6. Leseabschnitt: Karton 2/25 bis Epilog (Seiten 340 bis Ende)

Wandablue

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18. September 2019
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Brandenburg
Hm. Ich habe mir ein definitiveres Ende gewünscht.
Egal.
Was mir hier sehr gut gefällt, ist, wie der Umbruch dargestellt wird.
Es ist nämlich nicht alles gut. Klar, die Menschen, die ich hier in Brandenburg kennengelernt habe, die haben sich etwas Neues aufgebaut. Aber das war später.
Ich weiß nicht, wie ich es verkraften würde, wenn meine Welt plötzlich zusammenfällt. Wahrscheinlich gar nicht.

Bei der großen Bücherentsorgung hatte ich den Roman von Ingo Schulze "Die rechtschaffenen Mörder" vor Augen. Da wird Schmerz und Verschwendung diesbezüglich sehr anschaulich beschrieben. Machen wir uns nix vor, der Zusammenbruch des Ostens war für sehr viele Menschen eine schlimme Sache.

Dass Hans ein IM war, ist nicht weiter verwunderlich.
Er hat aber damit aufgehört. Aus Lustlosigkeit. Das ist schon verwunderlich.
Ich habe den Eindruck, dass Hans aufhörte, Lust auf das Leben zu haben.

Schlimm fand ich die Abtreibung. Und hier war ich mal ganz auf der Seite von Hans. Es hätte sehr wohl ihr gemeinsames Kind sein können. Es gibt fast immer eine andere Lösung.

Und dann hörts halt einfach auf. So ist es auch wirklich. Liebe hört einfach auf.
 

Literaturhexle

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2. April 2017
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Der Zusammenbruch der DDR wird hervorragend aus der Sicht der dortigen Bürger und Kulturschaffenden erzählt. Im Westen wurde gejubelt, dort waren viele Menschen in ihrer Existenz bedroht, ihre Ausbildung war auf einmal nichts mehr wert. Tausende von Leuten waren beim Rundfunk, im Theaterbetrieb beschäftigt - das kann ja nicht wirtschaftlich gewesen sein, sagt sich die Wessine. Dafür waren Bücher spottbillig. Klar, wenn die Autoren "nur" ein festes Gehalt bekommen haben, alles ins Staatshand und subventioniert war.
Es war ein komplettes Umdenken in jedem Bereich nötig. Dass das die Menschen auch überfordert hat - kein Wunder! Das ist auch für mich, die Wessine, nichts Neues. Aber Erpenbeck beschreibt es wunderbar plastisch. Sie hält sich nicht an Einzelschicksalen fest, sondern schildert das Ganze, bei dem der Einzelne aber nicht zu kurz kommt. Literarisch toll umgesetzt!

Unser Hans leidet natürlich besonders. Er leidet ja sowieso gerne, das scheint sich in eine Depression auszuwachsen. Vielleicht hat er Katharina gequält, um sich von seiner eigenen Sinnkrise abzulenken?
Jetzt ist es umgekehrt: die Heimat verlässt ihn, während er sich nicht von der Stelle rührt. 342
Die Landschaft zwischen dem Alten, das man loswerden will, und dem Neuen, das noch nicht installiert ist, ist eine Trümmerlandschaft. 353

Es wundert mich, dass K. offenbar noch immer schwanger werden will. Es ist doch sehr offensichtlich, dass die Beziehung abgekühlt ist. Ihre Seitensprünge beweisen das. Dann wird sie doch schwanger. Von Robert, verstehe ich das richtig? Denn vorher und nachher hat sie sich ja vor Berührungen geekelt. Auch wie sie sich von dem Kind trennt, ist großes literarisches Kino.

Mit den Träumen kann ich wenig anfangen. Ich mag keine Träume in Büchern, fühle mich mit deren Interpretation überfordert.
Die dritte Trennung ist für immer.
 

Literaturhexle

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Was hat nun die derbe Liebesgeschichte in diesem Roman verloren? Will Erpenbeck den Untergang der DDR mit einem unterwürfigen Sado/Maso-Spiel in Beziehung setzen? Der Ältere, Stärkere setzt seinen Willen durch, ohne Rücksicht auf Verluste? Oder lag es der Autorin daran, diese Liebesgeschichte abseitig der Norm zu inszenieren, wofür sie sich als Rahmen die untergehende DDR gesucht hat, eine Kulisse, die sie gut kennt aus eigener Erfahrung. Sie selbst hatte zu der Zeit in etwa das Alter von Katharina, arbeitete gleichfalls im Theaterbetrieb...

Hans war ein IM. Aber doch offenbar nur ein kleineres Licht?

Was meint K. damit: "Hätte ich doch nur gewusst, dass ich dein Spiegelbild war." ? 379

In der Rückschau scheint sie doch noch an Hans zu hängen. Wie lange hat er ihr Leben begleitet? Circa 6 Jahre.1986-1992, ich hab's gerade gefunden;)
 
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Wandablue

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18. September 2019
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Brandenburg
"Hätte ich doch nur gewusst, dass ich dein Spiegelbild war."
Vllt: Hans sieht in Katharina das, was er selber war, als er jung war. Oder das, was er hätte sein und werden können. In gewisser Weise versuchte er ja durchaus, sie zu fördern. Aber ehrlich, ich habe keine Ahnung. Das ist eine LR, wo ich mir wünschte, man könnte im Anschluß (nicht während) der Autorin manche Fragen stellen bezüglich der Sätze, die wir nicht verstehen. Es ist nicht auszuschließen, dass Katharina gewisse autobiografische Züge trägt.
 

RuLeka

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Literaturhexle

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Kurze Mitschrift von der Premierenlesung aus Berlin v. 16.09.21

  • Die beiden Kartons haben miteinander zu tun (Aufwärts- und Abwärtsbewegung, 2 x 29 Kapitel)
  • Die Reise nach Köln findet ihre Entsprechung in der Reise nach Moskau (Hans hat intensive Bindung dorthin)
  • Wahrheit, Täuschung, Zeit, Bezugspunkte sind Leitmotive, die Rituale (z.B. Jacke anziehen) stehen für den Wunsch, etwas festzuhalten.
  • Es gibt eine Handlung hinter der Oberfläche
  • Hans bringt seine Geschichte mit. Er hat bereits einen Systemzusammenbruch erlebt, hat schmerzliche Erfahrungen mit Flucht und der Vergangenheit seines Vaters. Der Moderator sprach von stalinistischen Betrafungsmethoden (System Belohnung und Strafe, Kontrolle, wie Inquisition).
    Hans hat sich bewusst von den Fehlern der Eltern losgesagt, indem er in den Osten gegangen ist.
    Der Fokus der Diskussion war eindeutig auf Hans: seine Vergangenheit, seine Erfahrungen. Die sexualisierte Gewalt wurde explizit nicht angesprochen.
  • Kunst/Kultur hatte in der DDR ein viel größere Bedeutung. Gerade Ende der 80er Jahre wurde viel diskutiert und nach der Bedeutung hinter dem Offensichtlichen gesucht.
    Tatsächlich haben auch viele Töchter aus gutem Hause nach der Wende geklaut = das alte System war abgeschafft, das neue wurde noch nicht akzeptiert. Es war Diebstahl aus Trotz.
  • Was ich nicht verstehe: Am Ende soll klar werden, dass Hans sich in K. spiegelt, dass er in ihr sieht, was mit ihm hätte sein können. Er instrumentalisiert die Schuld, verlängert dadurch die Beziehung.
    Warum macht K. das mit? Hier erwähnte der Moderator, dass in der DDR ein starker Respekt zwischen den Generationen geherrscht habe und sah das als ursächlich.

Vielleicht könnt ihr davon etwas mitnehmen. Jenny Erpenbeck hat verschiedene Textstellen vorgelesen. Man hat bewusst keinen großen Zusammenhang hergestellt, so dass man sich zwar an der Sprache erfreuen konnte, aber nicht gespoilert wurde.
Frau E. steckt sowohl in Katharina, weil sie damals genauso alt war wie sie, aber auch in Hans, weil sie heute so alt ist wie er.
Tatsächlich hat sie ein Tagebuch, aber auch sehr viel vergessen, so dass sie umfassend recherchiert hat in Büchern und auch bei Freunden.

Von mir wird der Roman die Höchstwertung bekommen.
 

RuLeka

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Kurze Mitschrift von der Premierenlesung aus Berlin v. 16.09.21

  • Die beiden Kartons haben miteinander zu tun (Aufwärts- und Abwärtsbewegung, 2 x 29 Kapitel)
  • Die Reise nach Köln findet ihre Entsprechung in der Reise nach Moskau (Hans hat intensive Bindung dorthin)
  • Wahrheit, Täuschung, Zeit, Bezugspunkte sind Leitmotive, die Rituale (z.B. Jacke anziehen) stehen für den Wunsch, etwas festzuhalten.
  • Es gibt eine Handlung hinter der Oberfläche
  • Hans bringt seine Geschichte mit. Er hat bereits einen Systemzusammenbruch erlebt, hat schmerzliche Erfahrungen mit Flucht und der Vergangenheit seines Vaters. Der Moderator sprach von stalinistischen Betrafungsmethoden (System Belohnung und Strafe, Kontrolle, wie Inquisition).
    Hans hat sich bewusst von den Fehlern der Eltern losgesagt, indem er in den Osten gegangen ist.
    Der Fokus der Diskussion war eindeutig auf Hans: seine Vergangenheit, seine Erfahrungen. Die sexualisierte Gewalt wurde explizit nicht angesprochen.
  • Kunst/Kultur hatte in der DDR ein viel größere Bedeutung. Gerade Ende der 80er Jahre wurde viel diskutiert und nach der Bedeutung hinter dem Offensichtlichen gesucht.
    Tatsächlich haben auch viele Töchter aus gutem Hause nach der Wende geklaut = das alte System war abgeschafft, das neue wurde noch nicht akzeptiert. Es war Diebstahl aus Trotz.
  • Was ich nicht verstehe: Am Ende soll klar werden, dass Hans sich in K. spiegelt, dass er in ihr sieht, was mit ihm hätte sein können. Er instrumentalisiert die Schuld, verlängert dadurch die Beziehung.
    Warum macht K. das mit? Hier erwähnte der Moderator, dass in der DDR ein starker Respekt zwischen den Generationen geherrscht habe und sah das als ursächlich.

Vielleicht könnt ihr davon etwas mitnehmen. Jenny Erpenbeck hat verschiedene Textstellen vorgelesen. Man hat bewusst keinen großen Zusammenhang hergestellt, so dass man sich zwar an der Sprache erfreuen konnte, aber nicht gespoilert wurde.
Frau E. steckt sowohl in Katharina, weil sie damals genauso alt war wie sie, aber auch in Hans, weil sie heute so alt ist wie er.
Tatsächlich hat sie ein Tagebuch, aber auch sehr viel vergessen, so dass sie umfassend recherchiert hat in Büchern und auch bei Freunden.

Von mir wird der Roman die Höchstwertung bekommen.
Danke für Deine tolle Zusammenfassung. Ich habe mir gerade ein Teil davon angehört ( möchte nun aber endlich weiterlesen) und werde mir morgen den Rest anhören.
 
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Wandablue

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Ein Roman mit doppeltem Boden? So was hat man nicht oft.
Tatsächlich hatte ich gerade in Gedanken vorgenommen, meine Rezi auf Hans zuzuspitzen. Aber wer wird mir jetzt noch glauben?
 
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Renie

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Warum macht K. das mit? Hier erwähnte der Moderator, dass in der DDR ein starker Respekt zwischen den Generationen geherrscht habe und sah das als ursächlich.
Eine schwache Begründung. Respekt setzt Abstand voraus, insofern wäre mit dieser Begründung für mich nicht nachvollziehbar, warum Kathi etwas mit einem deutlich Älteren anfängt. Und sich aus Respekt von jemandem seelisch missbrauchen zu lassen ist auch fragwürdig.
 

Barbara62

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Baden-Württemberg
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Nö. Im Gegenteil.
Mir hat die zweite Hälfte deshalb besser gefallen, weil endlich die politische Situation zur Sprache kam. Dies aus Sicht einer DDR-Bürgerin zu erleben, ist hochinteressant. Dass es in der ersten Hälfte nicht so war, hat mich befremdet, denn zu dieser Zeit hat sich der Umbruch ja schon angedeutet. Allerdings macht mich so einiges am Ende ratlos, beispielsweise:

- Kann mir jemand den Grund für Katharinas Sex für Geld erklären? Neugier? Zu diesem Zeitpunkt hatte sich K. eigentlich bereits in einen Westberliner Studenten verliebt.

- Wozu braucht es die Abtreibungshandlung? Nur als Grund für die zweite Trennung? Es war doch Roberts Kind, oder?

- Etwas ratlos macht mich auch die Tätigkeit von Hans als IM und ihre Beendigung aus Lustlosigkeit. Was bedeutete das für den Roman und die Beziehung?
 
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RuLeka

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30. Januar 2018
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Was mir hier sehr gut gefällt, ist, wie der Umbruch dargestellt wird.
Das macht Jenny Erpenbeck sehr gut. Ganze Anstellungen brechen weg. Wer in staatlichen Institutionen gearbeitet hatte, muss sich umorientieren. Wenn es den Staat nicht mehr gibt, muss alles umstrukturiert werden.
Schlimm fand ich die Abtreibung.
Ich auch, wobei ich den Wunsch Katharinas nach einem gemeinsamen Kind nicht nachvollziehen konnte. In einer solchen auf sich selbst fixierten und gleichzeitig toxischen Beziehung ist kein Platz für ein Kind.
Unser Hans leidet natürlich besonders. Er leidet ja sowieso gerne, das scheint sich in eine Depression auszuwachsen. Vielleicht hat er Katharina gequält, um sich von seiner eigenen Sinnkrise abzulenken?
Ja, möglich. So wie auch @ Wanda schreibt, hat Hans anscheinend die ganze Lust am Leben verloren.
Mit den Träumen kann ich wenig anfangen. Ich mag keine Träume in Büchern, fühle mich mit deren Interpretation überfordert.
Geht mir genauso. Manchmal ist der Bezug zur Geschichte einfach, hier habe ich keinen richtigen gefunden.
Was hat nun die derbe Liebesgeschichte in diesem Roman verloren?
Das hat mich abgestoßen, auch die in diesem Zusammenhang derbe Sprache. Sie stand auch sehr im Kontrast zur sonstigen Sprachkunst Erpenbecks.
dass Katharina gewisse autobiografische Züge trägt.
Zumindest was den beruflichen Hintergrund betrifft. Ob die Liebesgeschichte etwas mit ihr selbst zu tun hat, mag man nicht fragen.
 

Naibenak

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2. August 2021
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Tatsächlich haben auch viele Töchter aus gutem Hause nach der Wende geklaut = das alte System war abgeschafft, das neue wurde noch nicht akzeptiert. Es war Diebstahl aus Trotz.
Darüber bin ich tatsächlich gerade im Buch gestolpert (bin leider noch immer nicht ganz durch). Ich habe mich gefragt, ob es tatsächlich so krass war, wie im Buch beschrieben. Ja, es wurde in der Jugend die eine oder andere Klauerei ausprobiert, daran erinnere ich mich tatsächlich (Freundin^^) -allerdings junge Teenies waren wir da, das war keine Trotzreaktion. War mir gar nicht so bewusst, dass es eine solche "Welle" gegeben hat. Und ich frage mich derzeit auch, was dieses Diebstahl-Kapitel eigentlich aussagen soll. Geht es Frau Erpenbeck nur um diese Aussage wie oben zitiert? Hmm...

Danke auf jeden Fall für deinen Mitschnitt der Lesung, liebes Hexle :)
Eine schwache Begründung. Respekt setzt Abstand voraus, insofern wäre mit dieser Begründung für mich nicht nachvollziehbar, warum Kathi etwas mit einem deutlich Älteren anfängt. Und sich aus Respekt von jemandem seelisch missbrauchen zu lassen ist auch fragwürdig.
Da bin ich ganz bei dir! Allein den Respekt als Grund anzugeben, ist völlig absurd meiner Meinung nach. Den gab es auch anderswo - zum einen - ..., und hier sehe ich viel eher eine obsessive Beziehung von beiden Seiten. Da sind psychologisch gesehen ganz andere Dinge offenbar ganz schief gelaufen. Sie beide haben ja von Beginn an eine unglaublich enge Beziehung/Anziehung zueinander, eine ganz starke Nähe, die fast schon ungewöhnlich ist. Katharina ist von seinem Wissen fasziniert, von seiner Zuneigung überwältigt und vertraut Hans blind - das ist quasi das Fundament, auf dem Hans dann aufbauen kann mit seinen Gewaltspielchen. Er geht dabei behutsam vor, so dass Katharina langsam damit vertraut wird und erst einmal (aufgrund mangelnder Lebenserfahrung und daher mangelndem Selbstbewusstsein) alles so hinnimmt und bei sich selbst die Schuld sucht... Es hat mit dem Altersunterschied zu tun, ja - aber am Respekt allein vor dem Alter würde ich es nicht festmachen. Hans weiß sie zu nehmen, das ist eher der Punkt (Stichwort: stalinistische Methoden).