8. Leseabschnitt: Fünfzehntes bis Sechzehntes Kapitel (S. 458 bis 496)

Anjuta

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8. Januar 2016
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Essen
Das Ringen darum: Wie gehe ich mit dem Deutschland am Ende des Krieges und auch nach dem Krieg, nach der Niederlage der Nazis um, wird immer präsenter im Roman und interessiert mich auch sehr stark. Zum Beispiel dieses Zitat, das Zeitblom in den Mund gelegt wird:
Er konnte sich keinen Triumph der deutschen Streitkräfte wünschen, weil das, was Hitler an die Macht geführt hatte, jede Faser seiner grundanständigen Seele empörte. Wenn der Faschismus überlebte, würde das Werk seines verstorbenen Freundes, des Tonsetzers Leverkühn, im Dunkeln bleiben, würde diese neue Musik vielleicht die nächsten hundert Jahre als 'entartet' verboten bleiben; die Musik würde ihre eigene Epoche verpassen .....
Kann man sich deshalb nach der Niederlage des eigenen Landes sehnen? Für uns eine sicher aus der Nachschau einfachere Frage als zu der Zeit als die Menschen mitten drin steckten und bei Mann durch die Exil-bedingte Ferne auch noch potenziert wurde. Nach Auschwitz ist vieles nicht mehr möglich, das ist vielen klar. Aber was ist noch möglich? Irgendwie muss es ja weitergehen. Thomas Mann zerreißt die Frage der Rückkehr, ja oder nein?
'Niemand hat Einwände erhoben, als ich 1933 das Land verließ', sagte er, 'aber jetzt meinen sie, es sei meine Pflicht zurückzukehren. Und das Seltsame ist, dass ich von wildfremden Menschen Schmähbriefe bekomme, aber niemand, den ich früher kannte, von sich hören lässt.'
 

Literaturhexle

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Mir ergeht es hier wie Anjuta. Dadurch, dass T.M. ziemlich nah an den amerikanischen Entscheidungsträgern dran ist, bekommen wir viel von deren Denkweise mit. Es war wichtig, dass sich die Amerikaner in den Krieg eingemischt haben. Man kann aber auch Kritiker verstehen, die sagten, es ist nicht unsere Misere, und dass mancher auch dem privilegierten, reichen Nobelpreisträger skeptisch gegenüberstand. Kaum jemandem ging es so gut wie Familie Mann. Auch sind Amerikaner im Krieg gefallen. Die Unterschiedlichkeit der Positionen wird im Roman Rechnung getragen.
Katia und Thomas wollen nicht in die Heimat zurück. Der Entschluss dürfte nicht leicht gefallen sein. Wir sehen ja auch aktuell, wie tief Flüchtlinge in ihrer ursprünglichen Kultur verwurzelt sind. Niemand mag seine Identität aufgeben.

Die Kinder Mann engagieren sich im Krieg, verlieren anschließend aber ihre Aufgaben. Obwohl T.M. ein Preuße alter Schule war mit geregelten Arbeitszeiten und Pflichtbewusstsein, hat er es versäumt, diese Tugenden an seine älteren Kinder weiterzugeben. Mit großer Selbstverständlichkeit hängen sie an Vaters Tropf, werden gleichzeitig aber nicht müde, ihn zu kritisieren. Ideale machen meistens nicht satt. Dasselbe gilt für Heinrich. Er braucht das Geld seines kleinen Bruders, ist aber von Neid erfüllt und gönnt ihm den Erfolg nicht wirklich.

Interessant der Besuch von Katias Bruder, der den "Tod in Venedig" deutlich kritisiert (Stichwort: Päderasten). Thomas wird gebeten, aus seinem neuen Buch, dem Doktor Faustus, vorzulesen. Er wählt eine ungeschickte Szene, in der er einen lieblichen Jungen sterben lässt, der augenscheinlich seinem Enkel Frido nachempfunden ist, mit dem er sich liebevoll während seines Besuchs beschäftigt hatte. Ich kann Katias Ärger verstehen!

Auf Seite 474 bekomme ich eine Antwort auf meine Frage, warum Katia Thomas heiratete:
Mein Vater war ein Schürzenjäger. Er konnte nichts dagegen tun. Sah er eine Frau, wollte er sie haben. Mit deinem Vater habe ich das Problem nie gehabt.

Klaus ist das Problemkind. Man kann ihm kaum helfen. Gibt man ihm Geld, ist es ruckzuck ausgegeben, ihm fehlt Raum und Maß in jeder Richtung. Auch sein Freund Harold ist ein weiterer Unsicherheitsfaktor. Ich kann mir gut vorstellen, dass die anderen Geschwister unter dieser Aufmerksamkeitsdominanz von Klauserika sehr gelitten haben müssen. Eltern kümmern sich immer mehr um ihre Problemkinder, die anderen kommen tendenziell zu kurz.

Im Doktor Faustus ist der Held dem Komponisten Schönberg nachempfunden, dem diese Ehre im echten Leben Schwierigkeiten macht... Zum Glück verzichtet er auf eine Klage, das wäre wohl auch im damaligen Amerika nicht ganz billig gewesen - von wegen Schadenersatz.
Erika wird vom FBI verhört und macht sich bei ihrem Vater dermaßen nützlich, dass sie den Eltern Mann auf die Nerven geht. Man plant eine große Europareise und möchte auch Deutschland besuchen - zum Missfallen Erikas.
 
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RuLeka

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30. Januar 2018
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Die Unterschiedlichkeit der Positionen wird im Roman Rechnung getragen
Auch das hat Tóibín schlüssig und nachvollziehbar dargestellt.
Die Kinder Mann engagieren sich im Krieg, verlieren anschließend aber ihre Aufgaben
Thomas gibt Erika eine Aufgabe, als seine Sekretärin und „ Managerin“. So ist sie gut versorgt und Katia wird entlastet. Allerdings liest man heraus, dass die Eltern schon unter der rigiden Herrschaft unter ihrer Tochter gelitten haben.
Klaus konnte schreiben, doch mittlerweile ist er dazu nicht mehr in der Lage. Sein Weg führt zielstrebig in die Katastrophe.
Bei den Kindern zeigt sich mal wieder die alte Regel.
„Die erste Generation schafft Vermögen, die zweite verwaltet Vermögen, die dritte studiert Kunstgeschichte, und die vierte verkommt.“ ( Otto von Bismarck)
der augenscheinlich seinem Enkel Frido nachempfunden ist
nicht augenscheinlich, sondern tatsächlich
Auf Seite 474 bekomme ich eine Antwort auf meine Frage, warum Katia Thomas heiratete:
Dieser Satz macht auch deutlich, dass Katia von den heimlichen Wünschen ihres Mannes wusste.
Im Doktor Faustus ist der Held dem Komponisten Schönberg nachempfunden, dem diese Ehre im echten Leben Schwierigkeiten macht... Zum Glück verzichtet er auf eine Klage, das wäre wohl auch im damaligen Amerika nicht ganz billig gewesen - von wegen Schadenersatz
Schmeichelhaft ist es für ihn auf keinen Fall. Da wundert es eher, dass er nicht geklagt hat. Aber vielleicht fürchtete er , dass die Sache damit noch stärker publik wird.
Kann man sich deshalb nach der Niederlage des eigenen Landes sehnen? Für uns eine sicher aus der Nachschau einfachere Frage als zu der Zeit als die Menschen mitten drin steckten und bei Mann durch die Exil-bedingte Ferne auch noch potenziert wurde. Nach Auschwitz ist vieles nicht mehr möglich, das ist vielen klar. Aber was ist noch möglich? Irgendwie muss es ja weitergehen. Thomas Mann zerreißt die Frage der Rückkehr, ja oder nein?
Eine schizophrene Situation. Jeder aufrechte Deutsche musste sich den Untergang des Regimes und damit die Niederlage und Zerstörung Deutschlands wünschen ( denn vorher hätten die Nazis nicht aufgegeben). Auch wenn einem bewusst war, dass dabei viele Unschuldige ( v.a. Kinder, denn die hatten noch nicht bewusst den Nazis zugejubelt) zu den Opfern zählen. Und wie lebt man danach weiter, mit der Schuld und mit den Tätern, denn viele wurden ja nicht verurteilt? Die Familie Mann hat sich ja danach für die Schweiz entschieden, ebenfalls deutschsprachig , aber mehr oder weniger unbelastet.
 

Literaturhexle

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Dieser Satz macht auch deutlich, dass Katia von den heimlichen Wünschen ihres Mannes wusste.
Man KANN es so interpretieren, aber man muss nicht;)
Sie sagt nicht mehr dazu. Es gibt auch Männer (und Frauen), die einfach nicht zum Fremdgehen neigen, auch ohne homosexuell zu sein.
Aber ich weiß, was du meinst und ich weiß auch, dass Toibin genau das damit ausdrücken wollte.
 

Wandablue

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Brandenburg
Ernst Bertram. Das /er ist heikel. So viele Leute, auch Strauß und Lehar (?) - haben sich gemütlich eingerichtet gehabt. Warum sollten sie, wenn sie profitierten, sich distanzieren? Aber Betram erst. Der wirklich Aktivist war. und keine Reue zeigt.

Ich fürchte, bestimmte Leute müsste man schneiden.
Ganz schlimm, dass so viele Menschen, die nicht umgedacht haben, wieder in führende Positionen gelangten.

Es wird klar, dass Katia aus der Ehe ihrer Eltern gelernt hatte: Sie wollte ihren Mann mit niemandem teilen. Ein paar Gucker hier und da, pfft. Sie war eine moderne Frau. Mit der heutigen Sucht nach Internetpornografie überhaupt nicht zu vergleichen, der viele Männer frönen. Thomas Mann war harmlos in seinen Neigungen. Für seine Neigungen kann man vllt nicht, aber dafür, wo sie einen hinführen. Thomas Mann machte das gut und klug. Er heiratete eine Frau, die ihn verstand, er gründete eine Familie und er sublimierte seinen Trieb mit seinen Romanen (würde Freud sagen ;-).
 

Sassenach123

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Der hohe Besuch aus Japan in Form von Klaus Pringsheim war alles andere als ein freudiges Wiedersehen. Ein wirklich unsympathischer Mensch.
Klaus rutscht immer weiter ab. Der Selbstmordversuch wirkt wie ein Hilferuf und so als ob er es ernsthaft versucht hat. Man kann es allerdings nie wissen.
Nun bin ich sehr gespannt darauf wie die Manns in Deutschland aufgenommen werden.
 
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Sassenach123

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Es wird klar, dass Katia aus der Ehe ihrer Eltern gelernt hatte: Sie wollte ihren Mann mit niemandem teilen. Ein paar Gucker hier und da, pfft. Sie war eine moderne Frau. Mi
Diese Erkenntnis aus dem Verhör mit Elisabeth war recht aufschlussreich. Bewundernswert mit welcher Nonchalance Katia auf das Verhör reagiert, manch anderer wäre aus der Haut gefahren. Elisabeth ist nicht mehr das liebe, nette und verständnisvolle Kindchen, aus ihr ist eine zynische Frau geworden
 

Sassenach123

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Die Kinder Mann engagieren sich im Krieg, verlieren anschließend aber ihre Aufgaben. Obwohl T.M. ein Preuße alter Schule war mit geregelten Arbeitszeiten und Pflichtbewusstsein, hat er es versäumt, diese Tugenden an seine älteren Kinder weiterzugeben. Mit großer Selbstverständlichkeit hängen sie an Vaters Tropf, werden gleichzeitig aber nicht müde, ihn zu kritisieren. Ideale machen meistens nicht satt. Dasselbe gilt für Heinrich. Er braucht das Geld seines kleinen Bruders, ist aber von Neid erfüllt und gönnt ihm den Erfolg nicht wirklich.
Ob Thomas Mann sich auch manchmal geärgert hat über die Art seiner Kinder. Er wird vom Autor ja immer sehr ruhig und beherrscht beschrieben, aber wenn man mal genau schaut, ist ja wirklich nicht alles rosig bei den Sprösslingen.
Aber ich denke da ging es dem Ehepaar wie den meisten Eltern, man sieht dann am Ende doch darüber hinweg und hilft wo man kann. Wobei Klaus zum Beispiel Hilfe anderer Art braucht, ihm immer Geld zu geben wird seinen Leidensdruck wahrscheinlich nur verlängern
 

Wandablue

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Brandenburg
@RuLeka : absolut richtig. Der Satz ist halt in seiner Absolutheit nicht ganz korrekt, sonst enthält er durchaus Wahrheitskörner. Wir brauchen generell Menschen, die die Wahrheit sagen und sich trauen, sie zu äußern. Gerne gelitten sind sie nicht. Damals nicht und jetzt auch nicht. Eigentlich hätte da so was stehen müssen wie, keiner mag einen vorlauten Deuschen, der die Klappe nicht hält, selbst wenn er ein Wahrheitssager ist. Na ja, ich weiß, das ist bisschen kleinlich. ;-).
 

milkysilvermoon

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13. Oktober 2017
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Obwohl T.M. ein Preuße alter Schule war mit geregelten Arbeitszeiten und Pflichtbewusstsein, hat er es versäumt, diese Tugenden an seine älteren Kinder weiterzugeben. Mit großer Selbstverständlichkeit hängen sie an Vaters Tropf, werden gleichzeitig aber nicht müde, ihn zu kritisieren. Ideale machen meistens nicht satt. Dasselbe gilt für Heinrich. Er braucht das Geld seines kleinen Bruders, ist aber von Neid erfüllt und gönnt ihm den Erfolg nicht wirklich.

Ich finde diese Diskrepanz zwischen Thomas und seinen Kindern nach wie vor frappierend. Er ist immer diszipliniert, höflich, umsichtig, diplomatisch usw. und hat damit nach wie vor Erfolg und bekommt Anerkennung. Erika, Klaus, Monika, Heinrich und in weniger ausgeprägter Form auch die anderen sind unselbstständig und bekommen alleine einfach nichts auf die Reihe. Wo sollen sie mal enden, wenn die Unterstützung wegfällt, zum Beispiel wenn Thomas mal nicht mehr ist? Macht sich Thomas darüber keine Gedanken? Die Kinder sind inzwischen so alt. Wann wollen sie mal erwachsen werden? Es ist ein Drunter und Drüber. Mich würde es an Thomas‘ Stelle schier wahnsinnig machen. Stattdessen sponsert er Dutzende Familienmitglieder und hat noch ein schlechtes Gewissen, weil er sich selbst etwas Luxus gönnt.


@Sassenach Die meisten Eltern würden sich schon ernsthafte Sorgen machen und sich darum kümmern, ihre Kinder lebenstauglich zu machen. Es sind schließlich keine Kleinigkeiten, über die man mal hinwegsehen kann. Er soll sie ja nicht verstoßen, aber einfach nur zusehen?