Renie

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Ein "Über-1000-Seiten"-Wälzer. Es geht um 2 Brüder, Deutsch-Balten, die in Riga aufgewachsen sind. Mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten in Deutschland, beteiligen sie sich im Baltikum an einer Art Geheimbund der Nationalsozialisten, um auch hier Hitlers Gedankengut unters Volk zu bringen. Geheim deshalb, weil die Deutschen kein gutes Ansehen in Estland hatten, erst recht nicht seit Hitler in Deutschland an der Macht ist.
Die Brüder werden von den Nazis finanziert. Dadurch sind sie in der Lage, ihre Familie zu versorgen. Denn auch das Baltikum ist zu diesem Zeitpunkt ein politisches Pulverfass.

Ich befürchte, dass dieses Buch jede Seite benötigt. Denn der Autor hat sehr viel zu erzählen. Hochinteressant, eine metaphorische und sehr fantasievolle Sprache, sehr spannend.
 

Renie

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Eine Dreiecksgeschichte zeichnet sich ab. Die beiden Brüder, Konrad und Hub, haben eine Schwester, die in ihrer Kindheit von den Eltern adoptiert worden ist. Das hält Konrad und Hub jedoch nicht davon ab, sich in die Schwester zu verlieben.
Ev hat jüdische Wurzeln. Das macht das Verhältnis zu ihr sehr brisant, zumal die Brüder als aufsteigende Sterne in der nationalsozialistischen Bewegung gehandelt werden. Der zweite Weltkrieg bricht aus .....
 
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Der erste Teil dieses Romanes endet damit, dass die Familie zum Ausbruch des Krieges nach Polen umgesiedelt wird. Polens deutsche Besatzer holen sich quasi die Deutsch-Balten, um die Reinheit der arischen Rasse in Polen zu gewährleisten. Die polnische Bevölkerung muss Platz machen für die Deutsch-Balten. Häuser und Eigentum werden zwangsenteignet und den zugereisten Deutsch-Balten zugeteilt. Die Polen können sehen, wo sie bleiben. Wenn sie schlau sind, machen sie sich schnellstens aus dem Staub. Wer es nicht schnell genug schafft, kommt ins Lager.
War der erste Teil noch von Unbekümmertheit geprägt, merkt man jetzt, im zweiten Teil, dass die Familie um Koja und Hub die nationalsozialistische Wirklichkeit einholt. Die Brüder gehen zur SS - nicht aus Überzeugung sondern weil es ein notwendiges Übel ist und die einzige Möglichkeit, um die Kriegszeiten möglichst schadlos zu überstehen. (eine bequeme Ausrede?) Sie sind dafür verantwortlich, dass Menschen in den Tod geschickt werden. Ihre Arbeit bei der SS ist eine Gratwanderung zwischen Gewissensnöten und Einhaltung der vorgegebenenTötungsquoten.
 

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Jetzt habe ich ein Drittel der knapp 1200 Seiten gelesen und ich bin hin und weg. Hier ist keine Seite zuviel. Chris Kraus ist ein begnadeter Geschichtenerzähler. Auf der Leipziger Buchmesse habe ich erfahren, dass er seine eigene Familiengeschichte zum Anlass genommen hat, diesen Roman zu schreiben.

Was die Geschichte manchmal schwer erträglich macht, ist die humorvolle und teilweise sarkastische Erzählweise. Die beiden Brüder, Koja und Hub, wurschteln sich irgendwie durch den Krieg. Hub ist der Berechnendere von Beiden. Er macht Karriere in der SS und protegiert seinen jüngeren Bruder dabei. Koja, der Ich-Erzähler, versucht die Augen vor den Gräueln der Nazis zu verschließen, was ihm natürlich nicht immer gelingt, da er seine Daseinsberechtigung in der SS durch entsprechende Handlungen unter Beweis stellen muss. Trotzdem sind seine Erzählungen sehr amüsant - ich wage es kaum zu schreiben. Aber gerade dieser Witz steht im krassen Gegensatz zu dem Horror des Nationalsozialismus und versetzt mir beim Lesen so manchen Kloß im Hals.
 

Helmut Pöll

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Mir ist das Buch auch an anderer Stelle schon aufgefallen, @Renie . Aber nach Deinen begeisterten Kommentaren kommt es auf meinen SUB, damit ich es nicht vergesse...
 
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In diesem Buch passiert so viel. Oft nimmt die Handlung sehr überraschende Wendungen an, was die Geschichte sehr spannend macht. Die beiden Brüder haben sich mittlerweile entzweit. Kain und Abel waren ein Dreck dagegen. Besonders Hub bekämpft seinen jüngeren Brüder mit allen Gemeinheiten. Aber wenn es hart auf hart kommt, erinnern sie sich doch wieder daran, dass sie Brüder sind. Und hart auf hart kommt es, als die Russen kommen.
 

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Der Krieg ist vorbei. Aber irgendwie schaffen es die beiden Brüder, ungeschoren davon zu kommen. Ganz im Gegenteil. Sie werden förmlich von den Geheimdiensten der Alliierten hofiert und für deren Zwecke eingespannt. Während es Nachkriegsdeutschland schlecht geht, leben die beiden wie die Maden im Speck. Und so werden aus den SS-Offizieren CIA- und KGB-Agenten.
 

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Es ist faszinierend, wie der Autor reale historische Persönlichkeiten in die Handlung einflicht. So spielt z. B. Otto John, erster Chef des Bundesamtes für Verfassungsschutz, eine wichtige Rolle. Sein tatsächlicher Werdegang ist Bestandteil der Handlung. Das ist hochinteressant. Dann tauchen noch Konrad Adenauer und Theodor Heuss auf.
 

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Der Ich-Erzähler Koja hatte zu Beginn etwas Schelmenhaftes an sich. Er schien das Leben leicht zu nehmen, egal, ob die Welt um ihn herum in Chaos versank. Irgendwie wurschtelte er sich durch und schaffte es, jedes Problem, das seinem Wohlbefinden im Weg stand, mit einem Lächeln zu umgehen. Ein echter Sunnyboy. Doch mittlerweile - wir befinden uns in der Zeit des Kalten Krieges - ist es vorbei mit seiner Unbeschwertheit. Er wirkt schwermütig und nachdenklich, was an zwei entsetzlichen Schicksalsschlägen liegt, die er zu verkraften hat.
 
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Koja geht mit seiner Schwester Ev nach Israel. Ev ist von Geburt an jüdisch, Koja wird jüdisch "gemacht". Hier integriert er lustig weiter, schließlich ist er Doppel/Dreifach/Vierfach-Agent. Wir treffen auf die israelische Regierung um Ben Gurion. Der Mossad ist im Aufbau - mittlerweile gibt es keine Mannschaft, für die Koja nicht tätig ist. Und ehe man es sich versieht, verfolgt man die Waffengeschäfte zwischen Franz-Josef Strauß und Israel, an denen Koja einen großen Anteil hat.
Auch Ev wird für den Mossad tätig. Nur sie schreibt sich auf die Fahne, sämtliche Alt-Nazis, die sie aufspüren kann, ans Messer zu liefern, u. a. Eichmann. Dabei macht sie sich das Insider-Wissen von Koja zunutze. So schnell geht das mit dem Seitenwechsel, wenn man bedenkt, dass Koja selbst aus dem SS-Verein kommt.
 

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Gestern habe ich dieses Buch beendet. 1200 Seiten, wovon keine Seite zu viel war. Auf dem Buchdeckel taucht der Satz auf: "Chris Kraus ist ein besessener Erzähler". Diesen Eindruck hatte ich auch. Die Geschichte entwickelt einen Sog, der einen förmlich mitreißt. Ich habe mir für die 1200 Seiten zwar Zeit genommen (ca. 6 Wochen) und parallel zu anderen Büchern gelesen (schließlich habe ich etliche Rezensionsexemplare, die ich lesen muss). Trotzdem war ich von jetzt auf sofort nach jeder Unterbrechung wieder in diesem Buch drin und habe jede Seite genossen. "Das kalte Blut" ist ein faszinierendes Stück Zeitgeschichte. Der Roman fesselt durch die Kombination aus Fakten und Fiktion sowie dem außergewöhnlichen Erzählstil von Chris Kraus. Ein Wahnsinnsbuch!