8. Leseabschnitt: Kapitel XXXV bis XL (Seite 550 bis 628)

tinderness

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Wien und Wil
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Zwei Frauenschicksale: Ich habe ja während meiner Lektüre des Dr. Faustus oft zur bürgerlichen Unbedarftheit des Erzählers, was die Stellung der Frauen betrifft, geäussert. Nun jedoch, in Kapitel 35 muss ich mein Urteil revidieren, wenn vom Selbstmord von Clarissa Rodde und von der Drogensucht von Ines Institoris erzählt werden. In beiden Fällen stehen wohl die Männer als Verursacher oder zumindest Mitauslöser ihrer tragischen Schicksale ausser Frage. Die Versuche der Schwestern, sich mit den grausamen Konventionen der bürgerlichen Gesellschaft abzufinden, sie für sich zu akzeptieren und ein wenigstens ruhiges, wenn auch nicht sinnerfülltes Leben zu führen, sind offenkundig zum Scheitern verurteilt. Die Männer und die von ihnen getragen Konventionen, ihr inakzeptabler charakterlicher Zustand und ihre Unfähigkeit zum zwischenmenschlichen Verständnis fordern haben tragische Konsequenzen: und diese haben die beiden Frauen mittel- und unmittelbar zu tragen. SZ ist wohl in beiden Fällen erschüttert von den Ereignissen in seinem Bekanntenkreis: seine Sympaty gehört offensichtlch ganz ihnen. Das tut, nach so viel männlicher Ignoranz des Erzählers dem Leser und der Leserin geradezu gut.
 
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tinderness

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Wien und Wil
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Aber nun doch wieder, "bedürftige Frauenseelen": Doch bald schon ist sie wieder da, die Ambiguität, in der sich Frauen bei Thomas Mann wiederfinden: diesmal in Gestalt von drei Frauen, die Adrian Leverkühn mit ihrer bedürftigen Aufmerksamkeit überschütten, man muss wohl auch sagen, auch gerne bereit sind, ihn auszuhalten. Damit erklärt sich vielleicht auch die Frage von @Die Häsin, womit sich wohl der Genius seinen Lebensunterhalt bestreite. Wie meint der Erzähler: "Ich habe von bedürftigen Frauenseelen gesprochen, die sich durch uneigennützige Hingebung einen bescheidenen Platz in dem sicherlich unsterblichen Leben dieses Mannes eroberten" (Kapitel 36). Diese Hingebung hat natürlich auch pekuniären Charakter, auch wenn sich der Erzähler über die Nennung derartiger Peinlichkeiten elegant hinwegzuschwindeln versucht. Adrian "nippt" (sic!) "an der fast königlichen Lebensform" seiner überaus reichen Gönnerin, wie er sich auch schon früher von den beiden anderen VerehrerInnen sich mit Naturalien durch die Notzeiten des Ersten Weltkrieges hat durchfüttern lassen. Zu Gegenleistungen ist er allerdings nicht bereit: seine männliche Genialität muss wohl genügen.
 
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Die Häsin

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Rhönrand bei Fulda
Bei jener unermesslich reichen Fürstin - ich habe den Namen leider schon wieder vergessen - hat es mich richtiggehend gebeutelt, zu lesen, wie sich der Aufenthalt auf ihrem Schloss gestaltet hat. Leider ist mir die Stelle schon nicht mehr genau geläufig und ich kann gerade nicht suchen gehen, aber ich glaube, es ist Schwerdtfeger, der dem Erzähler davon berichtet: Das Schloss ist mit verschwenderischen Luxus ausgestattet, aber die Dorfbevölkerung ist so arm, dass sie unter unzumutbaren hygienischen Bedingungen lebt und bei Dunkelwerden ins Bett muss, weil es keine Kerzen gibt. Das kommt so völlig unreflektiert daher bei Schwerdtfeger, als hätte er ein Museumsdorf besichtigt. Ähnliche Stellen habe ich übrigens auch bei Wassermann gefunden, im "Christian Wahnschaffe" - Wassermann war Zeitgenosse Manns.
 

tinderness

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Über Wortmächtigkeit: KainUndAber hat in seiner Youtube-Rezension zum Dr. Faustus nicht überraschend auf die Wortmächtigkeit von Thomas Mann aufmerksam gemacht (siehe Video, ab 4:30). Insbesondere die Szene zwischen dem Teufel und Adrian Leverkühn nötigt ihm Bewunderung ab, weil hier "mit einem Fingeschnippen" (so drückt er es salopp aus) der Erzähler ins Mittelhochdeutsche wechselt und dem Teufel ein Lutherdeutsch in den Mund legt, welches an Derbheit und Brutalität nichts zu wünschen übrig lässt. (vgl. Kapitel 25). Dem kann ich nur zustimmen. Auch ich war hell begeistert, wie hier mit dem Wechsel der Sprachebenen die Situation erst "erschaffen" wurde.

Wo mir aber die Virtuosität und das schriftstellerische Können Thomas Manns ganz besonders aufgefallen ist, war nicht allein die "Teufelsszene", sondern vor allem im Kapitel 37 der Monolog des (von Thomas Mann so bezeichneten) "dummen" Veranstaltungsagenten, welcher Adrian Leverkühn mit allerlei Schmeicheleien zur Aufführung einer seiner Stücke bewegen will, einem Manager der Neugier der mondänen Gesellschaft namens Saul Fitelberg. Erfolglos allerdings. Frappant wie hier ein Monolog fast wie ein Zwiegespräch zwischen beiden Interessensparteien wirken kann, wie sich hier ein Mensch geistig und menschlich entblösst, dem man eigentlich zunächst einmal als eloquent und belesen und vollgesogen mit Kultur bezeichnen möchte. Vielleicht aber ist es auch die zeitliche Distanz, die uns mehr als 70 Jahre nach Erscheinen des Romans dieses falsche und viel zu ehrenhafte Urteil abringt. Natürlich gibt es aalglatte Sprache auch heute bei all denen, die uns unentwegt ihre Dinge und Dienste verkaufen wollen, jedoch deutlich brutalisiert und verkürzt, wie Sprache eben im Internet und hier vor allem in den Sozialen Medien bis zur Unkenntlichkeit verkümmert ist: mehr Englisch als Deutsch, aber auch im Englischen entsetzlich entstellt und eigentlich nichts als zum Rudimentärsten verknappte Sprache.

In der historischen Distanz wirkt die Sprache des Saul Fitelberg zunächst noch bildungsbürgerlich eloquent, ist aber letztlich eine Sprache, die genau das Gegenteil von dem darstellt, womit uns Thomas Mann verwöhnt. Es ist, und man kann es nicht oft genug betonen, die Sprache der (bürgerlichen) Halbbildung, die uns der Autor hier fulminant und virtuos vor Augen führt. Vom Französischen ins Deutsche und wieder zurück ins Französische springend, von Namedropping zu Namedropping springend, von Kompliment zu Kompliment, weiss Herr Fitelberg vordergründig in allen, auch unangenehmen Situationen, gute (aber dümmliche) Miene zu machen (Sehen Sie, da breite ich meinen Zaubermantel aus!) Ein wunderbares, aber auch wunderbar quälendes Kapitel! Das muss Herrn Mann erst eine/r einmal nachmachen!
 
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Ich habe mich bei diesem Fitelberg, der mich selbst mehr oder weniger sprachlos zurückgelassen hat, die ganze Zeit über gefragt, was er eigentlich will. Er lässt ja Leverkühn gar nicht zu Wort kommen, schraubt aber von selbst seine Zumutungen immer weiter zurück, bis gar nichts mehr übrig bleibt und er unaufhörlich weiterlabernd zur Tür hinaus retiriert. Wozu ist der überhaupt gekommen? Es ist eine Weile her, dass ich die Szene gelesen habe, aber ich erinnere mich noch, wie sie mir unglaublich bildhaft vor Augen stand - dieser Monolog wäre eine herrliche Herausforderung für einen komödiantischen Schauspieler.
 

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Ich habe mich bei diesem Fitelberg, der mich selbst mehr oder weniger sprachlos zurückgelassen hat, die ganze Zeit über gefragt, was er eigentlich will.

Nun, ich habe das Gefühl, und korrigiert mich, wenn ich übertreibe, Fitelberg hat seinen Auftritt allein TMs Willen, geschäftstüchtige Juden im schlechten Licht dastehen zu lassen, zu verdanken. Dazu musste Fitelberg, ganz ohne Not, sich selbst mehrmals zu seiner Herkunft bekennen und gleich die Substanzlosigkeit seiner Angebereien zugeben.
Für dieses Kapitel verurteile ich TM (und mir fällt gleich auf, dass TM im Englischen für Trade Mark steht...)
 

tinderness

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Nun, ich habe das Gefühl, und korrigiert mich, wenn ich übertreibe, Fitelberg hat seinen Auftritt allein TMs Willen, geschäftstüchtige Juden im schlechten Licht dastehen zu lassen, zu verdanken.
Auch Juden dürfen als geschäftstüchtig beschrieben werden, ohne dass dies gleich dem Antisemitismusurteil unterliegen muss. Man kann T.M. nur schwerlich bewussten Antisemitismus vorwerfen, wenngleich seine Position zum Judentum eine durchaus ambivalente war. Ihn in einem Atemzug mit dem nationalsozialistischen Rassenwahn zu nennen, lehne ich mit Entschiedenheit ab.
 

Emswashed

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Ihn in einem Atemzug mit dem nationalsozialistischen Rassenwahn zu nennen, lehne ich mit Entschiedenheit ab.
Recht hast Du! Ich dachte dabei auch nur an die eine Seite der "geschäftstüchtigen" Juden, denen aus vielen Richtungen, vor allem der schlechtergestellten Bevölkerungsschicht, der kalte Wind des Neids entgegenblies und die deshalb mit allerlei Verunglimpfungen ihres Gebarens belegt wurden. In diese Kerbe schlägt TM. Er hätte diesen aufdringlichen Mann ruhig eine ungewisse Herkunft angediehen lassen können und es wäre derselbe Monolog gewesen.
 

Emswashed

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Am Ende des 8. Abschnitts beginne ich mich zu fragen, was denn jetzt noch Leverkühn Außergewöhnliches zustoßen könnte, um seinen Teufelspakt herauszustellen und dem Titel des Romans gerecht zu werden.
Mehr als 600 Seiten sind wir dem gesellschaftlichen Treiben der Künstlerszene gefolgt, durchaus mit Unterhaltungswert, aber dem vorläufig dramatischen Verbleiben seiner zwei Ärzte, konnte nichts mehr hinzugefügt werden.
Die Verlobung mit Marie steht an. Wird sie Leverkühns Gretchen?
 
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