6.Leseabschnitt: Fallende Frauen und Ein Flügel (Kapitel 56 - 66)

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Elaine verändert sich im Verlauf. Während sie sich anfangs, um zu gefallen, anpasst und so immer wieder in eine Opferrolle gerät, schützt sie sich inzwischen. Durch Distanzierung. Schotten dicht. Nach außen, indem sie sich nicht voll und ganz auf Beziehungen einlässt oder Randfigur bleibt, nach innen, indem sie (oft) hart und unempathisch reagiert.
Diese Gefühlskälte vermittelt Atwood hervorragend. Wir lesen detaillierte Beschreibungen, Beobachtungen und Gedanken, erfahren aber kaum etwas von Gefühlen. Weil sie sie nicht spürt. Weil es zu schmerzhaft wäre, würde die die spüren.
 

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Elaine verändert sich im Verlauf. Während Sie sich am Anfang, um zu gefallen, stetig anpasst und unterwirft, beginnt sie schließlich, sich zu schützen. Sie macht die Schotten dicht. Nach außen, indem sie sich emotional nicht mehr voll auf Beziehungen einlässt, nach innen, indem sie nur noch einen erschwerten Zugang zu ihren Gefühlen hat. Aus diesem Grund wird sie kühl, und empathisch, funktionierend und fast roboterhaft. Das schützt sie davor, immer wieder in die Opferrolle zu geraten, beziehungsweise, sie zunächst auszuhalten, um sich dann schließlich wieder aus ihr frei zu strampeln.

Elaine spricht von Liebe (S. 384). Aber ich kann es nicht recht glauben und schon gar nicht spüren, dass da LIEBE im Spiel ist. Es klingt eher berechnend. „Josef bietet mir…“ (S. 384) und „was John betrifft, so weiß ich, was er mir bietet…“. Ich glaube, dass sie Schwierigkeiten hat, sich wirklich, d. h. liebend, auf eine Beziehung einzulassen, da es o. g. Risiken birgt (Selbstverlust...)

„ Ich beschließe, dass ich ihn liebe.“ (Seite 394). Das sagt doch alles, oder? Kann man wirklich BESCHLIESsEN, zu lieben?!
Sie beschließt also, sich auf ihn festzulegen.
Und was passiert? Genau das, wovor sie eigentlich Angst hatte. Sie gerät wieder in eine Rolle, in der sie zunächst die schwächere Position hat. Er hat Affären. Sie duldet es. Sie begnügt sich.
Sie zieht sich zurück, hört auf zu malen, wird depressiv - „Ich bin untauglich und dumm, ohne Wert. Ich könnte genauso gut tot sein.“
Sie sieht ihr Leben als Scherbenhaufen. (S. 455)
Sie macht einen erfolglosen Siuzidversuch - weil es ihr eine kindliche Stimme befielt. (S. 457)
Sie hat Angst, dass die Stimme ihr immer wieder befehlen wird, Suizid zu begehen... solange bis es klappt... und meint, deshalb Jon und Toronto verlassen zu müssen. (S. 458).
Aber sie ist nicht psychotisch! Die Überzeugung der realen Präsenz fehlt. Es sind eindringliche und intensive, laut gewordene Gedanken: „Ich weiß, dass sie nicht wirklich da war. Ich weiß auch, dass ich sie gehört habe“. (S. 457)

Ich stolpere immer wieder über Elaines Emotionslosigkeit. Wir lesen Beschreibungen und Gedanken, aber wir erfahren nichts oder kaum etwas über Elaines Innenleben oder Gefühle.
Die Autorin vermittelt uns so wieder ganz deutlich, um was es geht:
Innere Leere.
Kaum Kontakt zur eigenen Gefühlswelt.
Funktionieren.
Elaine sagt zwar, dass sie Sara „liebt wie wild“ und dass sie oft wütend ist auf sie. Man liest es, aber man kann es nicht wirklich spüren. Also mir geht’s zumindest so. Elaine wirkt auf mich leblos und maskenhaft.
 
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...und noch letzte Gedanken zu diesem Abschnitt:
Eileen hat nicht nur einen massiven Selbstwertkonflikt, sondern auch große Schwierigkeiten, sich auf Beziehungen einzulassen und Beziehungen zu führen. (Narzisstische Störung und Beziehungsstörung würde man das im Fachjargon nennen.)
Ich habe das Gefühl, dass da eine Parallele zu Cordelia steckt (auch die wurde unterdrückt bzw. konnte sich unter ihrem Vater nicht frei entfalten); äußerlich sichtbar gemacht am Suizidversuch.
Ich glaube fast, die Autorin will uns ein und die selbe Sache aus 2 Warten heraus zeigen. 2 Seiten einer Medaille:
Ähnliche Erfahrungen (Unterdrückung), unterschiedlicher Umgang damit (Cordelia erst Täter, Elaine erst Opfer, dann Rollenumkehr), schließlich ein ähnliches „Schicksal“: psychische Labilität/Erkankung.
 

Literaturhexle

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Ich stolpere immer wieder über Elaines Emotionslosigkeit. Wir lesen Beschreibungen und Gedanken, aber wir erfahren nichts oder kaum etwas über Elaines Innenleben oder Gefühle.
Die Autorin vermittelt uns so wieder ganz deutlich, um was es geht:
Innere Leere.
Kaum Kontakt zur eigenen Gefühlswelt.
Funktionieren.
Vielen Dank, dass du das alles noch einmal so dezidiert zusammengefasst hast! Ja, das klingt alles schlüssig.

Kann denn ein Mobbing in der Kindheit, das maximal 3.Jahre angedauert hat, so viel Schaden anrichten? Elaine zumindest hatte doch ein intaktes Elternhaus, dem sie sich in ihrer Not allerdings nicht anvertraut hat.
Wenn ich jetzt so überlege, haben die Eltern allerdings auch viel ihr eigenes Ding gedreht. Das Nichtsesshaftsein ging voll auf Kosten der Kinder, denen es nicht möglich war, tragfähige Bindungen außerhalb der Familie einzugehen. Sie hatten schlicht keine Übung darin, Freundschaften zu haben. So etwas ist ein Lernprozess.

Dennoch empfinde ich als Laie diese lebenslangen Folgen erschreckend! Was das mit einer kindlichen Psyche anstellen kann...
Ich glaube fast, die Autorin will uns ein und die selbe Sache aus 2 Warten heraus zeigen. 2 Seiten einer Medaille:
Das kann wirklich gut sein! Ich bin neugierig, was du zum Ende sagen wirst. Oder bist du schon fertig?
 
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Vielen Dank, dass du das alles noch einmal so dezidiert zusammengefasst hast! Ja, das klingt alles schlüssig.

Kann denn ein Mobbing in der Kindheit, das maximal 3.Jahre angedauert hat, so viel Schaden anrichten? Elaine zumindest hatte doch ein intaktes Elternhaus, dem sie sich in ihrer Not allerdings nicht anvertraut hat.
Wenn ich jetzt so überlege, haben die Eltern allerdings auch viel ihr eigenes Ding gedreht. Das Nichtsesshaftsein ging voll auf Kosten der Kinder, denen es nicht möglich war, tragfähige Bindungen außerhalb der Familie einzugehen. Sie hatten schlicht keine Übung darin, Freundschaften zu haben. So etwas ist ein Lernprozess.

Dennoch empfinde ich als Laie diese lebenslangen Folgen erschreckend! Was das mit einer kindlichen Psyche anstellen kann...

Das kann wirklich gut sein! Ich bin neugierig, was du zum Ende sagen wirst. Oder bist du schon fertig?
...den letzten Abschnitt habe ich noch vor mir.
Ich glaube nicht, dass man alles NUR an diesem Mobbing festmachen kann. Aber wenn so etwas in einer solch sensiblen Entwicklungsphase stattfindet, hinterlässt das seine Spuren. Wie ausgeprägt diese dann sind, hängt von Vor-, Parallel- und Folgeerfahrungen ab, die einen ja auch prägen. Die innere Stabilität und der familiäre Zusammenhalt zum Zeitpunkt des Mobbings spielt eine große Rolle. Und da kommen dann Deine Überlegungen ins Spiel, finde ich.
In meiner Praxis bin ich immer wieder erschüttert über die verschiedensten und oft gravierenden Auswirkungen von Mobbing vor dem Hintergrund instabiler familiärer Konstrukte.
 

Literaturhexle

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In meiner Praxis bin ich immer wieder erschüttert über die verschiedensten und oft gravierenden Auswirkungen von Mobbing vor dem Hintergrund instabiler familiärer Konstrukte.
Das glaube ich aufs Wort! Das Leben ist kein Ponyhof, es gilt immer wieder Enttäuschungen und Verluste zu verschmerzen. In diesen Situationen braucht man aber ein Nest, eine Zuflucht, Stützen. Wenn man das nicht hat, verliert man leicht die Stabilität - in der Jugend umso mehr.
Ich habe da wenig Verständnis für Elaine gehabt. Mit diesem Josef hätte ich mich nie und nimmer eingelassen. Das war so bewusst berechnend, so "entschieden ".
Liebe "passiert", man entscheidet sie nicht;)
 

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Das mit der Emotionslosigkeit hast du sehr gut erklärt @SuPro. Das sorgt auch dafür, dass man beim Lesen nach der „Wende“ kaum noch mit Elaine mitleidet. Mir tat sogar Cordelia irgendwann Leid. Zu der Beziehung mit ihren Eltern ist mir aufgefallen, dass sie nach deren Weggang aus Toronto eigentlich kaum noch Kontakt mit ihnen hat. Das spricht nicht für eine stabile Beziehung.
 

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Das mit der Emotionslosigkeit hast du sehr gut erklärt @SuPro. Das sorgt auch dafür, dass man beim Lesen nach der „Wende“ kaum noch mit Elaine mitleidet. Mir tat sogar Cordelia irgendwann Leid. Zu der Beziehung mit ihren Eltern ist mir aufgefallen, dass sie nach deren Weggang aus Toronto eigentlich kaum noch Kontakt mit ihnen hat. Das spricht nicht für eine stabile Beziehung.
...das ist eine wichtige Beobachtung, finde ich. Wir können dann eig. davon ausgehen, dass die Bindung und Beziehung auch früher nicht so innig und intensiv war. (Ich hatte ohnehin immer den Eindruck, dass die Eltern sehr ihr eigenes Ding gemacht haben und dass die familiäre Bande zwar auf jeden Fall vorhanden, aber nicht besonders gefühlvoll war.) Davon ausgehend ist anzunehmen, dass Elaine u. a. deshalb besonders von dem Mobbing beeinträchtigt und geprägt wurde.
 
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... sie ist bzw. wirkt verhärtet, unempathisch, fast schadenfroh... und dass sie diese Seite in sich trägt, weiß sie. Das ist das „Böse in ihr“, von dem sie z. B. indirekt auf Seite 467 spricht. „ Ben hält mich für gut, und ich lasse ihn in diesen Glauben…“.
Dieses verhärtet und unempathisch sein von Elaine sehe ich als direkte Folge aus den Erfahrungen aus der Kinderzeit. Sie hat sich verändert, braucht sicher viel Zeit bis sie sich wieder öffnen kann, ihre Mauern einreißen kann. Jedes gefühlvollere Handeln hat vielleicht schlimme Folgen für sie, in dem vielleicht wieder Gefühle von damals hochkommen. Deswegen vielleicht auch der Cut und der Weggang nach Vancouver und der mit Gomorrha vergleichende Blick zurück nach Toronto. Toronto ist für sie die schlimme Stadt in der alles geschah. Wenn man sich da hinein versetzt, erkennt man einen kleinen Teil der Beeinträchtigungen, denen Elaine unterworfen ist. Einfach nur schlimm!
 
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Elaine verändert sich im Verlauf. Während sie sich anfangs, um zu gefallen, anpasst und so immer wieder in eine Opferrolle gerät, schützt sie sich inzwischen. Durch Distanzierung. Schotten dicht. Nach außen, indem sie sich nicht voll und ganz auf Beziehungen einlässt oder Randfigur bleibt, nach innen, indem sie (oft) hart und unempathisch reagiert.
Diese Gefühlskälte vermittelt Atwood hervorragend. Wir lesen detaillierte Beschreibungen, Beobachtungen und Gedanken, erfahren aber kaum etwas von Gefühlen. Weil sie sie nicht spürt. Weil es zu schmerzhaft wäre, würde die die spüren.
Weil sie sie nicht spürt. …
Schlimm! Wenn man sich das versucht vorzustellen! ….
 
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Gelöschtes Mitglied 2403

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Vielen Dank, dass du das alles noch einmal so dezidiert zusammengefasst hast! Ja, das klingt alles schlüssig.

Kann denn ein Mobbing in der Kindheit, das maximal 3.Jahre angedauert hat, so viel Schaden anrichten? Elaine zumindest hatte doch ein intaktes Elternhaus, dem sie sich in ihrer Not allerdings nicht anvertraut hat.
Wenn ich jetzt so überlege, haben die Eltern allerdings auch viel ihr eigenes Ding gedreht. Das Nichtsesshaftsein ging voll auf Kosten der Kinder, denen es nicht möglich war, tragfähige Bindungen außerhalb der Familie einzugehen. Sie hatten schlicht keine Übung darin, Freundschaften zu haben. So etwas ist ein Lernprozess.

Dennoch empfinde ich als Laie diese lebenslangen Folgen erschreckend! Was das mit einer kindlichen Psyche anstellen kann...

Das kann wirklich gut sein! Ich bin neugierig, was du zum Ende sagen wirst. Oder bist du schon fertig?
Ich empfand das, was Elaine in ihrer Kindheit passiert ist nicht als Mobbing. Das war in meinen Augen schon Psychoterror und natürlich hat der Folgen bei einer nicht gefestigten Seele, Wenn so etwas Folgen bei Erwachsenen hat, was wird das erst mit Kindern machen!?!?

Dieser wirklich so gelungene Blick auf geschädigte Kinderseelen und die Folgen im Erwachsenenleben verrät das Wissen einer Margaret Atwood.
 
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...den letzten Abschnitt habe ich noch vor mir.
Ich glaube nicht, dass man alles NUR an diesem Mobbing festmachen kann. Aber wenn so etwas in einer solch sensiblen Entwicklungsphase stattfindet, hinterlässt das seine Spuren. Wie ausgeprägt diese dann sind, hängt von Vor-, Parallel- und Folgeerfahrungen ab, die einen ja auch prägen. Die innere Stabilität und der familiäre Zusammenhalt zum Zeitpunkt des Mobbings spielt eine große Rolle. Und da kommen dann Deine Überlegungen ins Spiel, finde ich.
In meiner Praxis bin ich immer wieder erschüttert über die verschiedensten und oft gravierenden Auswirkungen von Mobbing vor dem Hintergrund instabiler familiärer Konstrukte.
Denkst du wirklich, dass familiäre Strukturen ein Trauma auffangen können. Betroffene können sich geborgen in den sicheren familiären Strukturen fühlen, ja, aber dies macht ja das Trauma nicht ungeschehen. Noch dazu kommt, dass wirklich viele Menschen, gerade in jungen Jahren und damit als noch ungefestigte Persönlichkeiten, erlittene Traumata als Schmach empfinden und sie versuchen zu verstecken. Und auch ich, als wirklich lange Mitarbeiterin(20 Jahre) in der Psychiatrie sehe nicht alles. Obwohl ich viel wahrnehme. Vollkommen bin ich natürlich nicht. Auch ich lerne immer wieder Neues kennen. :)
 
G

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Das mit der Emotionslosigkeit hast du sehr gut erklärt @SuPro. Das sorgt auch dafür, dass man beim Lesen nach der „Wende“ kaum noch mit Elaine mitleidet. Mir tat sogar Cordelia irgendwann Leid. Zu der Beziehung mit ihren Eltern ist mir aufgefallen, dass sie nach deren Weggang aus Toronto eigentlich kaum noch Kontakt mit ihnen hat. Das spricht nicht für eine stabile Beziehung.
Es ging mir ähnlich! Und das spricht wieder für das Wissen und Können einer Margaret Atwood.
 
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...das ist eine wichtige Beobachtung, finde ich. Wir können dann eig. davon ausgehen, dass die Bindung und Beziehung auch früher nicht so innig und intensiv war. (Ich hatte ohnehin immer den Eindruck, dass die Eltern sehr ihr eigenes Ding gemacht haben und dass die familiäre Bande zwar auf jeden Fall vorhanden, aber nicht besonders gefühlvoll war.) Davon ausgehend ist anzunehmen, dass Elaine u. a. deshalb besonders von dem Mobbing beeinträchtigt und geprägt wurde.
Aber sind diese Blicke zurück nicht durch Elaines Augen erfolgt und damit nicht auch verfärbt? Elaines Mutter fand ich schon gefühlvoll und auch enttäuscht über sich selbst, dass sie nicht zu Elaine durchdrang.
 
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Denkst du wirklich, dass familiäre Strukturen ein Trauma auffangen können. Betroffene können sich geborgen in den sicheren familiären Strukturen fühlen, ja, aber dies macht ja das Trauma nicht ungeschehen. Noch dazu kommt, dass wirklich viele Menschen, gerade in jungen Jahren und damit als noch ungefestigte Persönlichkeiten, erlittene Traumata als Schmach empfinden und sie versuchen zu verstecken. Und auch ich, als wirklich lange Mitarbeiterin(20 Jahre) in der Psychiatrie sehe nicht alles. Obwohl ich viel wahrnehme. Vollkommen bin ich natürlich nicht. Auch ich lerne immer wieder Neues kennen. :)

Ungeschehen kann ein Trauma ja ohnehin nicht gemacht werden.

Innerhalb der Familie und durch deren Interaktion und emotionalen Austausch bilden sich in den ersten Lebensjahren bereits basale Dinge heraus wie Selbstsicherheit, Selbstwertgefühl und Selbstbewusstsein. Ist da eine gesunde Entwicklung möglich, dann wird der junge Mensch bereits weniger anfällig sein für Mobbing. Er wird wohl auch daran zu knabbern haben, aber es wird wahrscheinlich nicht zu tiefgreifenden Schäden dadurch kommen, weil er es durch seine inneren Voraussetzungen schon etwas besser parieren kann.

Ein Auffangen ist durchaus möglich. Bedingt allemal.
Manche Gemobbte können sich tatsächlich Familienangehörigen anvertrauen und Trost, Beruhigung, Rat und Mut tanken. Geborgenheit gibt Kraft.
Manche Gemobbte empfinden zu große Scham, als dass sie sich anvertrauen können. Scham für einen vermeintlichen Makel, für den sie ja gemobbt werden. Aber das sind meist genau diejenigen, die schon im Vorfeld und eben aufgrund gewisser familiärer Instabilitäten eher unsicher waren.
Wenn die Botschaft eines Mobbings „Etwas stimmt nicht mit Dir“ auf ein Seelchen trifft, dem von kleinauf klar gemacht wurde, dass es genauso, wie es ist, richtig ist, dann wird es diese Botschaft schwerer haben. Auch wenn so eine Botschaft trotzdem ins Wanken bringen kann, weil der junge Mensch ja noch nicht gefestigt ist.

Das ist ja auch einer der Ansätze in der analytischen Therapie: dem Menschen dazu verhelfen, dass er fühlen und denken kann, dass er genauso wie er ist, okay ist. So kann dann auch im Nachhinein Reparatur erfolgen.

Ausserdem ist es ja nicht per se so, dass Mobbing grundsätzlich als Trauma bezeichnet werden kann. Umgangssprachlich wird der Begriff dann ja doch deutlich weiter gefasst und niederschwelliger benutzt als im Fachjargon (außergewöhnliche Bedrohung, katastrophales Ausmaß). In Elaines Fall würde ich aus analytischer Sicht nicht von einem Trauma sprechen.
 

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Aber sind diese Blicke zurück nicht durch Elaines Augen erfolgt und damit nicht auch verfärbt? Elaines Mutter fand ich schon gefühlvoll und auch enttäuscht über sich selbst, dass sie nicht zu Elaine durchdrang.
...ist der Blick zurück nicht immer gefärbt? Egal von wem er ausgeht. Er ist doch immer subjektiv. Es geht ja (in der Therapie) nicht um objektive Wahrheiten. Wichtig ist doch ihr persönliches Erleben, denn genau dieses Erleben hat sie zu dem gemacht, was sie ist. Mitdenken muss man natürlich schon, dass es, je nach Perspektive mehrere Wahrheiten gibt.
Ich hatte gar nicht das Gefühl, dass sich Elaines Mutter darum bemüht hat, zu ihrer Tochter durchzudringen. Und ich habe den Eindruck, dass sie deshalb Schuldgefühle hatte und um Absolution bat.
 
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Ungeschehen kann ein Trauma ja ohnehin nicht gemacht werden.

Innerhalb der Familie und durch deren Interaktion und emotionalen Austausch bilden sich in den ersten Lebensjahren bereits basale Dinge heraus wie Selbstsicherheit, Selbstwertgefühl und Selbstbewusstsein. Ist da eine gesunde Entwicklung möglich, dann wird der junge Mensch bereits weniger anfällig sein für Mobbing. Er wird wohl auch daran zu knabbern haben, aber es wird wahrscheinlich nicht zu tiefgreifenden Schäden dadurch kommen, weil er es durch seine inneren Voraussetzungen schon etwas besser parieren kann.

Ein Auffangen ist durchaus möglich. Bedingt allemal.
Manche Gemobbte können sich tatsächlich Familienangehörigen anvertrauen und Trost, Beruhigung, Rat und Mut tanken. Geborgenheit gibt Kraft.
Manche Gemobbte empfinden zu große Scham, als dass sie sich anvertrauen können. Scham für einen vermeintlichen Makel, für den sie ja gemobbt werden. Aber das sind meist genau diejenigen, die schon im Vorfeld und eben aufgrund gewisser familiärer Instabilitäten eher unsicher waren.
Wenn die Botschaft eines Mobbings „Etwas stimmt nicht mit Dir“ auf ein Seelchen trifft, dem von kleinauf klar gemacht wurde, dass es genauso, wie es ist, richtig ist, dann wird es diese Botschaft schwerer haben. Auch wenn so eine Botschaft trotzdem ins Wanken bringen kann, weil der junge Mensch ja noch nicht gefestigt ist.

Das ist ja auch einer der Ansätze in der analytischen Therapie: dem Menschen dazu verhelfen, dass er fühlen und denken kann, dass er genauso wie er ist, okay ist. So kann dann auch im Nachhinein Reparatur erfolgen.

Ausserdem ist es ja nicht per se so, dass Mobbing grundsätzlich als Trauma bezeichnet werden kann. Umgangssprachlich wird der Begriff dann ja doch deutlich weiter gefasst und niederschwelliger benutzt als im Fachjargon (außergewöhnliche Bedrohung, katastrophales Ausmaß). In Elaines Fall würde ich aus analytischer Sicht nicht von einem Trauma sprechen.

Ich denke da sind wir bei zwei Dingen nicht auf einer Länge.

[zitat]Innerhalb der Familie und durch deren Interaktion und emotionalen Austausch bilden sich in den ersten Lebensjahren bereits basale Dinge heraus wie Selbstsicherheit, Selbstwertgefühl und Selbstbewusstsein. Ist da eine gesunde Entwicklung möglich, dann wird der junge Mensch bereits weniger anfällig sein für Mobbing. Er wird wohl auch daran zu knabbern haben, aber es wird wahrscheinlich nicht zu tiefgreifenden Schäden dadurch kommen, weil er es durch seine inneren Voraussetzungen schon etwas besser parieren kann. [/zitat]

Ich glaube nicht dass Familie per se vor Mobbing schützt. Es gibt durchaus Menschen, wie hier die Cordelia, die Menschen gut durchschauen und in der Lage sind jemanden bis ins Mark zu treffen. Umgekehrt könnte man ja dann jeder Familie in Mobbingfällen eine Mitschuld zuweisen. Und dies glaube ich nicht! Zumindest nicht immer!

[zitat]In Elaines Fall würde ich aus analytischer Sicht nicht von einem Trauma sprechen.[/zitat]

Und auch hier habe ich eine vollkommen andere Meinung. Ich sehe bei Elaine definitiv ein traumatisches Erleben.

Aber gut, so ist das eben, es gibt unterschiedliches Empfinden. Weil wir unterschiedlich sind. :)
 
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Ich glaube nicht dass Familie per se vor Mobbing schützt.
... das glaube ich auch nicht. Ich sprach davon, dass Mobbing mit hoher Wahrscheinlichkeit eine weniger tiefgründige und weitreichende Auswirkung hat, wenn es im Vorfeld und Hintergrund ein „gesundes“ Familienleben gab/gibt.
Da kann man natürlich keine absolutistische Aussage treffen. Es geht um Wahrscheinlichkeiten.
 

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Umgekehrt könnte man ja dann jeder Familie in Mobbingfällen eine Mitschuld zuweisen. Und dies glaube ich nicht! Zumindest nicht immer!
... um Mitschuld geht es nicht.
Aber in manchen Fällen schaffen bestimmte Bedingungen und Gegebenheiten Voraussetzungen und das führt dann zu Mitverantwortlichkeiten.
Wie Du sagst: nicht immer. Aber eben oft.
 

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Ich denke da sind wir bei zwei Dingen nicht auf einer Länge.

[zitat]Innerhalb der Familie und durch deren Interaktion und emotionalen Austausch bilden sich in den ersten Lebensjahren bereits basale Dinge heraus wie Selbstsicherheit, Selbstwertgefühl und Selbstbewusstsein. Ist da eine gesunde Entwicklung möglich, dann wird der junge Mensch bereits weniger anfällig sein für Mobbing. Er wird wohl auch daran zu knabbern haben, aber es wird wahrscheinlich nicht zu tiefgreifenden Schäden dadurch kommen, weil er es durch seine inneren Voraussetzungen schon etwas besser parieren kann. [/zitat]

Ich glaube nicht dass Familie per se vor Mobbing schützt. Es gibt durchaus Menschen, wie hier die Cordelia, die Menschen gut durchschauen und in der Lage sind jemanden bis ins Mark zu treffen. Umgekehrt könnte man ja dann jeder Familie in Mobbingfällen eine Mitschuld zuweisen. Und dies glaube ich nicht! Zumindest nicht immer!

[zitat]In Elaines Fall würde ich aus analytischer Sicht nicht von einem Trauma sprechen.[/zitat]

Und auch hier habe ich eine vollkommen andere Meinung. Ich sehe bei Elaine definitiv ein traumatisches Erleben.

Aber gut, so ist das eben, es gibt unterschiedliches Empfinden. Weil wir unterschiedlich sind. :)

... hier kann es um Empfinden gehen oder eben um die Wortdefinition.
Das meinte ich mit Umgangssprache und Fachsprache. Umgangssprachlich kann man sicher von Traumatisierung sprechen, aber nicht, wenn man die WHO-Definition dieses Begriffs berücksichtigt. Und gerade bei diesem heutzutage so oft gebrauchten oder missbrauchten Wort, habe ich diese Definition immer im Kopf. Das ist aber schlicht und ergreifend beruflich bedingt, weil dieses Wort ja diagnostisch und damit Euch therapeutisch gesehen eine sehr große Bedeutung hat.