Boah! Jetzt hat mich Kristensen mit diesem Ende aber nochmal richtig aus dem Coctailsessel gehoben! Man hatte sich so schön eingegroovt in diese Whiskybruderschaft, in die immer ähnlichen Gespräche, den stets hohen Alkoholpegeln... Und dann passiert endlich mal richtig was! Was anderen den Boden unter den Füßen wegziehen würde, kostet Jastrau nur ein müdes Lächeln ("Welche Erlösung! Befreiung!)". So stark hat er schon den Realitätsverlust erlitten, er lebt wie in einem Traum, wie in einer Halluzination - diese Empfindungen werden immer wieder deutlich gezeigt - umnebelt vom Rausch.
Tatsächlich hätte Ole seinem Kumpan einen Mord zugetraut. In dieser Frage schenkt uns der Autor allerdings Gewissheit: Anna lebt!
Ich bin begeistert, wie genial Kristensen den Roman zum Ende bringt! Ich sehe meine Theorie bestätigt, dass Kryger Jastrau loswerden will. Vielleicht steckt auch wirklich Luise dahinter. Sie ist älter, reifer, hat evtl. ein Helfersyndrom. (Wobei man sich fragen muss, welchen praktischen Nutzen der kommunistische Säufer Jastrau für den honorigen Professor in Berlin haben soll...). Mit dieser Hilfe öffnet sich theoretisch für Jastrau eine Perspektive. Aber eben nur theoretisch. Den Drive, diese Chance zu ergreifen, hat er m.E. nicht.
Er sitzt neben dem "ewigen Kjaer" (toller Name, denn der schwer atmende, überängstliche, adipöse Mann ist gewiss nicht ewig, auch wenn er ewiges Geld zu haben scheint), schaut sich die Welt an und müsste SEHEN, wie Kjaer zugrunde geht, wie er seinen Verstand versäuft, sich an nichts mehr erinnern kann, gestützt werden muss etc.
Kjaer zeigt Jastrau, wo der Suff hinführt, aber Jastrau will es nicht sehen. Um mit Perspektive nach Berlin zu reisen, müsste er sich Klamotten kaufen, zu saufen aufhören. Das schafft er nicht. Er träumt lieber von der Erde und dem schnellen Tod. In helleren Momenten erkennt er allerdings auch das Obdachlosenheim als reelle Alternative. Manchmal gesteht er sich auch ein, ein Trinker zu sein. Konsequenzen zieht er daraus jedoch nicht.
Eine gescheiterte Ehe und eine aufgegebene Stelle. Hier stand er. Schlägerei und zerstörte Fensterscheiben. Jämmerliche Verführung und Treulosigkeit. Lächerliche Konversion und Feuersbrunst. Halluzinantion und Absturz. 606
Im letzten LA hatte ich die Befürchtung, dass der Autor uns eine unrealistische Rettung bescheren will. Welch ein Glück, dass er es nicht tut! Kjaer ist klug. Er kennt sich selbst, er kennt den Charakter des Säufers und deshalb kennt er auch Jastrau. Er weiß, dass Bargeld in dessen Hand nicht in eine Fahrkarte angelegt würde. Deshalb gibt es "Naturalien". Es bleibt offen, ob diese Fahrkarte je eingesetzt wird. Ich sage: Nein.
Steffensen hatte von Beginn an andere Voraussetzungen als Jastrau, der von proletarischem Herkommen ist. Stefans Vater ist extrem reich. Ich interpretiere die Tatsache, dass Steffensen den Namen seines Vaters wieder angenommen hat so, dass er sich mit diesem ausgesöhnt hat. Wahrscheinlich unter Mitwirkung des Paters, der ihm auf den "rechten Weg" zurückgeholfen hat. Schön, dass auch diese Frage dem Leser überlassen bleibt. Wer Geld im Rücken hat, kann sich manchen Fehltritt leisten. Das beweisen Kjaer und Stefan. Jastrau hat diese komfortable Position nicht. Er ist realistisch betrachtet dem Untergang geweiht.
Auch Lille P. ist ein Spiegel, eine Weissagung:
Es wird dir nicht gelingen. Ich habe es auch mal versucht, Jazz. Aber man kommt unweigerich zurück in die Bar des Artistes. Kennst du den Ameisenlöwen? 563
Ist der Ameisenlöwe eine Metapher für die Kneipen dieser Welt, die die Säufer anziehen und in die Tiefe reißen? Mit anderen Worten: Es gibt kein Entkommen für die Ameisen? Die Warnung: "Du solltest dich für den Ameisenlöwen interessieren", aus dem Mund von Kjaer lässt darauf schließen.
Dieser letzte Abschnitt hat mich sehr beeindruckt. Wir bleiben dicht an Jastrau dran, der sich tatsächlich auch mal fragt:
Was ist passiert? Wieso war er ein anderer Mensch? Es war zu einer Verschiebung seines Ichs gekommen. 595
Auch Vera hat gesagt, er sei ein netter Kerl, wenn er nüchtern ist.
Das zeigt uns, dass es tatsächlich der Suff ist, der Ole Jastrau aus der Bahn geworfen hat. Das "Plemplem" des Bierkutschers zeigt seine Wirkung auf völlig Fremde.
Dieses Lied zum Abschluss aus dem Mund des ewigen Kjaer: Schau nach vorn und nie zurück. Wie treffend ist das an dieser Stelle?! Es sollte Ole ein Weckruf sein, aber er hört ihn nicht. Die Bar als Wohnzimmer - aber nur solange man Geld in der Tasche hat.
Tief beeindruckt klappe ich den Wälzer zu, der mir zwischenzeitlich auch einiges an Geduld abverlangt hat, mich mit diesem Ausgang aber schwer versöhnt.