7. Leseabschnitt: Kapitel XXXII bis XXXIV (Seite 470 bis 550)

Die Häsin

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Ich habe mir, so gut es geht, vorzustellen versucht, wie sich Adrians apokalyptisches Tonwerk anhören mag. In der Zwölftonmusik kenne ich mich überhaupt nicht aus, und das wenige, was ich von Mahler kenne, scheint mir nicht dazu zu passen. Am ehesten fühlte ich mich erinnert an Berlioz' Requiem - vieles, was Mann beschreibt, die Glissandi zum Beispiel und die Raumeffekte, kommt in diesem Stück schon vor. Berlioz hat aber erheblich früher gelebt als Leverkühn.

Zum Gruseln sind die Diskussionsrunden bei Kridwiß. Der die Massen bewegende Mythos als Ersatz für Wissenschaft und Erkenntnis - das ist die Philosophie, der "1984" zugrunde liegt, mit dem Mythos des immerwährenden Krieges (von dem man nie recht weiß, ob er überhaupt stattfindet). Die Lektüre ist quälend und abstoßend. Ich bin froh, wenn ich das Buch durch habe. Viele Absätze muss ich mehrmals lesen, weil die Gedanken immer wieder abschweifen (nicht vom Buch weg, sondern weil ich nachdenke, was Mann gemeint haben könnte und worin, aus der Rückschau unserer Gegenwart, die Entsprechungen liegen könnten).
 
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tinderness

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Einsamkeit und Spott: In meinen Lesenotizen habe ich vor wenigen Tagen geschrieben, dass mir der Erzähler menschelnd unangenehm nahe kommt, Adrian Leverkühn mir aber als Charakter seltsam entrückt erscheint. Es ist fast so, als ob sich der Erzähler selbst für wichtiger nehme als den Helden seines Romans. Ein im Grunde unerträglicher Zustand.

Jetzt aber, spätestens nach der Lektüre des 34. Kapitels hat es "Klick" gemacht und mein Verständnis für den seltsamen Helden ist eingerastet. Ich beginne mit ihm zu leben bzw. kann zumindest nachfühlen, was ihn bewegt. Ich will die Dinge also beim Namen nennen: Einsamkeit und spöttischer Intellekt. Die Tür dazu wurde mir durch die breite Schilderung seiner Migräne geöffnet, die eine seltsame Atmosphäre um AL schafft. Zurückgezogen in seinem Domizil auf Pfeiffring, umsorgt vom Verständnis und der Penetranz ungleicher Verehrerinnen, empfängt er nur wenige, um mit ihnen in den bis fast zur völligen Dunkelheit verdunkelten Räumen über Musik und allerhöchstens penetrante Enthüllungen und zwischenmenschlichen Probleme zu diskutieren. Einem desinteressierten Beichtvater gleich, dessen Aufmerksamkeit der Geiger Rudi Schwerdtfeger rücksichtslos auszubeuten weiss. AL bleibt wie immer seltsam unberührt: noli me tangere! Aber trotz des geballten Angriffs von Aussenwelt und Migräne auf den gepeinigten Künstler will dieser von seinem das Klischee entblössenden Intellekt nicht Abstand nehmen.

Sogar von der Kritik am Märchen will dieser nicht lassen. Und so analysiert er (möglicherweise zum Unbehagen von @Die Häsin, die sich als Fan des Märchens von der Seejungfrau (Andersen) geoutet hat) messerscharf und kalt. Denn sein Verständnis für deren sehnsüchtige Liebe ist enden wollend. Ich vermag seiner (sicherlich übertreibenden und ironisch gemeinten) Argumentation im Grunde zu folgen. Mit Genuss und Sympathie für den Urheber der folgenden Worte zitiere ich: "Das Meerweib habe vollkommene und gewinnendste organische Wirklichkeit, Schönheit und Notwendigkeit, wie man recht gewahr werde angesichts des kümmerlichen und deklassierten Zustandes der kleinen Seejungfer, nachdem sie sich Beine erkauft, was niemand ihr danke ...". Die bittersüsse Klebrigkeit von Märchen waren wirklich nie das Meine.

Also lieber Fabelwesen sein als kümmerliches Menschlein, lieber Teufelsgeburt als frömmelndes Bürgerlein - in diesen Vorlieben kommen wir zusammen, der Dr. Faustus und ich. Er ist halt wie ein Wechselbad der gefühle, dieser Roman des alternden Meisters aus Deutschland.
 
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Zum Gruseln sind die Diskussionsrunden bei Kridwiß.
Fürwahr! Und nur wenig davon kann man als historisch, vergangen oder obsolet abtun. Vieles erinnert mich an den heutigen, völlig einem vernünftigen Diskurs verhöhnenden Meinungsaustausch, wie wir ihn in den sozialen Medien mitverfolgen können: das Faktenbefreite, das Wissenschafts- und Theoriebefreite, das emotional Angeheizte beim darüber Schwadronieren selbst ernannter Diskutanten. Dazu passt sogut der Wahlspruch des "Scho Enorm Wischtisch" (Mittelteil des Kaptel 34) der Halbbildung, welche den Erzähler erzittern lassen. Und auch ich erschrecke mehr, als es mich anzuwidern vermag, wenn ich da die Analyse lese, die das Gestern aber auch das Heute der selbstversessenen Verführer treffend beschreiben: "Fabeln, Wahnbilder, Hirngespinste, die mit Wahrheit, Vernunft, Wissenschaft überhaupt nichts zu tun zu haben brauchen, um dennoch schöpferisch zu sein, Leben und Geschichte zu bestimmen und sich damit als dynamische Realitäten zu erweisen." Das ist der Antiintellektualismus, den schon Adorno so treffend beschrieben hat und dem wir heute wieder begegnen, im Trump schen Populismus, den Lügen der Impfgegner und der politischen Kultur semitotalitärer Staaten in Europa. Da sind Verhältnisse entstanden, wo jeder behaupten darf, ein Experte für sich selbst und andere, überhaupt für die Welt zu sein. Und darin ist Thomas Mann erschreckend aktuell. Denn streckenweise lesen sich die Aussagen in den Diskussionsrunden von Kridwiss wie ein Kommentar zu den Diskussionsrunden auf Telegram. Auch letzteren scheint die rationale Welt kaum Herr zu werden, obwohl sie vernünftige Menschen (und mitunter auch rationale Politik) erzittern lassen.
 
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Sogar von der Kritik am Märchen will dieser nicht lassen. Und so analysiert er (möglicherweise zum Unbehagen von @Die Häsin, die sich als Fan des Märchens von der Seejungfrau (Andersen) geoutet hat) messerscharf und kalt. Denn sein Verständnis für deren sehnsüchtige Liebe ist enden wollend. Ich vermag seiner (sicherlich übertreibenden und ironisch gemeinten) Argumentation im Grunde zu folgen. Mit Genuss und Sympathie für den Urheber der folgenden Worte zitiere ich: "Das Meerweib habe vollkommene und gewinnendste organische Wirklichkeit, Schönheit und Notwendigkeit, wie man recht gewahr werde angesichts des kümmerlichen und deklassierten Zustandes der kleinen Seejungfer, nachdem sie sich Beine erkauft, was niemand ihr danke ...". Die bittersüsse Klebrigkeit von Märchen waren wirklich nie das Meine.

Also lieber Fabelwesen sein als kümmerliches Menschlein, lieber Teufelsgeburt als frömmelndes Bürgerlein - in diesen Vorlieben kommen wir zusammen, der Dr. Faustus und ich. Er ist halt wie ein Wechselbad der gefühle, dieser Roman des alternden Meisters aus Deutschland.
Kannst du mir nochmal genau sagen, in welchem Kapitel das war? Ich habe die Stelle gerade eben nicht wiedergefunden.
Ich habe "Die kleine Seejungfrau" als Kind gelesen und später als Erwachsene wieder, und dass die Kleine einen äußerst miesen Tausch gemacht hat, ist eigentlich an jeder Stelle klar. Ich habe es eben nochmal nachgelesen. Was sie dazu treibt, ein Mensch werden zu wollen, ist nicht die Liebe zu dem Prinzen. Diese ist nur Durchgangsstadium. Sie möchte eine unsterbliche Seele haben, was immer das bedeutet. Diese kann sie nur erlangen, wenn ein Mensch sie liebt - deshalb lässt sie sich in ein menschliches Mädchen verwandeln und sucht die Nähe des Prinzen. Die Erfolgsaussicht ist erstens eher gering, da der Prinz von vielen schönen Mädchen umgeben ist, und zweitens schien mir schon als kindlicher Leserin das Leben als Seejungfrau weit erstrebenswerter als diese dubiose unsterbliche Seele (von Gott und dem himmlischen Paradies ist in dem Märchen an keiner Stelle die Rede). Es ist eine sehr, sehr traurige Geschichte, und ich hatte nie den Eindruck, dass der Autor selbst die Entscheidung seiner Heldin gutgeheißen hat.

Wenn die Geschichte überhaupt eine Moral hat, dann am ehesten die "bleib da, wo die Natur dich hingestellt hat". :cool:
Sie hat ein bisschen was von Madame Bovary, die arme Seejungfrau ...
 
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Danke, dann schaue ich dort nochmal hinein.
Hier festhalten möchte ich gern, damit ich es nicht wieder vergesse, zwei Punkte aus dem Wiki-Artikel zum Seejungfrau-Märchen.

Interpretation: Nach Werner Spies tauche der Leser bei der kleinen Meerjungfrau mit den Leiden, die das Mädchen um der Menschwerdung willen auf sich nimmt, in ein beklemmendes Geschehen ein. Der Leser wehre sich gegen die Irrealität und werde doch von den glaubhaft geschilderten Bilder der Unterwasserwelt eingenommen. Die Nixe hebe die Gesetze der Welt auf, um den fernen Prinzen vor dem Ertrinken zu retten und weil man dem Kind von der unsterblichen Seele der Menschen erzählt habe. Schließlich löse sich alles in Schaum auf, doch anstelle von Tod und Vergessen, werde ein unausrottbarer Schmerz für den Rest des Lebens installiert.

Ein weiterer Interpretationsansatz berücksichtigt Andersens Homosexualität: Demnach floh Andersen von der Hochzeit seines "heimlichen Geliebten" Edvard Collins. Seine ungelebte homoerotischen Neigungen werden hier verschlüsselt in einer Meerjungfrau in Männerkleidung und die unerträglichen Schmerzen „wie auf Messern“, die seitens der Gesellschaft auf einen warten, dargestellt. Andersen schrieb das Märchen, nachdem er vor der Hochzeit seines Freundes Edvard Collins floh. Wenn keine Meereshexe einem die Zunge herausschneidet, so würde man nicht nur mit großen Augen etwas dergleichen zu verstehen geben – denn „Sprechen konnte sie ja nicht“ heißt es im Märchen.
 

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Ich habe mir, so gut es geht, vorzustellen versucht, wie sich Adrians apokalyptisches Tonwerk anhören mag.
An diese Textstelle von dir musste ich denken als ich die Bemerkung SZ über die Anwendung des Glissando auf die menschliche Stimme las: markerschütternd soll sie gewesen sein, dem Urzustand des langgezogenen Heulens entglitten, polyphonen Härten haben sich aufgetan, die Verrückung der Grenzen zwischen Mensch und Tier wurde vollzogen etc. etc. Weil ich mich aber nie intensiv mit Musik auseinandergesetzt habe, versuchte ich mir zum Ausgleich jenes Werk anzusehen, das die Vorlage zu diesem Musikstück bildete: die Apocalipsis cum figuris von Dürer: und dort fand ich auch den Holzschnitt der "Vier Apocalyptischen Reiter", die mich wenigstens visuell für das entschädigten, was mir an musikalischer Vorstellungskraft schmerzlich fehlt. Und das wollte ich auch gerne teilen:

Durer_Revelation_Four_Riders.jpg
 

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Eben habe ich nochmal hineingeschaut in Kapitel 33 ... Ach ja, die Vorzüge der Nixengestalt!

Leverkühn ist sich aber schon klar, dass eine Nixe keine Vulva hat, im Gegensatz zur "gegabelt-menschlichen" Gestalt? (Der gute Emile Zola, dem nichts Menschliches fremd ist, spricht gern vom "gespaltenen Gerippe des Weibes" ... )
Es gibt ein anderes Märchen - ich kann mich gerade nicht erinnern, von wem; vielleicht von Bechstein, in dem es ebenfalls um eine Nixe geht. Diese hat einen Fischer mit sich auf den Meeresgrund gezogen und versucht ihn zu verführen, aber ihm graut immer vor dem Fischschwanz. Also holt sich die Nixe auch sein Kind. Der untröstlichen Mutter verspricht sie, das Kind zurückzugeben, wenn die Mutter "aus ihren Haaren" einen Mantel webt, der lang genug ist, den Fischschwanz zu verdecken. Die Mutter verwebt ihre eigenen schwarzen Haare, aber der Mantel ist nicht lang genug. Also schneidet die Nixe dem Kind die blonden Haare ab und gibt sie der Mutter; dann verwebt die Mutter zum dritten ihre eigenen, nachgewachsenen Haare, die nun aber weiß statt schwarz sind - der Mantel wird dreifarbig, aber er ist lang genug, den Nixenschwanz ganz zu bedecken, sodass die Mutter immerhin ihr Kind zurückbekommt (als Lohn für den Mantel).
Siegesgewiss wendet sich die Nixe, in den Mantel gehüllt, wieder dem Fischer zu. Dieser ist drauf und dran, ihren Reizen zu verfallen, aber bei der Berührung des Mantels erinnert er sich plötzlich wieder an Frau und Kind, er stößt die Nixe von sich und kehrt zu seiner Familie zurück.
Wie kann sich auch ein menschlicher Mann eine Nixe zur Geliebten nehmen? Wie sollte man sich das rein körperlich vorstellen ...?

Ich bin übrigens mit Leverkühn der Meinung, dass die kleine Seejungfrau ein beneidenswertes Dasein hatte, bei dem sie hätte bleiben sollen. Aber dann gäbe es das Märchen nicht. Das Unmögliche erlangen zu wollen, obwohl man alles, was man braucht, bereits hat, ist eben typisch für Menschen und Nixen.
 
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9. Mai 2020
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Ja ja, die kleine Meerjungfrau wurde wahrscheinlich extra für @Die Häsin im Roman verarbeitet.;)
Die Kridwißschen Diskussionsrunden waren es, die mich schockiert und zugleich in den Bann gezogen haben.
"... und dass zu kräftigen Abstrichen an Wahrheit und Wissenschaft, zum sacrificium intellectus bereit sein müsse, wer der Gemeinschaft teilhaftig sein wolle."
Sollte unsere aktuell gespaltene Gesellschaft also jemals wieder auf einen Nenner kommen wollen, müssten wir wieder besseren Wissens gute Mine zum bösen Spiel machen. Das ist gruselig. Das Motto lautet, heute noch stehen wir am Abgrund, aber morgen sind wir schon einen Schritt weiter.
Und letztendlich sind schon deutliche Ansätze zur Ideologie des Zweiten Weltkrieges zu erkennen:
"Zweifellos würde man auch die Nicht-Bewahrung des Kranken im größeren Stil, die Tötung Lebensunfähiger und Schwachsinniger, wenn man eines Tages dazu überging, volks- und rassehygienisch begründen,..."
Zeitblom ist von dieser Gesellschaft, die sich da regelmäßig zusammenfindet, abgestoßen, es macht ihn krank.

Die erklärenden Abschnitte zu Leverkühns Musikstücken haben mich jetzt aber völlig abgehängt und so muss ich mich wohl gänzlich auf den Genuss von @tinderness anghängtem Holzschnitt beschränken. Danke dafür!