6.Leseabschnitt: Fallende Frauen und Ein Flügel (Kapitel 56 - 66)

Querleserin

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"Er hat sich angewöhnt, von mir zu verlangen, dass ich spreche; wenn ich nicht reden soll, legt er mir die Hand auf den Mund."

Wie im letzten Abschnitt schon erwähnt, hat auch Josef zunächst Macht über Elaine, wobei sie selbst diese durchbricht, da sie gleichzeitig ein Verhältnis mit Jon beginnt, der wiederum auch mit anderen Frauen schläft - was für ein Durcheinander ;)
Die Beziehung kippt, nachdem Susi ihr Kind hat abtreiben lassen und dabei fast stirbt - das Verbot der Abtreibung hat sie zu der verzweifelten Tat getrieben. Schrecklich!
Das Gleichgewicht ist jetzt gestört, Josef wird zur Belastung für Elaine und auch die Machverhältnisse ändern sich und Elaine verlässt ihn, wie sie auch Cordelia verlassen hat. Beide suchen sie jedoch in Träumen weiterhin auf.
Allerdings ist auch die Beziehung zu Jon fragil:
"Ich spüre, dass er, wie ein von zwei Buchstützen, für sich unvollständig ist."
Trotzdem beschließt sie, ihn zu lieben, während sie ihren Uniabschluss macht.
Seltsam finde ich, dass sie den Kontakt zu ihrer Familie fast abgebrochen hat, nachdem ihre Eltern in den Norden gezogen sind. Mit ihrem Bruder, der ein erfolgreicher Wissenschaftler ist, tauscht sie sich per Postkarten aus - aber ansonsten gibt es wenig Berührungspunkte.
Elaine wird schwanger und mit dieser neuen Situation tauchen ihre Ängste wieder auf, das Gefühl Nichts zu sein, die kommende Verantwortung scheint sie zu überfordern. Gleichzeitig verändert sich ihre Malerei - sie malt Dinge, die nicht da sind. Allerdings haben sie einen Bezug zu ihrer Vergangenheit, in ihren Bildern verarbeitet sie diese...
Wie wir von der "erwachsenen" Elaine bereits wissen - beide Handlungsstränge nähern sich an - kommt es zwischen Jon und Elaine trotz des gemeinsamen Kindes zu Streitereien und Auseinandersetzungen und sie schließt sich einer Gruppe von Künstlerinnen an und gemeinsam organisieren sie eine Ausstellung, die für Aufsehen sorgt. Trotzdem findet sie auch in dieser Gruppe keine echte "Heimat":
"Schwesternschaft ist für mich ein schwieriges Konzept", hat sie jemals eine wirkliche Freundschaft mit einer Frau erfahren?

Währenddessen landet Cordelia in der Psychiatrie und Elaine weigert sich ihr zu helfen, im Gegenteil, sie empfindet eine Wut auf Cordelia, da sie es wagt, sie um Hilfe zu bitten. Es ist eine "böse" Stimme in ihrem Kopf (die immer kursiv gedruckt ist, in meiner Ausgabe zumindest).
Nach diesem Besuch "ahmt sie Erleichterung nach", aber sie ist nicht frei von Cordelia. In der Gegenwart glaubt sie ja auch ständig, diese zu sehen, wie ein Schatten begleitet sie Elaine und immer wieder träumt sie von ihr. @SuPro, das Deuten überlasse ich dir ;)
Im Handlungsstrang der Gegenwart wird immer deutlicher, dass Elaine ihren Besuch in Toronto nutzt, um die Vergangenheit hinter sich zu lassen. Sie besucht das Haus, in dem Josef gewohnt hat, sie schläft noch einmal mit Jon - ein Abschied, eine alte Rechnung wird beglichen, sie vergeben einander.
Was sie sich vergeben, wird im darauffolgenden Kapitel (65) erzählt, seine Frauengeschichten, aber auch ihr Selbstmordversuch.
Und wieder diese Stimme in ihrem Kopf "Tu´s. Mach schon. Tu´s." Es ist die Stimme eines neunjährigen Kindes. Ihre eigene? Oder die Cordelias?
Nach ihrem Selbstmordversuch verlässt Elaine John Richtung Vancouver und lernt nach einiger Zeit Ben kennen und nach außen hin, scheint alles gut zu sein...
 

Literaturhexle

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Danke wieder für deine fantastische Zusammenfassung! Ich würde mich sehr schwer damit tun. Auch wahr, was du am Anfang über die Machtverhältnisse zwischen Josef und Elaine sagst: genau auf den Punkt gebracht!

Aus meiner Sicht ist Atwood in diesem Abschnitt etwas vom Thema abgekommen. Die künstlerische Szene, die Frauen, ihre feministischen Werke.... - all das für mich als Kunstbanausin zu lang und zuviel. Ein Freund dessen mag die Werke noch interpretieren :D. Ich nicht. Da habe ich mich zum ersten Mal gelangweilt, weil die Kunst mir fremd ist.

Elaine ist wahrlich nicht mehr das willfährige Mädchen von einst. Sowohl für Susie als auch für Josef hat sie wenig Mitleid, zumindest für erstere sollte sie es haben. Eine Schwangerschaft war DAS Risiko der freien Liebe... Da sollte frau sich solidarisieren.

Das Wiedersehen mit Cordelia im Pflegeheim ist erschütternd. Elaine ist zwischen Mitleid und Hass (von dem sie immer noch nicht weiß, woher er kommt!) hin und her gerissen. Sie hilft aber nicht zu fliehen. Ein Brief kommt später zurück, was die Frage aufwirft, was mit Cordelia passiert ist.

AUCH Elaine hat versucht sich das Leben zu nehmen. Stimmen haben ihr das befohlen. Sie hat selbst Angst vor den Stimmen, geht irgendwann auch zum Psychiater, dem sie aber wichtige Informationen vorenthält und in Folge die Therapie abbricht.
"Er glaubt, dass ich etwas verberge.
Nach einer Weile gehe ich nicht mehr hin."

Der versuchte Suizid ist eine Parallele zwischen Elaine und Cordelia.
Elaine "passt auf, dass sie nicht zu sehr an den Rand der Dinge gerät", und versucht Situationen zu vermeiden, die erneut in eine Krisensituation führen könnten.

"Toronto liegt hinter ihr, in weiter Ferne, in meinen Gedanken brennend wie ein Gomorrha. Auf das ich nicht zu blicken wage."

Welch ein Satz vor dem letzten Abschnitt, in den ich mich jetzt hinein bewege!
 

sursulapitschi

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Aus meiner Sicht ist Atwood in diesem Abschnitt etwas vom Thema abgekommen. Die künstlerische Szene, die Frauen, ihre feministischen Werke.... - all das für mich als Kunstbanausin zu lang und zuviel.
Es stimmt, dass hier plötzlich ein ganz anderer Wind weht, allerdings fand ich das ganz spannend. Nicht so sehr ihre diversen künstlerischen Phasen oder Werke, als die Atmosphäre und den zeithistorischen Aspekt.
Erstmal hat Atwood die Künstlerszene mit den ganzen Rivalitäten und speziellen Befindlichkeiten sehr gut dargestellt. Ich war auch auf einer Hochschule für Gestaltung und kenne das sehr gut. Da tragen die Illustratoren schwarz und belächeln die Modeleute...Sie muss ein Insider sein.

Dann bestaune ich die emanzipatorischen Bestrebungen, die ja wohl extrem nötig waren. Ich kann plötzlich verstehen, wie es kam, dass vorübergehend Körperhaare erwünscht und ein Politikum waren und frage mich, ob wir gerade einen seltsamen Rückschritt machen...

Es ist jetzt nicht mehr viel Buch übrig. Ich bin gespannt auf das Ende und möchte jetzt wirklich die ältere Cordelia nochmal treffen. Sie kann doch nicht einfach so verschwinden. Bestimmt kommt sie zur Ausstellung.
 

Querleserin

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Es stimmt, dass hier plötzlich ein ganz anderer Wind weht, allerdings fand ich das ganz spannend. Nicht so sehr ihre diversen künstlerischen Phasen oder Werke, als die Atmosphäre und den zeithistorischen Aspekt.
Erstmal hat Atwood die Künstlerszene mit den ganzen Rivalitäten und speziellen Befindlichkeiten sehr gut dargestellt. Ich war auch auf einer Hochschule für Gestaltung und kenne das sehr gut. Da tragen die Illustratoren schwarz und belächeln die Modeleute...Sie muss ein Insider sein.

Dann bestaune ich die emanzipatorischen Bestrebungen, die ja wohl extrem nötig waren. Ich kann plötzlich verstehen, wie es kam, dass vorübergehend Körperhaare erwünscht und ein Politikum waren und frage mich, ob wir gerade einen seltsamen Rückschritt machen...

Es ist jetzt nicht mehr viel Buch übrig. Ich bin gespannt auf das Ende und möchte jetzt wirklich die ältere Cordelia nochmal treffen. Sie kann doch nicht einfach so verschwinden. Bestimmt kommt sie zur Ausstellung.
Mich hat einerseits die Künstlerszene interessiert und ich fand auch interessant, wie sie ihr Leben in Bildern verarbeitet. Beim Drama würde man diesen Abschnitt retardierendes Moment nennen - Atwood zögert das Ende hinaus.
 
G

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Dieser Abschnitt geht zu Ende und das Leben von Elaine komplettiert sich. Ihre Unsicherheiten sind sichtbar und ebenso eine meist im Hintergrund lauernde Depression. Bei dem, was sie als Kind erlebt hat, ist dies bisher ein recht geringes Übel, dass Elaine hier durchleben muss. Dies hätte auch noch viel schlimmer für Elaine enden können. Sie hat zumindest noch die Möglichkeiten Bindungen eingehen zu können, auch wenn diese auch dunkle Seiten haben. Aber was ist schon immer hell.

Sie hat ihre sie einengenden Muster, in denen sie lebt, aber sie hat auch die Kraft, sie zu durchbrechen. Sie lebt mit Josef und beginnt ebenso ein Verhältnis mit Jon. Sie lebt gleichzeitig mit Josef und mit Jon. Etwas was sie eine kurze Zeit vorher Josef indirekt angelastet hat. Etwas was sich auch bei der älteren Elaine wiederholt. Obwohl sie mit Ben zusammen ist, schläft sie mit Jon. Obwohl das hier nur eine einmalige Sache ist, zumindest scheint es so und auch mehr als Wiedergutmachung zu sehen ist.

Mir scheint es besonders in diesem Kapitel so, dass sich die Atwood hier über Männer und Frauen-Klischees etwas lustig macht, sie an den Pranger stellt. Auch in den anderen Kapiteln schwingt so etwas mit, aber hier ist es noch mehr im Vordergrund. Schubladenhaftes Denken und Einstufen der Umgebung ist halt auch etwas, was es zu Überdenken gilt. Und gleichzeitig ist es etwas, was uns nie verlassen hat, sich sehr hartnäckig in den Köpfen hält. Es ist sehr fragwürdig ob wir jemals davon loskommen werden.

Etwas verwundert bin ich auch über die Isoliertheit der Elaine. Gut Kanada ist ein großes Land. Und Umzüge bedeuten hier etwas anderes als bei uns. Aber in der Familie von Elaine wirkte doch alles halbwegs intakt. Warum leben sie sich so auseinander. Oder kommt hier noch etwas???

Ebenso wundere ich mich über Cordelia. Sie landet nach einem missglückten Selbstmordversuch in der Psychiatrie und Elaine soll sie herausholen als ihre Freundin. Wie nimmt Cordelia nur ihre Kindheit wahr??? Oder lief die Kindheit eventuell ganz anders ab??? Und das was Elaine hier erzählt ist eine fehlerhafte Version???
 

Literaturhexle

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Schubladenhaftes Denken und Einstufen der Umgebung ist halt auch etwas, was es zu Überdenken gilt. Und gleichzeitig ist es etwas, was uns nie verlassen hat, sich sehr hartnäckig in den Köpfen hält. Es ist sehr fragwürdig ob wir jemals davon loskommen werden.
Das ist mir gar nicht so aufgefallen. Aber es stimmt: sie spielt schon mit den Klischees. Allerdings ist ja auch was Wahres dran....:confused: - auch wenn es nicht so sein sollte ;)
 

SuPro

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Die künstlerische Szene, die Frauen, ihre feministischen Werke.... - all das für mich als Kunstbanausin zu lang und zuviel. Ein Freund dessen mag die Werke noch interpretieren :D. Ich nicht. Da habe ich mich zum ersten Mal gelangweilt, weil die Kunst mir fremd ist.
... mir ging es ähnlich, obwohl ich durchaus Interesse an Kunst habe. Es war mir z. T. zu langatmig und detailliert. Irgendwie schon wichtig, um einen Eindruck vom Alltag Elaines zu bekommen, auch interessant, die feministische Strömung dieser Zeit mitzubekommen, aber „wichtig@ und „interessant“ bedeutet halt nicht zwangsläufig „fesselnd“...
 

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Sowohl für Susie als auch für Josef hat sie wenig Mitleid,
... sie ist bzw. wirkt verhärtet, unempathisch, fast schadenfroh... und dass sie diese Seite in sich trägt, weiß sie. Das ist das „Böse in ihr“, von dem sie z. B. indirekt auf Seite 467 spricht. „ Ben hält mich für gut, und ich lasse ihn in diesen Glauben…“.
 

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"Toronto liegt hinter ihr, in weiter Ferne, in meinen Gedanken brennend wie ein Gomorrha. Auf das ich nicht zu blicken wage."
... ja, ein Satz, der es in sich hat. Sie will sich nicht mit ihrer schmerzlichen Vergangenheit befassen. Deshalb konnte sie sich auch (noch) nicht auf eine Therapie einlassen (die sie wirklich nötig hätte!)
 

SuPro

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dass sich die Atwood hier über Männer und Frauen-Klischees etwas lustig macht, sie an den Pranger stellt.
...das ist eine interessante Sichtweise. Ich dachte bis jetzt, dass Atwood einfach den damaligen Zeitgeist beschreibt. Aber es könnte natürlich gut sein, dass da was Ironisches und Süffisantes mitschwingt...
 

SuPro

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Ich möchte noch ein paar Gedanken zu einem Thema loswerden, das sich meines Erachtens wie ein roter Faden durch den Roman zieht: MACHT - OHNMACHT.

Gleich zu Beginn hilft Elaine einer bettelnden Frau.
Das Thema „Macht-Ohnmacht“, taucht auch hier wieder auf. Und nicht nur das Thema, sondern auch eine seiner Folgen: Hass.
In Gedanken formuliert Elaine in Anbetracht der Szene mit der Bettlerin: „Es ist obszön, so viel Macht zu besitzen; und auch, so viel Machtlosigkeit zu empfinden. Wahrscheinlich hasst sie mich.“ (S. 383)

Auch im heimlichen Agieren Elaines begegnet uns dieses Thema wieder. Etwas heimlich zu tun, aber nicht ertappt zu werden oder ein Geheimnis zu haben kann ein Gefühl von Macht und Stärke auslösen. Das genießt Elaine.

Verraten, Betrügen und Täuschen. Es verschafft Elaine einerseits einen Kick. Es gibt ihr Energie (der Machtaspekt) und andererseits fühlt sie sich dadurch „zersplittert… (und)... in Fragmente zerlegt“ (die Schuldgefühle darüber, so zu handeln und zu fühlen)(S. 384).

„Wenn Josef ein doppeltes Spiel spielt, kann ich das auch“ (Seite 387). Trotz, um sich von der Macht bzw. dem Unterlegenheitsgefühl zu befreien. Ganz typisches Verhalten in der Autonomieentwicklung.

Elaine hat mit Cordelia eine extrem negative Beziehungserfahrung gemacht, in der die Pole Macht und Ohnmacht sehr ausgeprägt waren. Wahrscheinlich resultiert daraus ihre Schwierigkeit, sich emotional voll auf verbindliche und enge Beziehungen einzulassen, da diese das Risiko von Besitzanspruch, Beschlagnahmung, Unfreiheit, Ohnmacht und Selbstverlust bergen.