6. Leseabschnitt: Kapitel 11 und 12 (Seite 590 bis Ende)

milkysilvermoon

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13. Oktober 2017
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Ian McEwan hat hier was ganz Eigenes geschaffen: Keine Autobiographie, wäre ja möglich gewesen so als Alterswerk. Nein, einen Roman, aber dabei stattet er seinen Helden mit vielen Versatzstücken aus seinem eigenen Leben aus: die Herkunft, sein Leben im Internat, ein unbekannter Bruder, von dessen Existenz er erst spät erfahren hat, eine schreibende Ehefrau ( allerdings weniger erfolgreich als er), seine Erlebnisse in Berlin .
Ein alternativer Lebenslauf !

Diesem Interpretationsansatz kann ich komplett folgen. Man erkennt Parallelen, Verbindungen… Und doch ist die Figur Roland eben nicht mit dem Autor identisch. Es ist ein bisschen „Was wäre, wenn mein Leben etwas anders verlaufen wäre?“. Autofiktionale Romane beziehungsweise Romane mit autofiktionalen Elemente liegen gerade ja sehr im Trend…
 

Mikka Liest

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14. Februar 2015
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Hilter am Teutoburger Wald
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Hier bist Du bei der Diskussion durcheinandergekommen. Das betrifft Celeste Ng.
Ich habe keine Ahnung, wie das hier gelandet ist! Aber wahrscheinlich hatte ich mehrere Tabs offen …
Irgendwann werden sie erwachsen. (Hoffe ich).
Das Schlimme ist, viele davon sind schon Ende 20+.

Doch einiges hat er einfach falsch eingeschätzt, zum Beispiel das er Vorbild für ihren letzten Roman war.
Hmmm, ich bin immer noch skeptisch, ob Alissa das nicht doch beabsichtigt hat. Ist ja schon ein bisschen zu viel Zufall: Der Ort passt, das Alter des Kindes passt … Und sie hat es immer öffentlich gemacht, dass sie den Vater ihres Babys verlassen hat.

Es gibt Menschen, die wollen allein sein, es gibt aber auch welche, die wollen die ganze Familie oder einen Herzensmenschen um sich haben. Was für ein Typ man ist, weiß man wahrscheinlich erst, wenn es soweit ist.
Viele Angehörige von Corona-Patienten haben sehr darunter gelitten, beim Sterben ihrer alten Eltern nicht dabei sein zu können.
Mein Vater hatte kein Corona, aber es ging ihm in der Zeit, als totaler Lockdown war, gesundheitlich sehr schlecht; die Ärzte haben uns nur wenig Hoffnung gemacht. Er hatte schreckliche Angst davor, alleine sterben zu müssen, weil niemand ins Krankenhaus durfte. Er wollte gerne wenigstens seine Töchter und seine Ehefrau um sich haben. Deswegen haben wir auch so mitgelitten, als es wirklich so aussah, als würde er es nicht überleben. Aber er ist inzwischen tatsächlich wieder zu Hause.

Eine Freundin von mir konnte sich von ihrem besten Freund nicht verabschieden – den hat es dahingerafft, bevor es die Impfstoffe gab, ganz ohne Vorerkrankungen und obwohl er noch nicht so alt war. Drei Wochen nach dem ersten positiven Test tot. Wenigstens seine Tochter durfte mal kurz rein, um sich zu verabschieden, aber da war er schon nicht mehr ansprechbar.
Eine Bekannte durfte zu Beginn von Corona ihren verstorbenen Mann nicht einmal nach seinem Tod sehen. Sie leidet bis heute darunter und in schlechten Momenten zweifelt sie, dass er wirklich im Sarg lag.
Das ist so furchtbar …
Und doch ist die Figur Roland eben nicht mit dem Autor identisch. Es ist ein bisschen „Was wäre, wenn mein Leben etwas anders verlaufen wäre?“. Autofiktionale Romane beziehungsweise Romane mit autofiktionalen Elemente liegen gerade ja sehr im Trend…
In einem Interview sagte McEwan: "Rolands Leben hätte vielleicht meines sein können, wenn ich früh von der Schule abgegangen wäre und mich nur hätte treiben lassen." Und: "Ich empfinde eine heimliche Bewunderung und gleichzeitig ein Misstrauen gegenüber Autoren, die ihr Leben endlos ausplündern. (…) Aber dieses Mal dachte ich, ich nehme mir meine gesamte Existenz und verpacke sie in eine Fiktion."
 

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29. März 2022
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Ich denke, es kommt auf die Prioritäten an! Alissa war das Schaffen von Weltliteratur wichtig (sie hatte diesen inneren Drang. Ihr hätte was gefehlt, wenn sie es nicht gemacht hätte), Roland hatte keine derartigen, wenn überhaupt irgendwelche
Ambitionen
Ja, so würde ich das auch sehen. Dennoch macht es nicht immer glücklich, seinen Interessen und Ambitionen zu folgen , v.a. wenn man Andere(s) dafür vernachlässigt.
Sortieren der Fotos, Niederschreiben des eigenen Lebens ist offensichtlich für viele eine Beschäftigung im Alter! Machten wir übrigens auch
Grundsätzlich eine schöne Idee, besonders für die ENkel und Kinder, die auf diese Weise noch mal in das Leben ihrer Ahnen eintauchen können
Und am Ende hat er doch seinen Frieden machen können mit sich und seinem Leben. Das schafft nicht jeder.
Ja, das stimmt. Es war ein laaaager Weg dorthin, aber im letzten Abschnitt hat sich Einiges noch mal gewendet. Rolands Geschichte hatte mich zuvor über weite Strecken etwas gelangweilt, hier im letzten Abschnitt jedoch hat mich seine Geschichte doch emotional angerührt. Kein Gewinnertyp, aber am Ende hat er die Kurve irgendwie bekommen. Das größte plus vielleicht: seine Fähigkeit zu Verzeihen. Das hat mir gut gefallen.
Ich wehre mich dagegen, McEwan in die Unterhaltungsschublade zu stecken ( wobei Du das hier nicht negativ gemeint hast). Der Roman ist mehr als unspruchsvolle Unterhaltung.
Auch wenn der letzte Abschnitt für mich noch mal Einiges raus gerissen hat: Ich würde Mc Ewan mit Irving, einem meiner liebsten Autoren, vergleichen. Beide gehen große Themen an, immer wieder mal Andere. Beide haben gewisse schriftstellerische Stärken. Am Ende denke ich aber, dass Beide nicht zur anspruchsvollen Literatur zählen wie z.B. Gurnah. Damit will ich ihre Leistung keinesfalls schmälern, zumal es auch eine Kunst ist, mit guten Geschichten zu unterhalten. Ja, vieles ist Geschmackssache, letztlich. Von daher lasse ich das mal so stehen und rühre nicht noch weiter in dieser Einordnung herum.
Literatur darf auch trösten und muss nicht immer weh tun.
Literatur darf eine ganze Menge. Es kann sehr unterschiedliche Gründe haben, warum ein Roman fesselt oder eben nicht.
Sterben ist ein einsames Geschäft. Es ist vollkommen belanglos, ob jemand an dem Bett sitzt oder nicht. Was man braucht, ist vllt ne Krankenschwester. Sonst niemanden
Das ist die Frage. Woher sollen wir das letztlich wissen? Von uns hat diesen Prozess - zum Glück - noch keiner durchlaufen...
Die Szene am Fluss z.B. ist eine Lachnummer. Peter ist doch längst von Daphne getrennt und hat eigentlich gar keinen Anspruch auf den letzten Liebesdienst.
Ich fand das eher tragisch. Es hätte ein großer Moment Rolands werden können, doch dieser wird ihm von Peter verwehrt, obwohl er mitnichten diesen Triumph verdient hat. Schade, dass hier der letzte Wunsch mit Füßen getreten wurde.
Eine Bekannte durfte zu Beginn von Corona ihren verstorbenen Mann nicht einmal nach seinem Tod sehen. Sie leidet bis heute darunter und in schlechten Momenten zweifelt sie, dass er wirklich im Sarg lag.
Ich habe auch unter Corona einen lieben Freund und Kollegen verloren. Es gab nicht mal die Möglichkeit, einer irgendwie gearteten Verabschiedung. Das fand ich sehr schlimm und habe dann versucht, für mich selbst Wege zu finden.
 

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Heute konnte ich Lektionen endlich beenden. Ich muss sagen, dass ich den letzten Abschnitt insgesamt doch recht berührend fand. Das hat mich etwas mit dem Roman ausgesöhnt, den ich üner weite Strecken als sehr ausufernd empfunden habe und deswegen nie richtig darin ankam. Am Ende ist Roland zwar kein Gewinnertyp, aber gereift. Er stellt sich Herausforderungen und versucht, seinen Frieden zu machen. Das hat mir gut gefallen.
Dass Peter Daphnes letzten Wunsch nicht respektieren konnte, war mir zuwider.
Überraschend und zu hundert Prozent nachvollziehbar war für mich auch das Treffen von Roland mit Alissa. Einerseits versöhnlich, andererseits ist Roland vielleicht ein bissel vorschnell mit dem Verzeihen. Alissa hingegen kommt ihm nicht Entgegen, was mögliche Interpretationen ihres Romans für Roland bedeuten könnten. Ein wenig hatte ich auch den Eindruck, dass sie am Ende für ihre egozentrischen Entscheidungen etwas abgestraft wird. Das widerum wäre mir etwas zu platt.
Der Schwung in die Aktualität unter Corona hat mir soweit gut gefallen, auch das offene Ende bzgl. Roland. Sein Tod am Ende wäre mir persönlich etwas zu viel gewesen.
Also, am Ende bin ich etwas versöhnt mit diesem Roman. Ich stelle jedoch fest, dass mir die stark gesellschaftskritischen Romane Mc Ewans weit besser gefallen - ist in meinem Fall aber wohl auch ein bissel Berufskrankheit.
 

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Von Krankheiten und Schmerzen. Das erleidet man auch allein. Auch Kinderkriegen!
Du hast Recht, wenn Du sagst, dass man mit bestimmten Dingen letztlich alleine klar kommen muss. Aber oft ein Tod zum Beispiel etwas ist, was man erleiden muss, oder nicht vielleicht etwas Freudiges ist, ein Übergang zu ewigen Leben - wer weiß es genau?
Und sicher gibt es vielen, denen eine Begleitung gut tut - egal ob bei Schmerzen, Schwangerschaft oder Sterben. Selbst, wenn man die körperlichen Prozesse alleine durchmachen muss.
 
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parden

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Sträflich hinterhergehinkt, aber endlich doch beendet. Mit diesem Roman tat ich mich etwas schwer, mir ging es im Grunde wie @Lesehorizont. Gegen Ende zunehmend ausgesöhnt mit dem Roman schließe ich ihn nicht so verbittert wie beispielsweise zuletzt "Simon", bin aber auch nicht so begeistert wie andere hier. Das Verbrennen der Tagebücher war - verblüffend. Letztlich aber auch konsequent und insofern passend. Zumindest hat sich Roland am Ende "abgefunden" mit seinem Leben, nicht länger mit den verpassten Möglichkeiten gehadert und auch seinen Frieden mit Alissa geschlossen. Nur Peter hätte ich eine deutliche Abreibung gewünscht.
 
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luisa_loves-literature

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9. Januar 2022
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Die letzten beiden Kapitel waren für mich in der Tat etwas dichter und mitreißender - ich habe hier die Überlängen nicht so stark gespürt wie zuvor. Daphnes Sterben war für mich überzeugend und einfühlsam in Szene gesetzt, die Action-Szene zwischen Peter und Roland sicherlich völlig überzogen und unpassend, aber sie gab mir dennoch endlich mal die Möglichkeit aus der Gleichförmigkeit meiner Emotionen gegenüber diesem Roman aufgerüttelt zu werden und zumindest Peter Mount mal abgrundtief abzulehnen.

Versöhnt bin ich dennoch nicht mit dem Roman, finde das Ende fast grenzwertig kitschig und bin auch der Ansicht, dass gerade die Begegnung mit Alissa wohl noch etwas dunklen Humor einfügen sollte. Mir ist der Schluss einfach zu rosa geraten - ein gänzlich passives Leben mit einem unspektakulären Helden, dessen Werdegang bzw. Nicht-Karriere vor dem Hintergrund der Weltgeschichte abspielt und am Ende fügt sich alles gütlich...das ist mir von McEwan einfach zu wenig.
 
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luisa_loves-literature

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9. Januar 2022
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Was hättest du denn gerne gehabt?
Deutlich mehr Polyvalenz, mehr Bissigkeit, mehr literarische Tiefgründigkeit. Für mich sind die "Lektionen" sehr altersmilde - ich frage mich tatsächlich, ob McEwan nochmal einen Roman schreiben wird. Die "Lektionen" sind mir, bei aller Weitschweifigkeit und all den berührten Themen, doch zu einfach geraten. Als Abriss eines Lebens, als gehobener Unterhaltungsroman passt es durchaus, aber mir fehlt hier der Wow-Effekt - der Roman ist ein sehr langer ruhiger Fluss und noch nicht einmal die kleinen Biegungen und Steinchen sorgen für Hochwasser...
 

alasca

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13. Juni 2022
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Deutlich mehr Polyvalenz, mehr Bissigkeit, mehr literarische Tiefgründigkeit. Für mich sind die "Lektionen" sehr altersmilde - ich frage mich tatsächlich, ob McEwan nochmal einen Roman schreiben wird. Die "Lektionen" sind mir, bei aller Weitschweifigkeit und all den berührten Themen, doch zu einfach geraten. Als Abriss eines Lebens, als gehobener Unterhaltungsroman passt es durchaus, aber mir fehlt hier der Wow-Effekt - der Roman ist ein sehr langer ruhiger Fluss und noch nicht einmal die kleinen Biegungen und Steinchen sorgen für Hochwasser...
Er wollte keinen Wow-Effekt. Und das Leben ist ein langer, ruhiger Fluss - jedenfalls für die meisten Menschen. Außerdem gab es ja durchaus Stromschnellen. Von der Kindsmutter verlassen zu werden und allein als Vater klarkommen zu müssen, ist nicht wirklich Lebensidylle. Es wird nur sehr ruhig erzählt - und genau das finde ich so toll an diesem Roman.