Kinder allein in einer so unwirtlichen Umgebung überleben sollen, erscheint uns unvorstellbar. Das Leben war ja schon hart genug für die Eltern.
Dass die aufkeimende Sexualität einen solch großen Raum einnimmt, hatte ich ebenfalls nicht erwartet.
Inspiriert wurde der Autor durch ein tatsächliches Ereignis, wo ein Geschwisterpaar in der Einsamkeit ein Kind bekam. Beide, v.a. der Junge waren ja in dem Alter, wo die Sexualität einen immer größeren Raum einnimmt. Und beide ahnen ja, dass es irgendwie nicht richtig sein kann, was sie tun.
. So richtig Kind sind sie unter den rauhen Bedingungen wohl auch nie gewesen - sonst wären sie nicht in der Lage mit 9/11 Jahren sich selbst über Wasser zu halten.
Die Kindheit früherer Zeiten, vor allem bei armen Menschen, hat wenig zu tun mit dem, was wir heute unter Kindheit verstehen. Früh arbeiten zu müssen war da eine Selbstverständlichkeit.
Mich hat das Buch in Ansätzen, was die Landschaft und die Arbeit betrifft, an Roy Jacobson „ Die Unsichtbaren“ erinnert. Der Roman spielt auf einer Insel in Norwegen. Hier lebt zu Anfang / Mitte des letzten Jahrhunderts nur eine Familie, hauptsächlich von der Fischverarbeitung und einem kleinen Stück Land.
Ja, „Die Unschuldigen“ ist ein trauriges Buch, gleichzeitig erzählt es aber von der Kraft des Menschen. Für mich hat hier alles gepasst: die Figuren, die großartige Landschaft, die Geschichte an sich. Tolles Buch, sehr gut erzählt.
 

Literaturhexle

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Ich habe das Buch im Krankenhaus gelesen und dachte ständig, was
Vielleicht ist das der richtige Ort für solch einen Roman? Da ist die Grundstimmung sowieso schon bedächtig;)
Inspiriert wurde der Autor durch ein tatsächliches Ereignis, wo ein Geschwisterpaar in der Einsamkeit ein Kind bekam.
Ja, das habe ich auch recherchiert. Unglaublich, wie es manchmal zu schriftstellerischen Inspirationen kommt.
Für mich hat hier alles gepasst: die Figuren, die großartige Landschaft, die Geschichte an sich. Tolles Buch, sehr gut erzählt.
Da bin ich fast bei dir. Die Qualität ist unbestritten. Aber es hat mir in einer Form auf die Seele gedrückt, die ich sonst von mir nicht kenne. Deshalb wird es definitiv kein Buch zum Wiederlesen sein, was schade ist, zumal es wunderschön ausgestattet wurde.
 
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Barbara62

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Inspiriert wurde der Autor durch ein tatsächliches Ereignis, wo ein Geschwisterpaar in der Einsamkeit ein Kind bekam. Beide, v.a. der Junge waren ja in dem Alter, wo die Sexualität einen immer größeren Raum einnimmt. Und beide ahnen ja, dass es irgendwie nicht richtig sein kann, was sie tun.

Neben den Naturschilderungen war das für mich der interessanteste Teil des Buches. Mein Fazit ist, dass man eigentlich alles Praktische durch Ausprobieren erlernen kann, aber für ethisch-moralische Fragen geht es nicht ohne Vorbilder. Darüber hatte ich mir vorher noch nie Gedanken gemacht.
 

Barbara62

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Ja, „Die Unschuldigen“ ist ein trauriges Buch, gleichzeitig erzählt es aber von der Kraft des Menschen. Für mich hat hier alles gepasst: die Figuren, die großartige Landschaft, die Geschichte an sich. Tolles Buch, sehr gut erzählt.

Ich kann dir nur zustimmen. Schade, dass es im letzten Jahr in der öffentlichen Wahrnehmung wohl etwas unterging.
 
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RuLeka

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aber für ethisch-moralische Fragen geht es nicht ohne Vorbilder. Darüber hatte ich mir vorher noch nie Gedanken gemacht.
Ein sehr wichtiger Gedanke. Aber sicher, hier braucht man jemanden, der einem eine Richtschnur gibt, sei es als Vorbild oder als „ Lehre“. Am besten funktioniert es , wenn beides in Einklang ist.
 
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Yolande

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Huhu, da bin ich :). Ich wollte schon den ganzen Tag hier etwas schreiben, aber irgendwie hatte mein Mann ständig irgendetwas anderes von mir gewollt, wahrscheinlich ist ihm langweilig :confused:.
Ich fand das Buch schon auch sehr traurig und gerade zu Beginn hat mich das Schicksal dieser beiden Kinder sehr beschäftigt. Die Geschichte ist wirklich bemerkenswert und toll geschrieben. Die Unbilden der Natur, das karge und arbeitsreiche Leben wird so eindrücklich geschildert und hat mich sehr berührt. Aber mir gefiel auch die Neu- und Wissbegier von Ada, ihr hätte ich gewünscht, dass Bungs ihr wenigstens so ein bisschen das Lesen beibringt. Mit der sexuellen Komponente habe ich zuerst auch nicht gerechnet, aber im Prinzip ist es folgerichtig, zumal die Beiden in keinster Weise aufgeklärt waren, nicht mal durch irgendwelche Haustiere o.ä. Einzig das Ende fand ich ein wenig zu abrupt, aber das hat den Gesamteindruck nur wenig geschmälert, für mich war das Buch ein echtes Highlight
 

Barbara62

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Ich fand es erstaunlich, dass sich die Wiederholung von sieben Jahresläufen (ich hoffe, ich habe das noch richtig im Kopf, ich habe das Buch schon im Sommerurlaub 2020 gelesen) so interessant liest. Kein bisschen Langeweile!

P.S. Eichborn wäre auch ein toller Verlag für uns! ;) Da wüsste ich auch den Ansprechpartner...