7. Leseabschnitt: Seite 244 bis 274

Literaturhexle

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2. April 2017
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Hier besprechen wir "Wie man mit Menschen umgeht, die einem literarisch (und gesellschaftlich) unterlegen sind", Seiten 244 bis 274.
 

Literaturhexle

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2. April 2017
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Erneut gibt es Episoden über Barnes Lieblingsobjekt Montesquieu. Einmal prellt er die lit. Gesellschaft um einen alten Gobelin, ein anderes mal einen verarmten Künstler. Im Kern nichts Neues.

1910 geht Pozzi auf seine längste Reise nach Südamerika. Er ist erneut beeindruckt von der modernen, internationalen Ausstattung der Krankenhäuser. Insbesondere der Umgang mit Geisteskranken, die sinnvoll beschäftigt und gewaltfrei behandelt werden, beeindruckt ihn, weil die Zustände in Europa völlig andere sind.

Weitere Einblicke in die Familie Pozzis:
Catherine empfindet sich selbst als moralisch leidend, sie fühlt sich unbefriedigt, gequält und wütend. Von ihrem Mann getrennt verfolgt sie monarchistische Ansätze. Mit ihrem Bruder Jean lebt sie in ewiger Fehde. Selbst zum Tode ihrer Mutter findet sie nur harte, herablassende Worte. Der jüngere Bruder Jacques hat offenbar am meisten unter den Verhältnissen gelitten. Bereits mit 10 Jahren gilt er als retardiert. Er diente im Krieg, was ihn sich auch nicht stabiler gemacht hat. Anschließend wird er psychotisch und kommt in eine psychiatrische Klinik. Nach dem Tod der Mutter wird Catherine sein Vormund und verbringt ihn in eine fortschrittlichere Schweizer Klinik.

Die zum Teil abwertenden und bösartigen Einträge Catherines in ihrem Tagebuch, lassen mich am Wahrheitsgehalt ihrer Schilderungen generell zweifeln. Sie wirkt wenig empathisch, dogmatisch und hartherzig.

Wieder geht es um Schussverletzungen.
Ein Arzt wird von einem wirren Patienten, der sich falsch behandelt fühlt, niedergestreckt und stirbt wenige Tage später.
Henriette Caillaux streckt den Chefredakteur des Figaro nieder, weil dieser eine bösartige Kampagne gegen ihren Ehemann, den Finanzminister, losgetreten hatte. Sie wurde frei gesprochen! Im Gegensatz zum englischen Rechtssystem gibt es für crime passionnel mildernde Umstände, was auch uns sehr wundern dürfte. der Anwalt kann geltend machen:
"...nicht die Klientin, sondern die ärztliche Zögerlichkeit habe den Redakteur umgebracht." Unglaublich!

Es gab auch eine Petition, die das Ziel eines geringeren Waffenbesitzes in der Bevölkerung hatte, diese lief kurz vor dem Beginn des Ersten Weltkrieges jedoch ins Leere. Das Duell und das Dandytum fanden ebenfalls mit Ausbruch des Krieges ihr Ende. Zum Ende des Abschnitts lesen wir über noch einige weitere seltsame Duelle, die deren Sinnlosigkeit manifestieren.

Montesquiou hat neben Huysmans auch in die Werke anderer Schriftsteller Einlass gefunden. Der berühmteste dürfte Marcel Proust sein. Der Graf will eigene Memoiren verfassen, um den wahren Blick auf sich zu gewährleisten. Auf S. 258 unten blickt er auf seine zwei Reisegefähretn vom Anfang des Romans zurück. Dem Prinzen vergibt er nicht, den Arzt Pozzi beneidet er um sein zufriedenes Leben.

Sarah Bernhardt muss sich ein Bein oberhalb des Knies amputieren lassen. Auch darum ranken sich Gerüchte, das Bein wird sogar Subjekt von leidenschaftlichen Sammlern, die es gerne hätten...:eek:. Man hat das Gefühl, diese Gesellschaft hatte sonst nichts zu tun.

1921 stirbt der Graf. In seinem Nachlass taucht keine "Kugel, die Puschkin tötete" auf, dafür aber die bemitleidenswerte Schildkröte. Auch nach dem Tod hält der Graf noch kleine Gehässigkeiten parat.

Dadurch, dass Barnes oft und gerne verschiedene Episoden erzählt und wieder verlässt, fällt es mir schwer, alles zu behalten und zu sortieren. Manches ist interessant, manches weniger.
 

Die Häsin

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11. Dezember 2019
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Montesquieus Charakterisierung von Pozzi auf Seite 259 deckt sich ungefähr mit meinen eigenen Eindrücken. Ich empfinde einen leisen Neid auf Pozzi. Er ist attraktiv, gebildet, geschmackvoll, reich an Geld und Erfolg und macht nichtsdestotrotz den Eindruck eines viel und gewissenhaft arbeitenden Menschen. Obendrein besitzt er eine Art Resilienz, die andere in seiner Umgebung, Catherine zum Beispiel, nicht zu haben scheinen. Jedenfalls kann ich mir die hadernden Ergüsse, wie Barnes sie aus ihren Tagebüchern und Briefen zitiert, aus Pozzis Mund nicht vorstellen. Er scheint immer mit sich im reinen zu sein. Obwohl man sich da natürlich auch leicht täuschen kann, wenn es nur wenige intime Selbstzeugnisse gibt.
 

Emswashed

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9. Mai 2020
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Sarah Bernhardt muss sich ein Bein oberhalb des Knies amputieren lassen. Auch darum ranken sich Gerüchte, das Bein wird sogar Subjekt von leidenschaftlichen Sammlern, die es gerne hätten...

Schon ziemlich abgefahren, dass sowas damals durchaus möglich war.

Und ich möchte in diesem Abschnitt nur Barnes Selbsterkenntnisse mitnehmen und zitieren:
S. 256 "... weil selbst die reflektierensten Romanschriftsteller oft nicht recht erklären können, was sie eigentlich machen und wie das vor sich geht."
und weiter
S. 267 "Auf Biografien ist noch weniger Verlass als auf einen Roman."

Zum einen bestätigt uns Barnes, dass dieses Potpourri doch eine Biografie sein soll und gesteht gleichzeitig, dass er vielleicht, ein wenig ausschweifend, selbst das Ziel vor Augen verloren hat.

Oder interpretiere ich da zuviel hinein?
 

Bibliomarie

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In diesem Abschnitt geht es wieder vermehrt um Schussverletzungen. Die Versuche, privaten Waffenbesitz einzuschränken, versanden. Das kennen wir doch von irgendwo her:(
Der Mord an einem Journalisten durch Mme Cailloux hat keine rechtlichen Folgen für sie. Hier schimmert die französische Rechtsprechung durch, ein Crime passionel und ein geschickter Verteidiger, der den Chirurgen die Schuld zuschiebt. Nicht die 3 Schüsse führten zum Tod, sondern das Zögern des Operateurs!

Auch hier nimmt der Graf Montesquiou einen großen Raum ein. Es ist ihm ein Anliegen eine Autobiografie zu verfassen um mit den Darstellungen in immerhin vier Romanen aufzuräumen. Aber das ist schwierig, wie kann er seinen Anspruch mit der gebotenen Bescheidenheit verbinden?

Und dann noch Catherine, eine seltsame verdrehte Frau. Wie sie über ihren (zurückgebliebenen?) Bruder schreibt, ist abstoßend. Wer weiß, wie sich Jean entwickelt hätte, wäre er nicht im Einflussbereich einer bigotten, ewig gekränkten und auch ein wenig rachsüchtigen Mutter gewesen. Ich erinnere mich, sie beharrte auf das Sorgerecht für ihn.
 

Bibliomarie

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S. 267 "Auf Biografien ist noch weniger Verlass als auf einen Roman."

Zum einen bestätigt uns Barnes, dass dieses Potpourri doch eine Biografie sein soll und gesteht gleichzeitig, dass er vielleicht, ein wenig ausschweifend, selbst das Ziel vor Augen verloren hat.

Es ist jedenfalls für Leser ein Trost, die auch manchmal bei der Lektüre ein wenig den Faden verloren haben;)
 

Wandablue

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Hier gehts kreuz und quer in diesem Abschnitt.

Duelle, um die Soldatenmoral zu heben! Den Nationalismus und Patriotismus. Barnes findet das so absurd wie wir.

Aber das Schlimmste in diesem Abschnitt ist die Rechtsprechung. Da geht man in eine Reaktion, erschießt einen Menschen und wird freigesprochen. Armes Frankreich!!!
 

Xirxe

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19. Februar 2017
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Auch nach dem Tod hält der Graf noch kleine Gehässigkeiten parat.
Hmm, ich muss gestehen, dass ich die auf Seite 270 Geschilderte doch eher amüsant fand ;) Wie kommt den eine Frau dazu, einem fremden Mann ständig Briefe zu schicken? Wenn der Erste nicht beantwortet wird, sollte doch eigentlich klar sein, dass kein Interesse besteht.
Dadurch, dass Barnes oft und gerne verschiedene Episoden erzählt und wieder verlässt, fällt es mir schwer, alles zu behalten und zu sortieren. Manches ist interessant, manches weniger.
Ich kann Dir nur zustimmen, wobei ich eher vieles weniger interessant finde ;)
Zum einen bestätigt uns Barnes, dass dieses Potpourri doch eine Biografie sein soll und gesteht gleichzeitig, dass er vielleicht, ein wenig ausschweifend, selbst das Ziel vor Augen verloren hat.
Oder interpretiere ich da zuviel hinein?
Glaube ich nicht; manchmal habe ich das Gefühl, dass er sich richtig in diesem Thema verliert, weil er sich so sehr für diese ganze Zeit begeistert.

In diesem Abschnitt gibt es zwei Passagen, die mir richtig gut gefielen. Zum Einen auf Seite 255:[zitat]Eigentlich sollte es doch so sein: Je größer ein Romanschriftsteller ist, je stärker die Figuren sind, die er erschafft, je realer und lebendiger sie in unserer Vorstellung und in unserer Erinnerung hervortreten, desto weniger sollten uns die blasseren Gestalten interessieren, die einst auf Erden wandelten ...[/zitat] Sollte das nicht andersherum genauso gelten? Ständig diese Vergleiche des Grafen mit seinen literarischen Entsprechungen. Wen interessiert das denn heute?

Die zweite Passage ist die Ausführung des Grafen, dass er nicht mehr dem 'Geschmack' der Zeit entspricht, nicht modern ist (S. 270). Hier wurde er mir sogar ein wenig sympathisch, wie er ohne Selbstmitleid erkennt und zugibt, [zitat]dass das eigene Leben vorüber ist.[/zitat] Vermutlich ist er mit mehr Würde gealtert als so manch prominente Persönlichkeiten heutzutage, die gegen Ende ihres Lebens immer mehr zur Lachnummer werden und wurden (wenn ich da an den früheren US-Präsidenten denke...).
 

RuLeka

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30. Januar 2018
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und ein geschickter Verteidiger, der den Chirurgen die Schuld zuschiebt. N
Das muss schon ein sehr überzeugendes Plädoyer gewesen sein, um zu so einem Urteil zu kommen.
Glaube ich nicht; manchmal habe ich das Gefühl, dass er sich richtig in diesem Thema verliert, weil er sich so sehr für diese ganze Zeit begeistert.
Das erscheint mir auch so. Barnes ist bei seinen Recherchen auf so viele, in seinen Augen interessante Geschichten gestoßen, die er unbedingt unterbringen wollte. Doch die Zusammenhänge sind mir nicht immer klar.
 

Barbara62

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19. März 2020
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Erneut gibt es Episoden über Barnes Lieblingsobjekt Montesquieu. Einmal prellt er die lit. Gesellschaft um einen alten Gobelin, ein anderes mal einen verarmten Künstler. Im Kern nichts Neues.

Ob sich das Buch schlechter verkauft hätte, wenn er Montesquiou aufs Cover gebracht hätte? Denn ich finde auch, dass er sein Lieblingsobjekt ist, nicht Pozzi.

Die zum Teil abwertenden und bösartigen Einträge Catherines in ihrem Tagebuch, lassen mich am Wahrheitsgehalt ihrer Schilderungen generell zweifeln. Sie wirkt wenig empathisch, dogmatisch und hartherzig.

Sie scheint mir vor allem eine sehr verbitterte Frau gewesen zu sein. Ob es mit dem gescheiterten Studium in England zusammenhing? Aber den Hang dazu hatte sie schon vorher.
 

Literaturhexle

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2. April 2017
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Sie scheint mir vor allem eine sehr verbitterte Frau gewesen zu sein. Ob es mit dem gescheiterten Studium in England zusammenhing? Aber den Hang dazu hatte sie schon vorher.
Gegen Ende des Buches kommt sie noch einmal zu Wort. Wieder ist sie in ihren Äußerungen sehr emotional und extrem.
Dadurch muss es wohl wirklich ihre Persönlichkeit sein, die nur schwarz oder weiß kennt.
Vom Grafen gibt es kein so auffallendes Portrait im Roten Rock;)
Da hätte der Aufhänger gefehlt:D
 

Wandablue

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18. September 2019
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Ob sich das Buch schlechter verkauft hätte, wenn er Montesquiou aufs Cover gebracht hätte? Denn ich finde auch, dass er sein Lieblingsobjekt ist, nicht Pozzi.
Neeee, neee, Barnes hat am meisten Stoff über M. Montesquieu ist übrigens wer anderer - aber er sagt im Nachwort? Jedenfalls gegen Ende, dass Pozzi ihm einfach imponierte!
 

Literaturhexle

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2. April 2017
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Jedenfalls gegen Ende, dass Pozzi ihm einfach imponierte!
Er geht sogar so weit, ihn als "Helden" zu bezeichnen!
Bestimmt gibt Pozzi auch ausreichend Stoff für einen Roman ab. Diese (potentiellen) Liebschaften, das Krankenhaus, die Reisen, der böse Lorrain.... Bin gespannt, ob sich da kurzfristig ein Schreiberling rantraut und die Lücken (Wir wissen es nicht) füllt :)
 

ulrikerabe

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14. August 2017
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Jetzt hat es das Buch geschafft, dass ich tatsächlich meine alten Strafrechtsskripten herausgekramt
habe. Das französische Rechtssystem ist wirklich unglaublich, wenn man von den rudimentären Angaben zu den Schüssen auf den Journalisten ausgeht. Aber wie wir immer so gerne sagen. "Es kommt drauf an!"
Mit dem bisschen zum Sachverhalt würde ich sagen:
Vorsatz check
Kausalität check
Erfolg check
Urteil: schuldig

Aber bei so vielen Kugeln hat sich jetzt ein ganz starkes Bild der Karambolage in meinem Kopf festgesetzt. Drei Kugeln , angestoßen, laufen über Bande, touchieren immer wieder. Bewusst, beabsichtigt, manchmal ja, manchmal je nein. Je nachdem wie gut man spielt.