Der Zigarettensammler (S. 193 - 199)

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Während die letzten beiden Geschichten meines Erachtens unabhängig von der Wende gelesen werden können, ist der Zigarettensammler ein "Wendeverlierer", da die DDR seine Heimat gewesen ist und er mit der neuen politischen Situation nicht zurechtkommt. Er hat auch nicht verstanden, dass es inzwischen den Euro gibt und bettelt um eine Mark.
Seine Geschichte erscheint fast "typisch" für einen, der trudelnd zurückbleibt (Klappentext). Seine Arbeit als Mechaniker wird nicht mehr gebraucht und es gelingt ihm nicht, sich neu zu orientieren - im Gegensatz zu seiner Frau, die ihn verlässt und mit einem neuen Mann ein neues Leben beginnt.
Je nach Perspektive sehen ihn die Menschen als Kapitalismusopfer oder "faules Schwein" oder sie weichen ihm aus. Die Geschichte erzählt von seinem Tod, die Folge eines Zusammenstoßes mit einem Fahrrad.
Emotional hat mich die Geschichte weniger angesprochen als die anderen, sie ist eher deskriptiv, allgemeiner gehalten, weniger persönlich. Nach den letzten beiden Erzählungen war es aber auch eine Erholung!
 

Literaturhexle

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Emotional hat mich die Geschichte weniger angesprochen als die anderen, sie ist eher deskriptiv, allgemeiner gehalten, weniger persönlich. Nach den letzten beiden Erzählungen war es aber auch eine Erholung!
Super, wie du das Empfinden begründen kannst.

Allerdings könnte diese Biografie sich ähnlich auch im Westen abspielen, wenn man beruflich durch Modernisierung/Technisierung den Anschluss verliert, dem Alkohol huldigt und sich den Verstand versäuft. Ich denke, es gibt Obdachlose, die genau dieses Schicksal teilen. Hier war die Wende die Ursache, seine Firma wurde geschlossen, neue Fertigkeiten konnte er nicht erlernen, weil er "nicht so helle" war.
Zunächst dachte ich, dass der Zigarettensammler obdachlos wäre, jedoch lebt er im Pflegeheim. (Es wundert mich dann allerdings, dass sie ihn ohne Aufsicht draußen herumlaufen lassen.)

Zu Tode kommt er durch einen Fahrradfahrer. Schließlich hat er auch mal einen Radler vom Bike geholt. Kein Zufall, trotzdem ein bitteres Ende.
 

kingofmusic

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Zunächst dachte ich, dass der Zigarettensammler obdachlos wäre, jedoch lebt er im Pflegeheim. (Es wundert mich dann allerdings, dass sie ihn ohne Aufsicht draußen herumlaufen lassen.)
Wenn ich sehe, wie "abgewrackt" und sich selbst überlassen einige unserer Bewohner*innen, die im sog. "Betreuten Wohnen" oder in Wohngruppen, leben, rumlaufen wundert mich das nicht. Da frage ich mich dann allen Ernstes, wozu es Betreuungspersonen gibt und was die den ganzen Tag machen. Versteht mich nicht falsch: ich habe durchaus Respekt vor der Arbeit von (gesetzlichen) Betreuer*innen usw., aber manche verdienen die Bezeichnung Betreuer einfach nicht...:confused:
 

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Für mich ist diese Geschichte übrigens auch diejenige, die mich am wenigsten berührt hat. Obwohl sie auch durchaus tragisch ist.
Das liegt meines Erachtens auch daran, dass der Zigarettensammler keinen Namen hat, dadurch wirkt die Geschichte unpersönlicher. Wir erfahren zwar etwas über seine Gedanken und Empfindungen, aber schauen nicht so tief in seinen Kopf, wie bei den anderen Figuren.
Bei mir spielt sicherlich auch eine Rolle, dass ich mich mit den "Müttern" auch besser identifizieren kann.
 

Literaturhexle

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Da frage ich mich dann allen Ernstes, wozu es Betreuungspersonen gibt und was die den ganzen Tag machen.
Du, soweit habe ich noch gar nicht gedacht. Ich besuche meine Mutti ja regelmäßig im Heim und da laufen einige schon sehr schlecht gekleidet herum mit ausgetretenen Latschen und so, immer im Schlabberlook...
Ich dachte bis jetzt nur: Haben die denn gar keinen, der sich kümmert? Aber eigentlich muss ja JEDER einen haben, der sich kümmert...
Das Pflegepersonal ist dafür nicht zuständig.
 
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Für mich ist diese Geschichte übrigens auch diejenige, die mich am wenigsten berührt hat. Obwohl sie auch durchaus tragisch ist.
Berührt hat mich die Geschichte auch nicht sehr. Allerdings muss man zu sagen, dass es genau solche Geschichten hier (im Osten o_O) massenhaft gibt. Interessant finde ich die Betonung darauf, dass sich der Zigarettensammler nicht bedankt. …
 

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Die Geschichte hat mich emotional nicht so aufgewühlt wie die letzten. Aber dennoch berührt. Eher gelähmt, denn aufgewühlt.
Es hat mich eher ein Gefühl von Bedrückung, Unlebendigkeit und Deprimiertheit überfallen. Sowas wie Leere und Wortlosigkeit.
Und das fasziniert mich, denn das konnte Frau Krien dadurch auslösen, wie sie die Geschichte erzählt hat. Diese Gefühle passen zur geschilderten Abwärtsspirale. Dumpfheit, Leblosigkeit, Tod...
 

kingofmusic

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Die Geschichte hat mich emotional nicht so aufgewühlt wie die letzten. Aber dennoch berührt. Eher gelähmt, denn aufgewühlt.
Es hat mich eher ein Gefühl von Bedrückung, Unlebendigkeit und Deprimiertheit überfallen. Sowas wie Leere und Wortlosigkeit.
Und das fasziniert mich, denn das konnte Frau Krien dadurch auslösen, wie sie die Geschichte erzählt hat. Diese Gefühle passen zur geschilderten Abwärtsspirale. Dumpfheit, Leblosigkeit, Tod...
Ja, Frau Krien hat es echt drauf, mit wenigen (und den richtigen!) Worten etwas auszudrücken, was andere auf vielen Seiten nicht hinbekommen. Große Schreibkunst!
 

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Zu Tode kommt er durch einen Fahrradfahrer.
...das dramatische ist, dass der Alkohol hier seine Finger im Spiel hatte. Er fiel ungebremst auf den Kopf, seine Reflexe ließen ihn im Stich. Das ist ein ziemlich deutlicher Hinweis auf eine alkoholbedingte Neuropathie, wegen der u. a. die Reflexe Schritt für Schritt ihren Dienst versagen...
 

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Wenn ich sehe, wie "abgewrackt" und sich selbst überlassen einige unserer Bewohner*innen, die im sog. "Betreuten Wohnen" oder in Wohngruppen, leben, rumlaufen wundert mich das nicht. Da frage ich mich dann allen Ernstes, wozu es Betreuungspersonen gibt und was die den ganzen Tag machen. Versteht mich nicht falsch: ich habe durchaus Respekt vor der Arbeit von (gesetzlichen) Betreuer*innen usw., aber manche verdienen die Bezeichnung Betreuer einfach nicht...:confused:
...ich erkenne im Text keinen Grund, warum man ihm seine Freiheit hätte einschränken sollen. Ich habe überwiegend gute Erfahrungen mit gesetzlichen Betreuern gemacht. Natürlich gibt es auch auf diesem Feld solche und solche. Aber wichtig ist, dass die Notwendigkeit einer Betreuung ganz genau geprüft werden muss und da dann auch noch die Bereiche, für die diese Betreuung notwendig ist... wie gesagt, aufgrund der Infos die wir aus der kurzen Geschichte haben, konnte ich keinen Betreuungsbedarf oder Bedarf nach Begleitung bei Ausgängen erkennen... Aber vllt hast Du das ja gar nicht auf den Zigarettensammler bezogen?
 

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Du, soweit habe ich noch gar nicht gedacht. Ich besuche meine Mutti ja regelmäßig im Heim und da laufen einige schon sehr schlecht gekleidet herum mit ausgetretenen Latschen und so, immer im Schlabberlook...
Ich dachte bis jetzt nur: Haben die denn gar keinen, der sich kümmert? Aber eigentlich muss ja JEDER einen haben, der sich kümmert...
Das Pflegepersonal ist dafür nicht zuständig.
... Betreuung ist aber ja nicht kümmern. In gewissem und begrenztem Maße gehört es schon zur Aufgabe des Pflegepersonals sich zu kümmern. Kümmern in unterstützendem und emotionalem Sinn. Bei Betreuung geht es schon in Richtung Selbstgefährdung (Bereiche Gesundheit, Finanzen, Postalische Angelegenheiten...) wenn die Bewohner schlecht angezogen sind gefährden sie sich ja nicht zwangsläufig ... außer sie würden im Winter in der Unterhose rausgehen... aber diese Leute bräuchten dann aus einem anderen Grund (mangelnde Übersichtsfähigkeit) Betreuung...
 
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Berührt hat mich die Geschichte auch nicht sehr. Allerdings muss man zu sagen, dass es genau solche Geschichten hier (im Osten o_O) massenhaft gibt. Interessant finde ich die Betonung darauf, dass sich der Zigarettensammler nicht bedankt. …
... ja, das finde ich auch total interessant! Und auch, dass Krien das so hervorgehoben hat.
Warum wohl?
Vllt weil er keinen Grund dafür sah, sich für etwas zu bedanken, zu dem es nicht gekommen wäre, wenn es die DDR noch gäbe, in der er sich wohl gefühlt und in der er Arbeit und Geld hatte.
Solch einen komplexen Gedankengang traue ich ihm aber nicht zu, weil anfangs darauf hingewiesen wurde, dass er zwar tüchtig, ausdauernd und kräftig, aber nicht der Hellste ist. Trotzdem könnte das ubw eine Rolle gespielt und zum „nicht danke sagen“ geführt haben...
 

Literaturhexle

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.. Betreuung ist aber ja nicht kümmern. In gewissem und begrenztem Maße gehört es schon zur Aufgabe des Pflegepersonals sich zu kümmern.
Natürlich. Aber das Pflegepersonal kann nur an Kleidung anziehen, was da ist. Menschen, die keine sorgenden Angehörigen haben, sind da im Nachteil. Natürlich muss der Betreuer den Hinweis bekommen, dass keine Wäsche, kein Deo etc da ist. Oder er muss ein Konto anlegen.

Auf mich wirkt der Sammler schon desorientiert. Als er den Radfahrer umgerissen hat, war das auch nicht ohne.
Aber klar, die Grenze verläuft fließend. Ich würde dem Heim einen riesen Vorwurf machen, wenn sie meine Mutter ohne Aufsicht draußen laufen ließen. Sie könnte sich null orientieren, wäre aber sicher keine Gefahr für andere. Das ist immer eine Fallentscheidung.
 

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...ich erkenne im Text keinen Grund, warum man ihm seine Freiheit hätte einschränken sollen. Ich habe überwiegend gute Erfahrungen mit gesetzlichen Betreuern gemacht.
Es ging mir auch nicht um "Freiheit einschränken", sondern (ebenfalls wie @Literaturhexle ) um die Kleidung. Ich habe auch schon solche und solche Betreuer kennengelernt. Trotzdem kann ich nicht nachvollziehen, dass manch "betreute" Person in so abgewrackten Klamotten rumläuft. Oder kommt dann wieder einer und sagt etwas von wegen "Persönlichkeitsrecht"? :confused:;)
 
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Es ging mir auch nicht um "Freiheit einschränken", sondern (ebenfalls wie @Literaturhexle ) um die Kleidung. Ich habe auch schon solche und solche Betreuer kennengelernt. Trotzdem kann ich nicht nachvollziehen, dass manch "betreute" Person in so abgewrackten Klamotten rumläuft. Oder kommt dann wieder einer und sagt etwas von wegen "Persönlichkeitsrecht"? :confused:;)
Wo wir gerade bei Persönlichkeitsrechten sind. Wo ist denn das Persönlichkeitsrecht des Pflegepersonals, dass in immer furchtbareren Arbeitsverhältnissen versucht Patienten zu versorgen und dabei an eigene Grenzen kommt? Auch darüber sollte in diesem Zusammenhang mal nachgedacht werden. Das sind diejenigen Personen, die erkennen müssen, wenn irgendetwas nicht stimmt. Das sind diejenigen Personen, die sich um den Zigarettensammler kümmern. Was ist wenn sie das nicht mehr können, weil in der Medizin nur noch der Wachstumsgedanke zählt? …
 

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Es ging mir auch nicht um "Freiheit einschränken", sondern (ebenfalls wie @Literaturhexle ) um die Kleidung. Ich habe auch schon solche und solche Betreuer kennengelernt. Trotzdem kann ich nicht nachvollziehen, dass manch "betreute" Person in so abgewrackten Klamotten rumläuft. Oder kommt dann wieder einer und sagt etwas von wegen "Persönlichkeitsrecht"? :confused:;)
... wo Du das gerade mit den Klamotten sagst: in meiner Psychiatriezeit in einer gemeindenahen und sozialpsychiatrischen Einrichtung gab es einen richtig gut sortierten Kleiderschrank für die Bedürftigen. Als ich einer meiner Patientinnen mal vorschlug, sich daraus zu bedienen, weigerte sie sich vehement. Sie zog es vor, ihre Schlabbersachen zu tragen. Fand ich aber völlig okay...
 

kingofmusic

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Wo wir gerade bei Persönlichkeitsrechten sind. Wo ist denn das Persönlichkeitsrecht des Pflegepersonals, dass in immer furchtbareren Arbeitsverhältnissen versucht Patienten zu versorgen und dabei an eigene Grenzen kommt? Auch darüber sollte in diesem Zusammenhang mal nachgedacht werden. Das sind diejenigen Personen, die erkennen müssen, wenn irgendetwas nicht stimmt. Das sind diejenigen Personen, die sich um den Zigarettensammler kümmern. Was ist wenn sie das nicht mehr können, weil in der Medizin nur noch der Wachstumsgedanke zählt? …
Du hast völlig Recht, liebe @renee .