Die Literatur erstickt im Belanglosen

Wandablue

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18. September 2019
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Brandenburg
Hi people,
bei einem der letzten gemeinsam gelesenen Romane hier "Hundepark" von Sofia Oksanen kam wohl so etwas wie eine Wertedebatte in Gang. Jedenfalls hätte ich mir es vorstellen können, weil Oksanen ein heikles, ethisch umstrittenes Thema aufgriff. Möglicherweise hat die Autorin das Ende offengelassen, ich weiß es nicht, ich war bei der Leserunde nicht dabei. Allerdings frage ich mich, ob sich Autoren nicht manchmal positionieren sollten, ob sie mehr tun sollten, als ein Übel, einen Missstand einfach nur aufzuzeigen.

Ich frage mich, ob die Schriftsteller früher nicht mutiger waren. Ob sie es früher öfters gewagt haben, Stellung zu beziehen und für das einzustehen, an das sie glauben. Heute kommt mir die Literatur verwässert vor und beinahe vollkommen überlagert und überschwemmt vom Unterhaltungsektor. Peter Hanke war immer politisch. Ob auch in seiner Literatur, weiß ich aber nicht. Da ich bei "Die Angst des Tormanns beim Elfmeter" kläglich scheiterte, mich unsäglich langweilte, für immer die Segel strich und Handkes Literatur künftig verschmähte - und ich zudem damals vollkommen unpolitisch war, weiß ich es nicht. Erst spätere Eklats erreichten mein Ohr. Jajaja, weiß schon, beliebt hat er sich nicht gemacht, der Peter. Und klar, ich bin kritisch. Aber Tatsache ist, dass sich heute kaum jemand mehr traut, für Werte einzustehen und die Literatur ist da nicht anders: sie zieht den Schwanz ein und knickt ein vor dem Zeitgeist. Und der Zeitgeist ist liberal, liberaler , beliebig. Das geht ja so weit, dass behauptet wird, es gäbe so was wie "Wahrheit" gar nicht, jeder hätte seine eigene Wahrheit. Da hörts dann bei mir auf. Klar, es gibt subjektive Wahrnehmung. Sicher. Aber die Verfechter der jeder denkbaren Wahrheit vermischen fröhlich die Begriffe. Es kann sein, dass niemand mehr für etwas einsteht, weil niemand mehr an etwas glaubt.

So ziehen sich die Autoren in die Vergangenheit zurück. Die dann historische Themen feiern. Jüngst gelesen
Buchinformationen und Rezensionen zu Tell von Joachim B. Schmidt
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Hat mir sehr gut gefallen. Ja. Aber so einen Helden in der Gegenwart, hätte mich mehr interessiert. Gestern bei Markus Lanz Jörg Meuthen und Ricarda Lang - wobei sich Ricarda L. gar nicht schlecht geschlagen hat - es traut sich wohl niemand, solche Kontrahenten buchmässig zu verarbeiten. Schade.

Welche Romane, die sich mit etwas Wichtigem beschäftigen, lest ihr gerade oder sind euch präsent?
Teilt ihr meine Meinung, dass die Literatur im Belanglosen erstickt? Oder, wenn sie nicht belanglos ist, ist sie so langweilig wie seinerzeit Peter Handke für mich.

Kommt gut in den Vorfrühling
eure Donnerstagswanda
 

Emswashed

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9. Mai 2020
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Ich würde es nicht als belanglos betrachten, sonder eher als Denkanstoß. Sofi Oksanens Buch muss keine Meinung haben, man soll sich eine machen.
Wahrheiten und auch politische Meinungen findet man dann wohl eher in Sachbüchern, siehe Sarrazin.
Schriftsteller wollen von ihren Büchern leben und wenn man dann eine extreme Meinung äußert, kann es sein, das gern gelesene Romane doch plötzlich wieder aus dem Regal verschwinden, so geschehen mit Akif Pirinci.
 

RuLeka

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30. Januar 2018
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Gesinnungsliteratur brauche ich nicht, aber Literatur, die Probleme aufzeigt, Fragen aufwirft und in gewisser Weise auch Position bezieht. Und das haben wir schon, auch in der Gegenwartsliteratur. Oksanen macht das, Galgut macht das , um nur zwei Leserunden hier zu nennen.
Ich brauche keinen Grass, der in den Wahlkampf einsteigt und keinen Handke, der sich mit zweifelhaften Politikern zeigt.
 

Wandablue

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18. September 2019
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Brandenburg
Gesinnungsliteratur brauche ich nicht, aber Literatur, die Probleme aufzeigt, Fragen aufwirft und in gewisser Weise auch Position bezieht. Und das haben wir schon, auch in der Gegenwartsliteratur. Oksanen macht das, Galgut macht das , um nur zwei Leserunden hier zu nennen.
Ich brauche keinen Grass, der in den Wahlkampf einsteigt und keinen Handke, der sich mit zweifelhaften Politikern zeigt.
Haha, so habe ich das aber nicht gemeint. Aber Flagge zeigen, was Grundwerte des Miteinanders angeht. Die von mir angeführten Beispiele führen nicht in die gemeinte Richtung ;-). Ich meine nicht politische Gesinnungsliteratur, obwohl ... es kommt drauf an. Ich meine Ethik. Und wer sie heute bestimmt.
 

Die Häsin

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11. Dezember 2019
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Rhönrand bei Fulda
Ich habe "Die Angst des Tormanns beim Elfmeter" gelesen; zweimal sogar, glaube ich. Ich halte es absolut nicht für ein politisches Buch, außer in dem Sinne, dass alles irgendwie politisch ist. Es ist ein Buch über Selbstentfremdung und - was ich damals faszinierend fand - über den Zusammenhang zwischen Bewusstsein und Sprache. Doch, mir hat es gefallen. (Ich war Schülerin, als ich es las.)
Gerade eben habe ich ein sehr politisches Buch gelesen. Das hing damit zusammen, dass ich mein aktuelles Buch zum Frühstück nicht finden konnte, also habe ich mir, da ich beim Frühstück lesen will, ein sehr, sehr kurzes Buch genommen, um das eigentlich aktuelle danach in Ruhe suchen zu können. Das sehr, sehr kurze war dieses:



Ein politischeres Buch ist gar nicht denkbar. Noch politischer wäre nur ein Sachbuch. Es geht um ein elternloses, sprachloses kleines Mädchen, das nicht mal einen Namen hat. Sprachlos deshalb, weil es niemanden gibt, der seine Sprache versteht. Es läuft allein durch eine große Stadt, bettelt oder klaut sich Essen zusammen und - das ist ein rührendes Moment, das im letzten Viertel des Buches aufscheint - es nimmt nicht einmal Güte und Zuwendung in dem Sinn, wie wir sie verstehen, an, weil das Vereinnahmung bedeutet. Die Einsamkeit dieses Kindes ist auf keinem Weg zu durchbrechen.
Es gibt keine Anklage gegen einzelne Menschen in diesem Buch. Wenn das Kind bettelt, wird es beschenkt, von der Polizei aufgenommen (bis es wegläuft), von einer fremden Frau aufgenommen (bis es wegläuft), es wird nicht geschlagen, es gibt auch keine sexuellen Übergriffe (was ich bis zuletzt befürchtet hatte, aber es passiert nicht). Das Kind ist nur einfach wurzellos, ohne jedes Gerüst, das hilfreich sein könnte, ohne Familie und ohne Sprache.

"Wenn es wahr ist", heißt es auf der letzten Seite, "dass an Gottes rechter Seite sein Liebling steht, bei allem, was er tut, was er pflanzt und segnet, wenn das wahr ist, so hör die Schritte, die kleinen, die großen, das Trippeln und das Stampfen!"

Es geht also um Migration, um Entwurzelung. Die Gründe dafür werden nicht benannt. Wir erfahren nicht, warum das Kind allein in einem fremden Land unterwegs ist, wie es überhaupt dahin gelangt ist, ob es vor Hunger, Krieg oder aus anderen Gründen floh. Entscheidend ist die Flucht als solche, die Entwurzelung. Sie ist so tiefgreifend, dass das Kind nicht nur keine Hilfe mehr hat, sondern auch außerstande scheint, angebotene Hilfe anzunehmen. Ich glaube, über dieses Buch werde ich den Rest des Tages nachdenken. Ich glaube sogar, ich schreibe nachher endlich mal wieder eine Rezi.
 

Die Häsin

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11. Dezember 2019
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Rhönrand bei Fulda
Köhlmeier hat das Buch damals zur Flüchlingskrise geschrieben ( wenn ich mich richtig erinnere), es aber als allgemeine Parabel angelegt.
Ja, ich habe eben ein Interview gelesen, in dem er von dem Verschwinden mehrerer kleiner Kinder aus einem Flüchtlingsheim in der Nähe seines Wohnorts berichtet.
"Ich bin vielleicht keine hundert Meter von so einem Kind entfernt und weiß es nicht."
Ich habe das Buch als Parabel gelesen. Das Entscheidende daran ist für mich die konsequente Perspektive des Kindes. Es gibt zum Beispiel kein einziges anklagendes Wort gegen die Verwandten, die das Kind am Anfang des Buches auf dem Markt ausgesetzt haben (irgendwie muss es ja dahin gekommen sein). Es gibt überhaupt kein anklagendes Wort. Das kann sich jeder beim Lesen selbst dazudenken ...
 

Die Häsin

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11. Dezember 2019
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Rhönrand bei Fulda
Was mir gerade noch einfällt zum Thema Wertedebatte, ist eine Episode im gerade gelesenen "Die langen Abende" von Elizabeth Strout.


Unter den vielen nur lose zusammenhängenden Episoden in diesem Buch gibt es eine mit dem Titel "Die letzte Bürgerkriegsparade". Das bezieht sich auf einen Brauch einer Gruppe schottischstämmiger alter Männer in dem Küstenord Crosby, Maine. Fergus McPherson (schttischer gehts echt nicht) gehört dazu, zieht jedes Mal seinen Kilt an, marschiert bei der Parade mit, übernachtet mit den anderen im Park in kleinen Zelten und kocht im Blechgeschirr über offenem Feuer. Es soll halt sein wie damals. Für andere ist es eine blöde Maskerade.
Dieser Fergus hat nun zwei Töchter, und just vor der Parade eröffnet ihm die eine der beiden, dass sie als Domina arbeitet. Er weiß gar nicht, was das ist, und hält sie für eine Prostituierte. Dass sie bloß die Bedürfnisse einer Randgruppe erfüllt und Männer verhaut, damit hat er sich gerade beinahe abgefunden, als er sich aber sagen lassen muss, dass sie ihre Kunden mit Bananenmus einschmiert und dann auf sie k...t, da hört's auf. Das verzweifelte Ringen innerhalb der Familie um mühsame Akzeptanz endet mit einem Zusammenbruch des alten Herrn.

Ich fand das sehr interessant auf den Punkt gebracht. Der Vater hat so etwas wie eine Anstandsgrenze, unabhängig davon, was erlaubt und was verboten ist, es geht einfach um Anstand. Während sie darauf besteht, dass sie nur legale Bedürfnisse auf legale Art erfüllt und sich, das klingt hin und wieder durch, als "Druckventil" empfindet, also in gewisser Weise als nützliches Glied der Gesellschaft. Als sie ihm vorhält, die Bedürfnisse ihrer Kunden seien eine "Spielart menschlichen Verhaltens", hält er ihr entgegen, das könne man von den KZ auch sagen. Was sie (zu Recht) wütend macht.

Das Kapitel war amüsant zu lesen; die Perspektive lag die ganze Zeit auf dem Papa und ich fand es anrührend, wieviel Mühe er sich gibt (am Ende wird es eindeutig mehr, als er schaffen kann). Aber ich habe mich die ganze Zeit gefragt, wo hier nun eigentlich die Position der Autorin ist. Ob sie überhaupt eine hat, und wenn ja, ob man als Leserin die kennen sollte.

Buchinformationen und Rezensionen zu Die langen Abende: Roman von Elizabeth Strout
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Literaturhexle

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Das Kapitel war amüsant zu lesen; die Perspektive lag die ganze Zeit auf dem Papa
Für mich war das eines der Kapitel, die mir das Buch verleidet haben. Interessant, dass du dich damit so beschäftigen kannst. Vielleicht bin ich zu intolerant? Mir war das einfach zu krass. Mit solchen Details muss man einen Vater nicht konfrontieren.
 
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Die Häsin

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11. Dezember 2019
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Für mich war das eines der Kapitel, die mir das Buch verleidet haben. Interessant, dass du dich damit so beschäftigen kannst. Vielleicht bin ich zu intolerant? Mir war das einfach zu krass. Mit solchen Details muss man einen Vater nicht konfrontieren.
Der Grund, warum er das überhaupt erfahren hat, war ja, dass es eine Dokusendung über ihre Tätigkeit gab und sie daher annahm, er werde es sowieso erfahren.
Ehe man es von Außenstehenden hämisch aufs Brot geschmiert bekommt, erfährt man es doch dann besser von der Tochter selbst.
Der Gegensatz dazu war dann das Kapitel über die Dichterin, die ein Gedicht über ihre ehemalige Lehrerin geschrieben hatte, und diese Lehrerin (es war Olive Kitteridge) fand den Gedichtband mit eingelegtem Lesezeichen anonym in ihrem Briefkasten und hatte eine Sauwut.
 

Literaturhexle

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2. April 2017
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Ah. Das hatte ich nicht mehr so auf dem Schirm, danke. Trotzdem empfand ich es krass und extrem. Irgendwo gibt es eine kleine Leserunde dazu. Ich hatte mir das Buch gleich nach Erscheinen gegönnt, weil mir der Blick aufs Meer so gut gefallen hat...
Manche Geschichten sind toll. Diese mit der Domina fand ich nur abstrus.
 

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