6. LA: "Vereinbarungen" (Seite 371 bis 412)

G

Gelöschtes Mitglied 2403

Gast
Ich bin durch und ich bin vollkommen begeistert. Die Geschichte wandelt sich vollkommen. Nicht Andrew/Benjamin ist die treibende Kraft hinter dem Bevel/Rask- Finanzimperium. Harold Vanner taucht als HV auf Partys von Mildred/Helen auf und schreibt ihr Briefe, welche Bedeutung hatte er wohl für Mildred/Helen? Was könnte die heftige Reaktion von Andrew/Benjamin erklären, die Aufdeckung und Gefährdung seiner Selbstdarstellung oder noch etwas mehr? Denn beide Männer schwächen die Frauengestalt ab, sind sich hier ähnlich, aus welchem Grund, männliche Dominanz, männliches Machtgehabe. Ida fühlt sich Mildred/Helen nahe und ist dies auch. Denn auch bei ihr gibt es diese männliche Dominanz, mit der sie auf ihre Art fertig wird, wie es Helen/Mildred auch gemacht hat.

Dennoch zeigt diese Kritik hinter dem herrschenden Kapitalismus auch die weiblichen Strippenzieher. Was gut ist. Denn dieses System stützen wir alle, ob Mann oder Frau, an welcher Stelle wir auch sitzen, welches Rädchen im Gefüge wir auch bilden. Denn auch wenn man kritische Gedanken hat, der Konsum hat uns alle im Griff, ob man nun Flugblätter druckt oder einen Job ausübt. Denn auch dieses schwingt hier mit. Ein richtig interessantes Buch!
 

Wandablue

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18. September 2019
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Brandenburg
Überraschung gelungen! Natürlich schwante mir, dass etwas nicht stimmt. Und Diaz hat ja Brotkrumen gelegt, die ich nur hätte aufpicken müssen, das Mathematikwunderkind Helen: es wurde mir ja vorgestellt.
Also war es in Wahrheit Helen/Mildred, die diese gesamten waghalsigen Aktionen durchführte und Andrew Bevell zu unermesslichem Reichtum führte. Gleichzeitig verabscheute sie klassische Musik, sie war ihr zu einfach. Sie muss hochmusikalisch gewesen sein, deshalb war auch der Passus darüber, wie sehr sie es bedauerte, kein Instrument gelernt zu haben, einer der wenigen authentischen.
Mei. Die beiden haben sich wahrlich verdient.
Die ständige Beteuerung von Bevel, ein Mensch allein könne nicht so viel Einfluss an der Börse haben, nicht solche Dinge herbeiführen, bekommen ein ganz anderes Gesicht. Und manch andere Bemerkung auch, man möchte den Roman gleich noch einmal lesen.
Aber Bevel hat Mildred/Helen nichts angetan. Er brauchte sie. Allerdings hat es ihm einen rechten Schlag versetzt, dass er auf sie angewiesen war und eben nicht alles aus eigener Kraft hinbekommen hat. Jemand, der wirklich ein starker Charkter gewesen wäre, hätte dies durchaus zugeben können.
Nur die Diagnose ist mir zu unbestimmt. Manche Krebsarten kann man heilen. Allerdings weiß ich nicht, wie weit die Medizin in den 20ern war.
 

RuLeka

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30. Januar 2018
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Ja, das Ende hat den Roman abgerundet und war stimmig. Wie @Wanda schreibt, sollte man mit dem Wissen den Roman erneut lesen. Da würden uns noch viel mehr „ Brotkrumen“ auffallen. ( Deshalb hat Andrew Ida auch immer wieder angewiesen, auf seine mathematische Begabung hinzuweisen.
 

GAIA

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27. Dezember 2021
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Ich bin ebenso vom letzten Text des Romans und dem gesamten Buch angetan wie ihr. Was kann ich noch schreiben? Einfach klasse gemacht und auch ich dachte daran, das das so ein Buch ist, welches man gleich noch einmal lesen könnte und sollte. (Wenn da nicht andere Bücher warten würden... egal, anderes Thema)

Diese vielen, vielen Hinweise und Aha-Momente beim Lesen des Tagesbuchs von Mildred sind schon grandios gesetzt. Aber auch fernab der "Detektivarbeit" und der Aufdeckung Mildreds "wahrer" Natur, gefielen mir hier noch einmal die äußerst authentischen Einwürfe zu Schmerzen, Schmerzbehandlung und Bettlägerigkeit sehr gut. Meine Vermutung ist, dass es sich um einen Knochenkrebs gehandelt haben könnte. Dabei brechen, wie beschrieben, die Knochen sehr schnell. Das würde passen, dass im Tagebuch auftaucht, dass ihr das Sprunggelenk (glaube ich) allein vom Wenden gebrochen wurde. Aber auch passt es in den Roman von Vanner, der ja postalischen Kontakt zu Mildred noch in der Klinik gehabt zu haben scheint. Er wird dies erfahren haben und hat in seinen Roman eingebaut, dass von der Krampftherapie das Schlüsselbein gebrochen ist. (Das kann es auch ohne Knochenkrebs übrigens, aber es passt daszu, dass ein kleines Fitzelchen "Wahrheit" genommen wurde und dann etwas anderes herumerfunden.

Zur Suggestibilität von Andrew: Wie schon im letzten LA, in dem er sich selbst sicher war, dass die Krimiabende tatsächlich passiert sind, taucht hier auf, dass Mildred es immer so einrenken konnte, dass durch sanfte Andeutung Andrew zur Meinung gekommen ist, er habe die bahnbrechende Idee zu Finanztransaktionen. Er schien empfänglich für soetwas gewesen zu sein.

Die Aussage von S. 391: "Ich wusste, dass ich niemals auf solchen Höhen handeln konnte, wenn nicht durch ihn. Eine Weile genossen wir die Allianz beide." Lässt mich an z.B. Künstlerinnen und Schriftstellerinnen denken, die früher häufiger unter dem Namen des Ehemanns veröffentlichten, weils sie anders nicht ausreichend wahrgenommen worden wären. Und noch früher in Königshäusern, in denen männlcihe Nachfahren die Macht hielten, aber durchaus auch Ehefrauen, Mütter etc. existierten, die im Hintergrund die Strippen zogen. Der König dann nur als Marionette der Frau dahinter.

Und abschließend noch: Was ich doch auch anrührend fand ist, dass durchaus aus dem Tagebuch eine Art von Liebe oder zumindest Mitleid und Sorge füreinander hervorging. Es ist nicht so, dass alles schwarz oder weiß sein muss. Die beiden haben sich nicht gehasst und nur eine Allianz des Nutzens gehabt. Es gab auch, zumindest in dieser letzten Phase geschildert, eine Art von Zuneigung füreinander.
 
Zuletzt bearbeitet:

Literaturhexle

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2. April 2017
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Diese vielen, vielen Hinweise und Aha-Momente beim Lesen des Tagesbuchs von Mildred sind schon grandios gesetzt.
Aber sowas von! Ein kaum erwartbares Puzzlespiel, völlig glaubwürdig komponiert.
die äußerst authentischen Einwürfe zu Schmerzen, Schmerzbehandlung und Bettlägerigkeit sehr gut
Total authentisch! Aus dem Geschriebenen kann man herauslesen, wie in etwa das Befinden im Moment des Schreibens war. Das geht ungemein unter die Haut. Die Krankheit macht sie nachgiebiger. Sie versucht A. seine aufrichtige Sorge zu vergelten durch kleine Gesten. Anrührend, ohne kitschig zu sein. (By the way: der Absatz über den Kitsch ist sowas von gut gelungen!)
eine Art von Liebe oder zumindest Mitleid und Sorge füreinander hervorging
Auch alles sehr ehrlich und nachvollziehbar.
 

Literaturhexle

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Die große Überraschung ist gelungen: Andrew stellt seine Frau als philanthropische graue Maus dar, weil er auf keinen Fall will, dass man ihm auf die Schliche kommt. Tatsächlich war SIE das Genie hinter dem Bevelschen Finanzimperium! Stark! Klar, hätte man darauf kommen können - sind wir aber nicht. Zeichnet das nicht einen großen Autor aus? Ein Buch glaubwürdig und mit Unerwartetem über die Ziellinie bringen zu können?
Kunst kommt von Können. Das zeigt sich hier wunderbar.

Darüber hinaus ist sich das Ehepaar schon verbunden. Geschäftlich, aber auch privat. Die Jahre der großen Erfolge haben sie beide genossen. Der größte Coup gelang Mildred im Alleingang beim Crash 1929 - der irrtümlich Andrew angeheftet wurde. Was ihn wurmt und worüber Ida sich freute, weil ihr Name unerwähnt blieb.

Mit HV verbindet sie eine lose Freundschaft, sie tauschen Tratschgeschichten aus. Es könnte Andrew also tatsächlich um den Afront gegangen sein, dass Vanner seine Frau als Irre darstellte. Denn das war sie nicht. Die Medikamente ließen sie manchmal neben sich stehen. Das eigentliche Geheimnis hatte Vanner nicht gewusst und auch nicht ausgeplaudert.
Ida hat Recht mit ihrer These, dass Vanner ihr die Geisteskrankheit um der besseren Geschichte willen angedichtet hat.

Ebenso wahr ist das in "Verpflichtungen" dargestellte gereizte Verhältnis zwischen Mildred und ihrer Mutter.
Rückblickend fiel mir auf, dass wir bis auf unsere geschäftliche Zusammenarbeit kaum je Zeit miteinander verbracht hatten. Wussten kaum etwas voneinander. 405
Auch hier decken sich die Wahrheiten, die Andrew allerdings mit Mildreds Hilfe zu verschleiern sucht.

Mildred betrachtet den Krebs als ihre Strafe. Schlimm.

Die Tagebuchfragmente sind sensationell geschrieben! Wie sich Diaz hier in einen schwerkranken Menschen hineinfühlt, ist einfach großartig!

Ein Buch für 6 Sterne. Die Rezension wird eine Herausforderung, weil man auf keinen Fall zuviel vom Inhalt verraten darf. Der Leser MUSS die Chance bekommen, selber Rückschlüsse zu ziehen und sich überraschen zu lassen.
 

GAIA

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27. Dezember 2021
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Ein Buch für 6 Sterne. Die Rezension wird eine Herausforderung, weil man auf keinen Fall zuviel vom Inhalt verraten darf. Der Leser MUSS die Chance bekommen, selber Rückschlüsse zu ziehen und sich überraschen zu lassen.
Ganz genau! Ich hoffe, dass viele Rezensent:innen auch so denken. Ich habe mich noch nicht mit Äußerungen von professionellen wie Hobby-Rezensent:innen beschäftigt bisher; hoffentlich halten sie sich bedeckt.
 

Emswashed

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9. Mai 2020
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Wow, was für ein Abschluss! Was für eine Wendung! Mildred war das Finanzgenie UND sie war auch die "eiskalte" Jongleurin, die die Baisses regelrecht herbeigeführt hat und mit dem Vorsprung zum Ticker die imensen Gewinne erzielt hat.
Alles was ich anfänglich in Gedanken dem Benjamin Rask zugeschoben habe, könnte jetzt in Mildreds Kern gesteckt haben.

Sowohl Vanner als auch Bevel sind dieser Frau nicht gewachsen gewesen und fühlten sich in ihrer Ehre verletzt. Bevel als Finanzgenie und Vanner vielleicht als verschmähter Liebhaber. Und beide müssen sich nach Mildreds Tod auch weiterhin bekämpfen. Was für ein Hahnenkampf.
 

RuLeka

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30. Januar 2018
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Die Rezension wird eine Herausforderung, weil man auf keinen Fall zuviel vom Inhalt verraten darf. Der Leser MUSS die Chance bekommen, selber Rückschlüsse zu ziehen und sich überraschen zu lassen.
Das wird wirklich schwierig. Im Grunde kann man vom Inhalt wenig erzählen, aber auch auf das literar Können einzugehen, ohne zu viel zu sagen, wird eine Herausforderung.
 

Irisblatt

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15. April 2022
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Überraschung gelungen! Natürlich schwante mir, dass etwas nicht stimmt. Und Diaz hat ja Brotkrumen gelegt, die ich nur hätte aufpicken müssen, das Mathematikwunderkind Helen: es wurde mir ja vorgestellt.
Ich liebe ja solche A-ha-Erlebnisse.
Gleichzeitig verabscheute sie klassische Musik, sie war ihr zu einfach. Sie muss hochmusikalisch gewesen sein, deshalb war auch der Passus darüber, wie sehr sie es bedauerte, kein Instrument gelernt zu haben, einer der wenigen authentischen.
Verabscheuen ist ein bisschen stark. Ich hatte es eher so verstanden, dass es sie langweilt. Ein virtuos gespieltes klassisches Stück findet sie durchaus in Ordnung auch wenn ihr Herz eindeutig für neuere, unkonventionelle Kompositionen schlägt.
Die ständige Beteuerung von Bevel, ein Mensch allein könne nicht so viel Einfluss an der Börse haben, nicht solche Dinge herbeiführen, bekommen ein ganz anderes Gesicht. Und manch andere Bemerkung auch, man möchte den Roman gleich noch einmal lesen.
Oh ja!
Nur die Diagnose ist mir zu unbestimmt.
Warum? Wir erfahren aus Mildreds Aufzeichnungen davon zu einem Zeitpunkt, an dem sie bereits im Sterben liegt. Es hätte mich eher irritiert, wenn sie zu diesem Zeitpunkt über ihre genaue Diagnose geschrieben hätte. Vermutlich hat sie sich dazu aber in früheren Tagebüchern geäußert, die leider nicht mehr vorhanden sind.
Sie hat auch im Bekannten/Freundeskreis ihre Krankheit verschwiegen. Das entnehme ich zumindest ihrem Kommentar darüber, wie sehr sie sich über die Briefe freut, obwohl sie nichts erzählt hat. Ich gehe davon aus, dass auch Vanner nicht komplett im Bilde war.
Mildred betrachtet den Krebs als ihre Strafe. Schlimm.
Ja, leider! Darin zeigt sich, dass sie sich verantwortlich für ihr Handeln fühlt im Gegensatz zu ihrem Mann.
Die Tagebuchfragmente sind sensationell geschrieben! Wie sich Diaz hier in einen schwerkranken Menschen hineinfühlt, ist einfach großartig!
Finde ich auch.

Zur Suggestibilität von Andrew: Wie schon im letzten LA, in dem er sich selbst sicher war, dass die Krimiabende tatsächlich passiert sind, taucht hier auf, dass Mildred es immer so einrenken konnte, dass durch sanfte Andeutung Andrew zur Meinung gekommen ist, er habe die bahnbrechende Idee zu Finanztransaktionen. Er schien empfänglich für soetwas gewesen zu sein.
Genau! Wie anstrengend mit einem solchen Menschen zusammenleben zu müssen. Bezüglich ihrer Krebsdiagnose bereut es Mildred, nicht wie üblich vorgegangen zu sein und hat als Ergebnis einen beleidigten Ehemann, der feststellen muss, dass seine Frau bereits alle notwendigen Schritte selbst erledigt hat - ihn nicht braucht.
 

Sassenach123

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27. Dezember 2015
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Das Ende hat mir doch alle wichtigen Fragen beantwortet, ich hatte ja bedenken, dass einiges zu unleserlich sein könnte, und für Ida dann keinen Sinn ergibt. Allerdings hätte es der Handlung auch nicht gut geta, da ja alles auf diesem Konzept aufbaut
Mildreds mathematische Fähigkeiten wurden von Vanner bereits trefflich dokumentiert, in diesem Fall war er zuverlässiger als A, da er Angst hatte, dass alle ahnen, dass Mildred die Drahtzieherin war. Sein Ansehen wäre in dem Fall stark gesunken.
Mildred und Andrew hatten keine schöne Ehe, auch das wird beim Widersacher besser deutlich. Hätte Vanner sich von der psychischen Krankheit distanziert, würde ich denken, seine Einschätzung ist die, die am dichtesten an Mildred heranreicht.

Der Roman hat mich enorm fesseln können. Ich finde es sehr schade, dass ich es nun zur Seite legen muss.
 

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29. März 2022
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Mainz
Ich bin nun auch durch mit diesem Buch und war am Ende überrascht. Wie Ihr fand ich die Wendung bzgl. Mildred recht unerwartet, zugleich aber gut gelungen und sehr nachvollziehbar.
Ich werde nach meinem Familienbesuch, wenn ich wieder in Mainz bin, noch einmal zu der ein oder anderen Passage zurück kehren und auch mal die ein oder andere Buchbesprechung anschauen.
Es wäre einfach zu schade, das Buch bereits beiseite zu legen und ins Regal einzusortieren...
 

milkysilvermoon

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13. Oktober 2017
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Der letzte Teil war zwar nicht in sprachlicher Hinsicht, aber in inhaltlicher ein Genuss. Ich muss gestehen, dass mich das Buch auch noch mal so richtig überraschen konnte. Darauf bin ich nicht vorher selbst gekommen. Ich muss noch mal in Ruhe nachdenken, alles sacken lassen, die eine oder andere Passage nachlesen. Aber schon jetzt steht fest, dass es definitiv eines der besonderen Bücher dieses Jahr für mich ist.