Bücher kürzen - Notwendig, Verstümmelung oder ok?

Serapion

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5. Juli 2014
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Im Süden
Es gibt ja immer wieder Bücher der Weltliteratur, die für Jugendliche gekürzt und vielleicht sogar umgeschrieben werden - Moby Dick, Oliver Twist... Auch wenn ich dem eher skeptisch gegenüber stehe, kann ich in dem Fall noch ein gewisses Verständnis aufbringen.

Nicht aber dafür, wenn Herausgeber aufgrund eigener Kriterien zum Rotstift greifen. Für mich ist ein prominentes und unverständliches Beispiel E.T.A. Hoffmanns Buch "Die Serapionsbrüder". In der Version der "Werke in vier Bänden" heißt es im Vorwort über die Streichung der kurzen Texte zwischen den Novellen und Erzählungen: "Diese verbindenden Texte - Ansichten über Literatur, Kunst, Wissenschaft, Moral und Fortschritt, (...) sind durchwegs zeitgebunden und ohne Bedeutung für den heutigen Leser." Unabhängig davon, dass das Unsinn ist, denn in diesen Texten stehen wichtige Gedanken zu den Grundlagen von Hoffmanns Verständnis von Literatur (z.B. sein trotz Kürzung in vielen Ausgaben bekanntes Himmelsleiter-Bild), halte ich es für eine unangebrachte Bevormundung der Leser*innen.

Nun könnte man sagen "Muss ja niemand was gekürztes kaufen" - tja, aber leider merkt man das oft erst dann, wenn man wirklich zu lesen beginnt. Und in meinem Beispiel liegt es auch nicht am Preis der "Werke in vier Bänden", der damals sehr studentenfreundlich war - es wird auch in teureren Ausgaben gekürzt. Ich hatte auch mal eine Ausgabe vom Kater Murr Hoffmanns gekauft, weil sie toll illustriert war. Und erst beim Lesen (nirgends stand was von Kürzungen), merke ich, dass die komplette Erzählebene Kreislers fehlt. Jemand, der das Original nicht kennt, würde nicht merken, dass er nur einen Ausschnitt zu Lesen bekommt. Habt Ihr solche Erfahrungen auch schon gemacht oder stört Euch das vielleicht gar nicht?
 

Die Häsin

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11. Dezember 2019
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Hallo,
ich hatte kürzlich so einen sehr ärgerlichen Fall, den ich in meinem Lesetagebuch geschildert habe. Vor Jahren lieh mir eine Freundin "Die Zwangsjacke" von Jack London. Da Jack Londons Bücher inzwischen gemeinfrei sind, habe ich mich gefreut, das Buch jetzt beim Gutenberg-Projekt zu finden. Es fehlen aber einige Teile, mindestens zwei umfangreiche Binnenerzählungen innerhalb des Romans. (Ich habe das anhand des englischen Originals, das mir vorliegt, abgeglichen - vielleicht fehlt auch noch mehr, ich war irgendwann zu sauer, um weiterzumachen.)

Da ich gern eine vollständige Ausgabe gehabt hätte, bestellte ich über die Buchhandlung eine Neuausgabe vom Verlag LiWi, m.W. die einzige Neuausgabe, die es derzeit gibt. Da fehlen aber genau die gleichen Teile. Ich hätte das Buch wirklich gern, traue mich aber nun nicht mehr, eine antiquarische Ausgabe zu bestellen.

Die Auslassungen sind in meinen Augen völlig willkürlich. Das Buch ist einigermaßen "krass", wie meine Freundin es damals ausdrückte; es geht mehrmals um brutale Gewalt gegen Sträflinge in amerikanischen Gefängnissen. Diese Teile fehlen aber nicht. Ich habe keine Erklärung, warum bestimmte Teile gekürzt wurden und andere nicht.

Es mag ja gute Gründe geben, manche Bücher zu kürzen, speziell für junge Leser (Gulliver, Robinson, Moby Dick ...). Dann sollte es aber klar und deutlich in der Verlagsinformation stehen.

(Den Murr habe ich zum Glück vollständig; meine Tochter liest ihn gerade.)
 

Barbara62

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19. März 2020
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mit-büchern-um-die-welt.de
Ich war immer total gegen Kürzungen, bis wir versucht haben, unseren Töchtern "Heidi" im Original vorzulesen. Anstatt gerührt zu sein, haben sie schallend gelacht - an Stellen, über die ich als Kind geweint hätte. Wir haben dann auf eine gekürzte/entschärfte/modernere Fassung zurückgegriffen und siehe da, es hat geklappt. Uns hat es übrigens auch besser gefallen, das Original ist unglaublich frömmelnd und kitschig.
 

Literaturhexle

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2. April 2017
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Habt Ihr solche Erfahrungen auch schon gemacht oder stört Euch das vielleicht gar nicht?
Ich verstehe oftmals den Sinn und Zweck nicht! Bei Hörbüchern achte ich darauf, dass sie ungekürzt sind. Wer nimmt sich das Recht heraus, zu entscheiden, was nicht wichtig ist?! Um am Ende 30 bis 60 Minuten Lesezeit zu sparen?!?

Beispiel: Berlin Alexanderplatz - ein großartiges Stück Literatur! Das Hörbuch nur gekürzt zu haben. Es waren kleine Kürzungen- nur ìn den ersten Kapiteln. Dennoch fehlte mir irgendwo mittendrin der Bezug. Zum Glück hatte ich das Buch da und konnte ergänzen;)

Bei Klassikern ist die Frechheit noch größer, weil sich der Autor nicht mehr wehren kann.
 

Emswashed

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9. Mai 2020
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Ein großes Gemälde beschneidet man ja auch nicht, damit es in den Rahmen passt, auch wenn die Ränder vielleicht keine wesentliche Bilddetails mehr beinhalten.
Bei Kinderbuchklassikern kann ich - in wenigen Fällen - eine Kürzung durchaus verstehen, schließlich wollen wir unsere Kleinen ja zu Lesejunkies machen. Aber grundsätzlich sollten Bücher so erhalten bleiben, wie es der Autor geschrieben und in seinem Zeitgeist gemeint hat. Wem das zu anstrengend ist, der sollte die Pfoten davon lassen.
 

R. Bote

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20. Dezember 2014
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Mir ist das bis jetzt noch sehr selten untergekommen, erinnern kann ich mich als konkretes Beispiel nur an eines der Harry-Potter-Bücher; da waren in der deutschen Übersetzung Passagen im Vergleich zum Original gekürzt worden, auf eine Weise, dass ich schon den Verdacht habe, es ging letzten Endes nur um die Seitenzahl, nicht um Inhaltliches. Seitdem habe ich von der Reihe nur noch die Originale gelesen.
 

Waldkauz7

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Hallo,

bewusst beide Versionen habe ich nur von "Das letzte Gefecht" von King gelesen. Dazwischen lagen ein paar Jahre. Einen großen Unterschied habe ich dabei nicht bemerkt.
 

Die Häsin

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11. Dezember 2019
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Hallo,

bewusst beide Versionen habe ich nur von "Das letzte Gefecht" von King gelesen. Dazwischen lagen ein paar Jahre. Einen großen Unterschied habe ich dabei nicht bemerkt.

Was ist denn in "Das letzte Gefecht" gekürzt worden?
(Ich war bis Anfang der Neunziger großer King-Fan und habe alles von ihm verschlungen, auch "Das letzte Gefecht", aber nach "Dolores" dann nichts mehr.)
 

Waldkauz7

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13. Oktober 2018
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Der Verlag von King hatte mehrere hundert Seiten gekürzt, weil sich das Buch so besser verkaufen sollte. Als King dann richtig bekannt war, hat er das Buch noch einmal in ungekürzter Fassung herausgegeben (mit einem Statement zur Kürzung).

Ich habe auch mit King aufgehört. Seine Bücher gefielen mir immer weniger. Bis vor kurzem. Seine neuen Werke sind wieder besser.
 

Die Häsin

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11. Dezember 2019
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Ich habe auch mit King aufgehört. Seine Bücher gefielen mir immer weniger. Bis vor kurzem. Seine neuen Werke sind wieder besser.
Ich habe eben in der Bibliografie bei Wiki nachgesehen: bis 1992 habe ich alles von King gelesen, danach nur noch "Sara" (in einem Offenen Schrank gefunden) und von den neueren nur "Doctor Sleep". Das hat mich interessiert, weil es quasi eine Fortsetzung von "Shining" war - leider fand ich es ziemlich langweilig.
Ich habe den Plan, irgendwann "Tommyknockers" ein zweites Mal zu lesen, das fand ich damals sehr inspirierend und feinsinnig-witzig. Wenn King nur nicht immer so auch so langatmig wäre.