8. Leseabschnitt: Tirra (S. 195 bis S. 219)

Literaturhexle

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Tirra ist alleinerziehend, hat ihren Mann nach Tätlichkeiten verlassen. Der kleine Sohn Noah ist Asthmatiker, was ihn zum Außenseiter macht. Geschildert werden mehrere Ereignisse, die den Jungen geprägt haben und ihn evtl. radikalisierten. Der Vorwurf "gruseligen Gedankengutes" und die folgende polizeiliche Durchsuchung waren laut seiner Mutter "der Anfang vom Ende" (209).

Tirra ist die Frau, mit der sich Kristianna an dem Abend des Flüchtlingsessens unterhält. Die beiden Mütter haben einen Zugang zueinander, Tirra hat natürlich den Vorteil, dass sie weiß, wessen Mutter K. ist. Sie möchte sich ihr erklären, möchte sagen, dass ihr Sohn (Nouh S.) der Attentäter im Feathers war. Sie schafft es aber nicht.
Einig sind sich die Frauen, dass sie zwar nicht alles richtig gemacht haben, aber sie sich keine Schuldvorwürfe machen sollen. Sehr bewegend!
 

Mikka Liest

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Ich muss sagen, hier war ich erst auf dem vollkommen falschen Pfad – da ich auch hier davon ausging, dass wir uns zeitlich "Nach Matthias" befinden. Aber es dauerte nicht lange, bis klarwurde, dass Noah kein kleiner Junge mehr ist, und dann ergab auf einmal alles einen neuen Sinn.

@Literaturhexle

Noahs Geschichte ist ziemlich tragisch. Als ihm das "gruselige Gedankengut" vorgeworfen wurde, als die Polizei bei ihm auftauchte, da war er doch im Grunde noch ein unschuldiges Kind – ein freundliches Kind voller Empathie sogar. Aber der stete Tropfen höhlt den Stein...

Als er so angefeindet wurde von dem Fahrer des Elektromobils, habe ich vor Wut den Satz ausgekritzelt und einen zornigen Smiley daneben gemalt. Was für ein ignoranter, arroganter Mistkerl! Und so etwas wie ein herablassendes "Du nicht verstehen? Du etwa beschränkt?" hören Menschen, die anhand ihres Aussehens nicht in die Landesnorm passen, sicher viel zu oft.

Ich war im Endeffekt froh, dass Tirra Kristanna nicht gesagt hat, dass ihr Sohn der Attentäter war. Ich glaube, das hätte die ohnehin traumatisierte Kristianna zutiefst verletzt und Tirra auch nicht geholfen, denn dann wäre diese Begegnung wahrscheinlich nicht so friedlich und einvernehmlich geendet.

Mir tun beide Frauen gleich leid. Sie haben beide ihre Söhne auf traumatischste Art verloren und müssen damit ins Reine kommen, dass es nicht ihre Schuld war.
 
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parden

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Mir tun beide Frauen gleich leid. Sie haben beide ihre Söhne auf traumatischste Art verloren und müssen damit ins Reine kommen, dass es nicht ihre Schuld war.
Ja, es ist für beide eine fürchterliche Situation. Aber während Kristianna 'einfach' nur trauern und mit dem Schicksal hadern darf, ist Tirra die Mutter eines Mörders. Die Mischung an Emotionen wünsche ich keinem.
 
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Mikka Liest

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Ja, es ist für beide eine fürchterliche Situation. Aber während Kristianna 'einfach' nur trauern und mit dem Schicksal hadern darf, ist Tirra die Mutter eines Mörders. Die Mischung an Emotionen wünsche ich keinem.

Das ist wohl immer entsetzlich... Ich habe vor einigen Jahren mal eine Doku gesehen, wo es ganz allgemein um das Thema Vergebung ging (es war ganz erstaunlich, was für eine Stärke manche Menschen fanden, um zu vergeben!). Da wurde auch mit zwei Müttern gesprochen, deren Söhne etwas Schreckliches verbrochen hatten, und während die eine sagte: "Ich habe keinen Sohn mehr, ich liebe ihn nicht mehr, das kann und will ich ihm nicht verzeihen", sagte die andere: "Ich verzeihe es ihm nicht, aber er ist dennoch mein Sohn und ich werde ihn immer lieben".

Tirra erinnert mich an die zweite Mutter, und ich kann verstehen, dass man die Liebe zu einem Kind, das man großgezogen hat, nicht einfach abstellen kann oder will. Wo und wie will man da die Grenze ziehen? Aber das muss eine Mutter innerlich zerreißen...
 

Sassenach123

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Für mich fühlt es sich fast so an, als ob Tirra nicht nur eine Trauer zu bewältigen hat, sondern zwei. Sie trauert trotz der schrecklichen Tat um ihren eigenen Sohn, ist zerfressen von Schuldgefühlen, und trauert auch wegen des Verlustes, dessen Verantwortung ihr Sohn trägt. Schrecklich! Die Vermutung das sie auch ein Kind begraben musste, kam mir schon ganz am Anfang des Leseabschnitts, doch mit dieser Enthüllung habe ich überhaupt nicht gerechnet. Ich finde es schön,maß der Autor diese zerbrechliche Seite hinter dem Attentäter zeigt. Auch diese Menschen haben eine Familie, Menschen die nun trauern. Doch wer gesteht sie ihnen zu? Ich kann mir vorstellen, dass man den Makel selbst nie loswerden, auch wenn einen selbst keine Schuld für die Taten des anderen treffen.
 

Mikka Liest

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Die Vermutung das sie auch ein Kind begraben musste, kam mir schon ganz am Anfang des Leseabschnitts, doch mit dieser Enthüllung habe ich überhaupt nicht gerechnet.

Ja, das hat mich auch überrascht! Wie du dachte ich auch, sie habe ein Kind verloren, und sie hätte zu Kristianna nur deshalb erst Abstand gehalten, weil sie nicht an ihre eigene Trauer erinnert werden wollte. Ich fand es sehr stark von ihr, dass sie darauf verzichtet hat, Kristianna zu "beichten", um sich selber besser zu fühlen.