Austausch über weitere Storys

Wandablue

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18. September 2019
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Brandenburg
BARMHERZIGKEIT
Was für eine verrückte Geschichte!
Man sollte Gutes nur mit Verstand tun!
Janice lässt sich nach Strich und Faden ausnutzen.
Die Familie, die ihr Herz rührt, ist eine Nehmerfamilie. Wenn man nur nimmt, kann es einem egal sein, ob man einen anderen ruiniert. Es gibt ja noch so viele andere.
Dabei meint die Famile es gar nicht böse, das ist raffiniert von Joy.
 

Wandablue

Bekanntes Mitglied
18. September 2019
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Brandenburg
DIE GELIEBTE
Das ist bis jetzt die furchtbarste Geschichte von allen. Inhaltlich. Nicht erzählerisch.
Kann es sein, dass wir J.W.s Geschichten deswegen nicht mögen, weil deren Inhalt so wenig erfreulich ist?
Frau definiert sich durch Männer. Hat kein Selbstbewusstsein. Wird von ihrem Ex als liebesunfähig beschimpft. Und so ein bisschen stimmt es: sie vernachlässigt ihr Kind.
Was bedeutet ihre Erinnerungslosigkeit?
Ich interpretiere mal, dass sie keinen Zugang zu sich findet; sie ist ein Niemand, hat nicht einmal einen Namen.
Ein typisches Beispiel von Fremdbestimmung?
 

luisa_loves-literature

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9. Januar 2022
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Lu-Lu: Noch schlimmer als Im Zug.
LU-LU. Ja, ganz meiner Meinung. Die fand ich furchtbar.
Mich lässt sie eiskalt.
Mich auch. KONGRESS war gar nicht mein Ding.
Mit der Kongressgeschichte konnte ich leider nicht allzu viel anfangen. Es scheint vielleicht um eine Kritik zu gehen, wie wir mit anderen Lebewesen umgehen - auch mit Tieren. Das wir nicht richtig wertschätzern (bis dann vielleicht jemand sitrbt?).
Ja, das ist auf jeden Fall ein Aspekt. Aber ich habe das Gefühl, dass noch mehr dahinter steckt. Wenn die Geschichte nicht schon von 2004 wäre, würde ich sie ja vielleicht als Kommentar auf die menschliche Haltung zum Planeten Erde und zum Klimawandel lesen. Man liebt die Natur zu Tode, will sie dann präparieren und im Museum ausstellen und stellt Fragen, deren Antwort einen eigentlich nicht interessiert.

Was mich allerdings bei der Geschichte SEHR stutzig macht, ist der Titel "Kongress" bzw. "Congress". Denn in der Geschichte gibt es keinen Kongress oder Tagung im eigentlichen Sinne. Allerdings muss ich bei dem Wort immer sofort auch an den amerikanischen Kongress denken....Vielleicht ist die Geschichte eher ein bitterböser Kommentar auf das Verhalten und die Vorgehensweise der Politiker im Kongress? Desinteresse an allem, nicht wirklich in der Realität usw.???
 

dracoma

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16. September 2022
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Ich habe die Geschichten gezählt: es sind genau 13. Da fielen mir die 7 Mördermütter natürlich ein, aber diese Zahlen können auch Zufall sein.
Trotzdem habe ich mir die mittlere genauer angeschaut, vielleicht ist diese Geschichte "Kongress" so eine Art Mittelachse? Die übliche Verfremdung zu Beginn, eine Lampe wird zum Lebensgefährten, gespenstische Popanze stehen im Mittelpunkt des Interesses - auch mehrmaliges Lesen hat mich keine (hilfreichen) Strukturen erkennen lassen, und das ist ja auch ein Befund.

Ich will nur zu einer Geschichte kurz etwas sagen...

LIEBE
Auch hier wieder ein Kind, das von seiner Mutter verlassen wird. Jones nimmt es auf, und die Enkelin nimmt die Stelle der Tochter ein (siehe Mütze). Die Tochter ist auffällig, sie bricht alle Bindungen ab, sie verletzt sich selber; was ist es, was sie so leiden lässt?

In dem Zusammenhang ist mir aufgefallen, wie sehr hier die Sauberkeit im Mittelpunkt steht. Der Hund frisst sauber, die Enkelin isst sauber, das Haus ist "sauber und ordentlich" und Jones putzt am Ende das Haus, bis es strahlt.
Dazu passt der weiße Schnee, der ist auch so sauber und strahlt - bis hier, tatsächlich Knall auf Fall, der Tod einbricht und das Weiß beschmutzt.
Weiß ist, so sagt Melville, die Farbe der Gottlosigkeit. Die Tochter ist gottlos und sucht in der Esoterik ihren Lebenssinn. Auch Jones ist, obwohl Pfarrer, gottlos.
So ergibt sich mit der Nicht-Farbe Weiß und der Sauberkeit ein Zusammenhang, denke ich.
Und das Ende - die Rückkehr der Frau ins strahlende Heim - habe ich überhaupt nicht als positiv empfunden. Ich sehe da Parallelen zur Hasenszene: der Hase hoppelt zum Vergnügen der anderen in einer strahlendweißen "sauberen" Umgebung, und da trifft ihn der Tod. Jetzt ist es die Frau, die zurückkehrt in dieses strahlende Heim, aber sie ist "dünn und wunderschön". Mir kommt sie vor wie eine Lichtgestalt, wie ein Geist, irgendwie nicht mehr irdisch. Jedenfalls nicht gesund und lebenskräftig.

Mit dieser Geschichte wird ein starker Akzent gesetzt, denke ich, weil die Hauptmotive des Buches schon anklingen.
 

Federfee

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13. Januar 2023
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In dem Zusammenhang ist mir aufgefallen, wie sehr hier die Sauberkeit im Mittelpunkt steht.
Du wärest eine erfolgreiche Musterschülerin des LitProfs Foster ('How to read literature like a professor'), weil du so viel Auffälliges erkannt hast. Genau das hat er mit Mansfields 'Garden Party' gemacht und ich habe gestaunt. Was du hier anmerkst, ist genau das, was man in einer Short Story finden kann, wenn man nur aufmerksam genug liest: auffällige Wiederholungen, symbolträchtige Worte, Dinge... Normalerweise würde ich denken, es sei ein bisschen weit hergeholt, aber es scheint etwas dran zu sein.
auch mehrmaliges Lesen hat mich keine (hilfreichen) Strukturen erkennen lassen, und das ist ja auch ein Befund.
So geht es mir auch; das sind Stories, zu denen ich keinen Zugang finde.
 

Literaturhexle

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2. April 2017
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Und das Ende - die Rückkehr der Frau ins strahlende Heim - habe ich überhaupt nicht als positiv empfunden.
Mir kommt sie vor wie eine Lichtgestalt, wie ein Geist, irgendwie nicht mehr irdisch. Jedenfalls nicht gesund und lebenskräftig.
Mir geht es genauso. Es ist schön, dass die Frau wieder nach Hause kommt, aber eine große Zukunft kann ich für sie leider nicht erkennen...
Diese Geschichte ist ebenso trostlos wie viele andere. Und trotzdem finde ich die ganzen Bezüge toll, die du gesehen hast! Man müsste sich auf diese Art des Lesens schulen....

Federfee, dein Professorenbuch hätte ich schon bestellt, wenn es in deutscher Sprache zu haben wäre. Du machst uns den Mund ja wieder und wieder wässrig! Die Shortstories von Mansfield habe ich komplett am Lager. Wir könnten also ab und an mal eine einstreuen, wenn Lust besteht, das Thema zu vertiefen. Es gibt einen Thread für die kurze Form. Der King und ich hatten mal diesen Wälzer begonnen:


Auch haben wir schon Kafka erörtert.
 
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Federfee

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13. Januar 2023
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Man müsste sich auf diese Art des Lesens schulen....
Aber daran müsste man großen Spaß haben; es ist eine Art Rätselei. Ich weiß auch nicht, ob ich immer die Lust dazu hätte, bei einer kurzen Geschichte so in die Tiefe zu gehen. Dracoma hat das ja bei der ersten Geschichte großartig gemacht. Foster hätte den Daumen gehoben. :thumbsup
Federfee, dein Professorenbuch hätte ich schon bestellt, wenn es in deutscher Sprache zu haben wäre. Du machst uns den Mund ja wieder und wieder wässrig!
Das Buch ist toll, aber ich hätte es auch lieber in Deutsch, weil ich einiges an Fachvokabular doch nicht kenne, aber ich habe inhaltlich schon ein bisschen mitgenommen. Die Erläuterungen zu Mansfields Garden Party fand ich geradezu großartig.
Die Shortstories von Mansfield habe ich komplett am Lager. Wir könnten also ab und an mal eine einstreuen, wenn Lust besteht, das Thema zu vertiefen.
Ich habe gerade die Sammlung 'Glück' ausgeliehen (wegen der 'Garden Party). Allerdings komme ich im Moment nicht dazu, wegen Székely und Pearl S. Buck. Aber ich halte den Thread mit den kurzen Formen mal im Auge.
Es gibt einen Thread für die kurze Form.
 

dracoma

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16. September 2022
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dracoma

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16. September 2022
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dazu muss man es aber erst einmal erkennen...
:smileeye
Stimmt! Man sieht nur, was man weiß - so hieß das im Studium.

Dann darf ich bei der Geschichte LIEBE noch eins draufsetzen:
In der Malerei (z. B. Stillleben) ist der Hase das Symbol für Erotik.
Damit bekommt die Geschichte noch eine andere Facette, die sich aber gut einfügt, finde ich.
 

luisa_loves-literature

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9. Januar 2022
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Nach der Lektüre von DIE LETZTE GENERATION sehe ich Joy Williams nochmal etwas anders. Ihr konstanter Verweis auf Tiere und Vögel in ihren Geschichten, vor allem ihre Darstellung des doch als recht abnorm zu bezeichnenden Verhältnisses zwischen Mensch und Tier - man denke an die Idee, sich eine Schlange zu halten und zu dieser eine Beziehung aufbauen zu wollen oder an die Hirschfusslampe - zeigt, dass ihre Stories vor allem auch eine Kritik an der gestörten Beziehung zwischen Mensch und Natur, also aus einem Ansatz des Ecocriticism gelesen werden sollten.
 

Die Häsin

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11. Dezember 2019
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Rhönrand bei Fulda
Ich sehe da Parallelen zur Hasenszene: der Hase hoppelt zum Vergnügen der anderen in einer strahlendweißen "sauberen" Umgebung, und da trifft ihn der Tod. Jetzt ist es die Frau, die zurückkehrt in dieses strahlende Heim, aber sie ist "dünn und wunderschön". Mir kommt sie vor wie eine Lichtgestalt, wie ein Geist, irgendwie nicht mehr irdisch. Jedenfalls nicht gesund und lebenskräftig.

Mit dieser Geschichte wird ein starker Akzent gesetzt, denke ich, weil die Hauptmotive des Buches schon anklingen.
Mich hat die Szene mit dem Hasen an eine Doku über Schneeschuhhasen erinnert, die ich vor einigen Jahren mal gesehen habe und die mich sehr beeindruckt hat. Die Schneeschuhhasen (die übrigens sehr niedlich sind) sterben im Winter in großer Zahl, weil sie nichts zu fressen finden. Es gibt eine indianische Legende, nach der die Schneeschuhhasen im Mond verschwinden und später, abermals im Mond, wiederkommen - eine Art Transformation.
Aufgefallen ist mir bei dieser Geschichte auch, dass alles im Präsens erzählt wird, sogar dann, wenn ausdrücklich von einem Vorher-Nachher die Rede ist wie auf S. 11: "Natürlich wird sie dorthin gehen (ins Krankenhaus). Der Moment war bereits eingetreten", letzterer Satz wohl ein Zugeständnis an die Verständlichkeit. Trotzdem erzeugt diese Erzählweise ein Gefühl, als spiele sich alles gleichzeitig ab, siehe S. 16: "Alles besteht zugleich fort und beginnt von Neuem".
Auch die Textzeile aus Mahlers Kindertotenliedern weist in diese Richtung: "Oft denk ich, sie sind nur ausgegangen ..." (S. 18)
Eine traurige und schöne Geschichte, mir gefällt sie gut.
 

dracoma

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16. September 2022
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Auch die Textzeile aus Mahlers Kindertotenliedern weist in diese Richtung: "Oft denk ich, sie sind nur ausgegangen ..." (S. 18)
Du meinst, dass hier so etwas wie Transzendenz aufscheint?

Ich fand es erstaunlich, aber sehr berührend, dass Williams diese Gedichtzeilen zitiert!
Sooo traurig...

"Du lebst in meiner Klage
Und stirbst im Herzen nicht."
 

Die Häsin

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11. Dezember 2019
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Rhönrand bei Fulda
Du meinst, dass hier so etwas wie Transzendenz aufscheint?

Ich fand es erstaunlich, aber sehr berührend, dass Williams diese Gedichtzeilen zitiert!
Sooo traurig...

"Du lebst in meiner Klage
Und stirbst im Herzen nicht."
Ich meine damit - in Verbindung mit der erwähnten Zeitform -, dass jeder Seinszustand gleichzeitig existiert. Nach der indianischen Legende sind die Hasen nicht tot, sondern nur verschwunden und kehren nach dem Winter zurück. Das gleiche sagt die zitierte Liedzeile über die toten Kinder aus.
Fragt mich jetzt nicht nach einer Interpretation der Geschichte selbst. Es ist nur ein Gedanke, der mir gekommen ist.
 
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dracoma

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Die Häsin

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11. Dezember 2019
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Rhönrand bei Fulda
Ein Nachtrag: Immerhin ist der Hase in der Geschichte nicht "im Mond verschwunden", sondern wurde erlegt und weggetragen. Das Gewaltsame dieses Bildes bildet einen Gegensatz zu dem versöhnlichen, beruhigenden Klang der Legende.
Ich weiß natürlich nicht, ob die Autorin die Legende kennt und meint. Die einzigen Belege, die ich auf deutschen Seiten dazu finden konnte, gehen jedes Mal auf die gleiche TV-Sendung zurück.

Inzwischen habe ich auch "Barmherzigkeit" und "Rost" gelesen - hier kann ich's kurz machen: "Barmherzigkeit" hat mich mehr amüsiert als bewegt mit dieser Frau, die aus ihrem Wohltätigkeitskreislauf nicht mehr herauskommt - Kreislauf deshalb, weil ich die ganze Zeit das Bild eines Hamsterrads im Kopf hatte, das immer schneller rotiert. Mit "Rost" konnte ich wenig anfangen. Das Milieu ist mir zu fremd; diese Idee, das Auto ins Wohnzimmer zu stellen, erinnerte mich an das Lokal in "Pulp Fiction". Eher bizarr und komisch.
 
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Die Häsin

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11. Dezember 2019
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Rhönrand bei Fulda
Ein Nachtrag dazu: Gestern las ich "Der kleine Winter" und kam zum gleichen Schluss: bizarr und auf böse Weise komisch. Ich frage mich aber immer wieder, ob das, was ich als bizarr empfinde (die verschiedenen Exmänner, die ununterbrochene Trinkerei, dass die Hauptfigur die Tochter der Freundin einfach mitnimmt etc.) vielleicht in den USA ganz normal ist.
Gwendal kenne ich übrigens bisher nur als männlichen Vornamen (im französischen Sprachraum).
Es ist mir schwer gefallen, für die Hauptfigur Anteilnahme aufzubringen. Aber irgendwie kann ich es auch nachvollziehen, dass man in einen Zustand gerät, in dem einem schon alles egal ist.
 
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Die Häsin

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11. Dezember 2019
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Rhönrand bei Fulda
Lu-Lu:
Als Heather den beiden Alten ins Bett geholfen hat, kam mir schlagartig die Vorstellung in den Kopf, dass die beiden gemeinschaftlich Suizid begehen wollen. Deshalb haben sie so dringend nach einer Unterkunft für die Schlange gesucht.
Dass Don kurz darauf sagt "keiner kennt den Tag oder die Stunde" spricht natürlich gegen diese Vermutung. Trotzdem hat sich der Gedanke bei mir festgesetzt.
Heather nimmt Erde im Auto mit in der Annahme, dass es der Schlange dann besser geht. Das ist ein Bild, das ich normal nur aus Vampirgeschichten kenne. Wenn ein Vampir umzieht, muss er Heimaterde mitnehmen. Der Vampir tritt übrigens nur ein, wenn er ausdrücklich eingeladen wird. Kommt deshalb die Schlange nicht ins Auto? Weil Heather ihr nicht gesagt hat, dass sie kommen soll?
Ein weiteres Mal, wie auch in "Liebe", die Vorstellung, dass jemand tot und lebendig zugleich sein kann; vielleicht ein Zwischenzustand?

Wüste Assoziationen von meiner Seite ... :apenosee

ps. Wenn "Besuchsrecht" in der Psychiatrie spielt (schließe ich aus euren Kommentaren), werde ich diese Story erstmal auslassen. Ich habe gerade "Ich bin nicht da" von Lize Spit gelesen und kann das nicht schon wieder.