5. Leseabschnitt: Teil VI und VII (Seite 195 bis Ende)

alasca

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13. Juni 2022
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Aha, die Katze ist aus dem Sack - die Liebe ihres Lebens ist ihr Bruder. Der scheint ebenso zu fühlen, aber kann das moralische Korsett nicht abstreifen. Tragisch. Meist sind inzestuöse Beziehungen mit Zwang von einer Seite verbunden, das ist natürlich schärfstens zu verurteilen. Und selbstredend wäre es keineswegs ratsam, miteinander Kinder zu bekommen, was Alicia ja ersehnt. Aber aus meiner Sicht spricht nichts gegen eine Liebesbeziehung, wenn beide es wollen.

Sprache als parasitäre Entität des Gehirns. Ihre Theorie, warum das Unterbewusstsein keine Sprache hat, finde ich vollkommen plausibel. Sie ist allerdings nicht neu. Die Idee des parasitären Aspekts ist neu für mich, gruselig irgendwie. Dass Sprache quasi der Anfang allen Übels gewesen sein soll - ein sperriger Gedanke. Für mich war sie immer ein Heilsbringer.

Die Freudkritik hat mich amüsiert - "wir waren jung und leicht zu erfreuden." Der alte Frauenverleumder.

Und nochmal Mathematik, unverständlicher denn je. Homologische Algebra. Transfinite Zahlen. Ich habe nicht mal Lust, das zu googeln, ich denke, es ist auch nicht nötig. Es kommt rüber, dass ein ganzes Universum ins Wanken kommt, wenn Alicia erstmal anfängt zu denken.

Das muss ja wahnsinnig machen.

Der letzte Satz: Ist Alicia im Begriff, zu sterben? An Unterernährung, Schwäche, was auch immer? (Der Einstieg in das Kapitel beschreibt ihr schlechtes Aussehen.)

Was soll man denken über diesen Roman? Prätentiöser Mist? Geniales Zeug?
 

petraellen

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11. Oktober 2020
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Dieser LA gibt mehr Auskunft über ihren Bruder. "Es könnte ein bisschen schmutzig werden." (S. 200) Oha, nun doch wird der mögliche Inzest zwischen den beiden angesprochen. Überdeutlich zeigt sich die sehr enge Beziehung zu ihrem Bruder. Sie wollte ihn heiraten, sie liebt ihn seit sie zwölf ist. Sie zweifelt nicht daran, dass auch er sie liebte. "Ich wusste, dass ich nur eine einzige Liebe und eine einzige Chance hatte. Und ich täuschte mich nicht in seinen Gefühlen. Das erkannte ich daran , wie er mich ansah. (S. 205) Der Höhepunkt ist ein Traum von Alicia, Sie träumt eine intime Beziehung mit ihm zu haben, sie erzählt ihm von diesem Traum und er antwortet, dass sie ihm so etwas nie wieder erzählen darf. Ist die Beziehung zu ihrem Bruder ein Traum oder Realität? Es bleibt eine Leerstelle, wie viele andere Situation in diesen sieben Sitzungen. Die siebte und letzte Sitzung nimmt das Thema Mathematik und Tod auf. Die Todessehnsucht. "Über das Problem, Zugang zu der Welt zu finden, die man sich am meisten ersehnt. (S. 237) Stella Maris läßt offen, ob Alicia stirbt. Sie wünscht , dass der Therapeut ihre Hand hält und begründet: "Weil es da ist, was Menschen tun, wenn sie auf das Ende von etwas warte. (S. 239)
 

Literaturhexle

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@alasca beschreibt eigentlich genau, wie es mir auch geht. Die mathematischen Passagen in diesem letzten Abschnitt habe ich als extrem abgehoben und speziell empfunden, da konnte ich wenig Substanzielles herausziehen und hätte auch gar nicht gewusst, an welcher Stelle ich die Google Maschine ansetzen soll.

Was überaus deutlich wird, ist, dass der volkstümliche Spruch "Genie und Wahnsinn liegen oft dicht beieinander", durchaus eine große Wahrheit enthalten kann. Ich möchte nicht mit Alicia tauschen, bin mit meinem Durchschnittshirn doch sehr zufrieden.
Der letzte Satz: Ist Alicia im Begriff, zu sterben? An Unterernährung, Schwäche, was auch immer? (Der Einstieg in das Kapitel beschreibt ihr schlechtes Aussehen.)
Zumindest hat sie zu Beginn des Romans "Der Passagier" Selbstmord begangen (so wird darüber berichtet - was Wahrheit oder Realität ist, weiß man nicht unbedingt genau). Insofern würde ich die Zeichen hier auch in Richtung Suizid deuten. Alicia isst ja auch nicht gern. Ihr einziger Freund Leonard ist ebenfalls akut suizidgefährdet - vielleicht verstehen sie sich deshalb so gut.

Aufgemerkt habe ich beim Hinweis, dass Bobby Angst vor Tiefen hat, er im Passagier aber als Tiefsee Rettungstaucher aktiv ist. Kurios!

Ja, ich wollte dazugehören. Ich war nur nicht bereit, den Eintrittspreis zu zahlen. 217
Ein sehr bedeutungsschwerer Satz!

Die Sprache als grundlegende Ursache der Geisteskrankheit. Gewagt und wahrscheinlich kaum beweisbar.

Zugang zu einer Welt zu finden, die man sich am meisten ersehnt.
Eine Kernaussage meines Erachtens. Alicia ist auf der Suche. Vielleicht hat sie Stella Maris genau aus dem Grund angesteuert: Um noch einmal anderen Input, andere Lösungen, andere Gedanken zu bekommen.
Ob das am Ende gelungen ist, wage ich zu bezweifeln. Die letzte Szene ist sehr ausdruckstark.
 

Naibenak

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Der letzte Satz: Ist Alicia im Begriff, zu sterben?
Nachdem ich gestern das Buch mit Mühe beendet habe, sind mir nit etwas Abstand dann im Bett Gedanken zu diesen Schlusssätzen gekommen ;)
Alicia ist als suizidgefährdet eingestuft und meiner Meinung nach hat sie von Anfang an genau das im Sinn. Diese 7 Sitzungen sind für sie die Sterbebegleitung. Sie spricht sich nochmal alles von der Seele. Wir sehen eine zutiefst tragische Person, die aufgrund ihrer Hochbegabung an der Welt zerbricht und gleichzeitig an der Beziehung zu ihrem Bruder, der nun nicht mehr da ist. Er war offenbar der Einzige, der sie wirklich verstanden hat. Zum Schluss ist sie bereit. So verstehe ich es. Von daher schon eine geniale Konstruktion des Romans. Dennoch kann und will ich nicht die volle Punktzahl geben. Dafür war er zu anstrengend, quälend in den seitenlangen Monologen über hochkomplexe Mathematik etc...
 

Naibenak

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Ich habe nicht mal Lust, das zu googeln
Ich auch nicht, habe sogar teilweise quergelesen, mir wären sonst vor Erschöpfung ob der anstrengenden Thematik und Begrifflichkeiten fast die Augen zugefallen :apenosee
Das muss ja wahnsinnig machen.
Ich denke, genau das ist der Konsenz aus all diesen hochkomplexen Monologen... Alicia zerbricht aufgrund ihres nimmermüden hochbegabten Geistes quasi an der Welt. Sie wendet sich ja sogar ab von der Mathematik, die sie eigentlich so sehr liebt. Ihr bleibt nichts liebenswertes mehr am Leben, jetzt, wo sie auch ihren Bruder verloren hat
 

Naibenak

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Vielleicht hat sie Stella Maris genau aus dem Grund angesteuert: Um noch einmal anderen Input, andere Lösungen, andere Gedanken zu bekommen.
Ja, vielleicht. Vielleicht war sie in der Absicht Suizid zu begehen nach Stella Maris gegangen, mit der leisen Hoffnung, dass noch irgendein Ereignis eintritt und sie von diesem Vorhaben abhält. Am Ende aber hat es sie in ihrer Absicht nur bestätigt, glaube ich. So interpretiere ich die letzte Szene ...
 

Literaturhexle

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Diese 7 Sitzungen sind für sie die Sterbebegleitung. Sie spricht sich nochmal alles von der Seele.
Entweder so oder als Chance, noch einmal eine Umkehr zu bewerkstelligen.
Allerdings spricht manches für deine Version. wollte sie nicht auch den ein oder anderen Bekannten wieder sehen (um sich zu verabschieden)?

Dennoch kann und will ich nicht die volle Punktzahl geben
Ja. So ergeht es mir auch. zuviele böhmische Dörfer. Trotzdem genial.
So interpretiere ich die letzte Szene ...
Diese Szene spricht für mich auch eine klare Sprache.
 

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@alasca beschreibt eigentlich genau, wie es mir auch geht. Die mathematischen Passagen in diesem letzten Abschnitt habe ich als extrem abgehoben und speziell empfunden, da konnte ich wenig Substanzielles herausziehen und hätte auch gar nicht gewusst, an welcher Stelle ich die Google Maschine ansetzen soll
Bei den mathematischen Stellen war ich auch sofort raus. Ich würde aber gar nicht dazu recherchieren wollen, dafür ist mein Interesse an Mathematischem bei weitem zu gering. Die Geschichte an sich muss also auch so verständlich sein.
Insofern würde ich die Zeichen hier auch in Richtung Suizid deuten
Ich habe das Ende auch so verstanden. Aber andererseits: Kann ein Therapeut ja nicht tatenlos zuschauen und Händchen halten, während ein Patient dem Leben entgleitet...
 

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Ich bin durch und vom Buch insgesamt sehr angetan.
Alicia ist also tatsächlich früh schon ihrem eigenen Bruder verfallen.
Sie scheint generell irgendwie verloren in der Welt, ihre Hochbegabung errettet sie nicht.
Der Selbstmord - konsequent.
Trotzdem irritiert mich der Gedanke einer Sterbebgleitung durch den Therapeuten.Er ist ja vom Berufsbild her auch zur Heilung verpflichtet. Generell erscheint er mir phasenweise als recht passiv. Meiner Meinung nach steuert Alicia den Ablauf der Sitzungen. Müsste er nicht gegensteuern, wenn er merkt, das Verhängnis nimmt seinen Lauf?
Dennoch: ein wudnerbares Buch. :)
 

Literaturhexle

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Sie scheint generell irgendwie verloren in der Welt, ihre Hochbegabung errettet sie nicht.
Ich würde sogar sagen, die Hochbegabung steht am Anfang von allem. Der Roman macht das Dilemma, nichts einfach so hinnehmen zu können, sondern für alles eine Erklärung suchen zu müssen, wirklich super deutlich. Man kann das pausenlose Rattern dieses Hirns förmlich spüren.
Das macht schwierig und einsam. Alicia fühlte sich nur unter ihresgleichen und bei ihrem Bruder wirklich wohl. So landete sie in Stella Maris.
 

Naibenak

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Kann ein Therapeut ja nicht tatenlos zuschauen und Händchen halten, während ein Patient dem Leben entgleitet...
Wie alasca schon sagte : der Arzt ist m.M.n. sehr klug und ihm ist im Laufe dieser Sitzungen deutlich geworden, dass Alicia bei der Komplexität ihrer Verzweiflung nicht geholfen werden kann. Selbst er ist da machtlos. Er KANN ihr schon aus reinen Verständnisproblemen nicht helfen. Ich glaube, er steuert die Sitzungen durchaus, lässt aber Alicia irgendwann von der Leine. Er ist ihrem Geist nicht gewachsen und erkennt, dass genau dies ein Hauptproblem von Alicia in Bezug auf andere Menschen ist.
 

Irisblatt

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Alicia ist als suizidgefährdet eingestuft und meiner Meinung nach hat sie von Anfang an genau das im Sinn.
Ich habe gerade noch einmal die ersten 20 Seiten des Passagiers gelesen. Es spricht alles für deine These, dass sie Stella Maris als ihre letzte Station aufsuchen möchte. Der Zwerg versucht sie noch abzuhalten.
Bruder, der nun nicht mehr da ist. Er war offenbar der Einzige, der sie wirklich verstanden hat. Zum Schluss ist sie bereit. So verstehe ich es.
Ich verstehe es auch so.
 

Irisblatt

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Ich bin durch und weiß gerade nicht, wie ich das alles finden soll.
Weiterhin beschäftigt mich der Zwerg. Für was steht er? Ich schreibe mal ungefiltert auf, was mir zu ihm einfällt (da spielen natürlich auch die Eindrücke aus dem Passagier eine Rolle.) Er ist klein, zwergwüchsig, aufmüpfig, hat eine Behinderung ausgelöst durch Contergan, tritt dominant auf, möchte Alicia unterhalten, möchte ihr Gutes tun, leider trifft er mit seinen Aktionen nicht ihren Geschmack, die, die ihn begleiten fallen durch ihre Mittelmäßig auf, in dem was sie tun, ihre Show ist gut gemeint, aber schrecklich dilettantisch, der Zwerg möchte überall mitreden, hat Halbwissen, gibt Sachverhalte und Theorien falsch wieder, verwendet Sprache nicht immer richtig, er ist respektlos, weiß wo er Alicia finden kann, Alicia sagt einmal, dass er geschickt wurde (von wem/von was?), er nimmt seine "Aufgabe" bei Alicia zu sein ernst, lässt sich nicht vertreiben, sagt aber ausdrücklich, dass er ihr nicht nach Stella Maris folgen wird.
Zum ersten Mal taucht er auf als Alicia mit 12 ihre Regel bekommt - er möchte für sie ein Menstruationsfest feiern. Er weiß auch von dem Tor und den Wächtern und deutet an, dass er auch deshalb da ist, weil sie das gesehen hat.
Im Roman wurde viel darüber geredet, dass das Unbewusste in Bildern spricht. Könnte der Zwerg eine Manifestation von Alicias Unbewussten sein? Das, durch sein unperfektes Erscheinen (äußerlich und intellektuell), einen Gegenpol zu Alicias, in höheren Sphären analysierenden bewussten, geistigen Fähigkeiten bildet. Der Zwerg (ihr Unbewusstes) erkennt die Gefahr, in der Alicia durch ihre Hochbegabung, Einsamkeit und unerfüllt Liebe schwebt, versucht sie von anderen lebenswerten Aspekten des Lebens zu überzeugen.
Sollte der Zwerg tatsächlich für das Unbewusste stehen, dann bedeutet sein Abschied von Alicia, dass er aufgegeben hat gegen ihren Verstand anzutreten. Er kämpft nicht mehr um ihr Überleben bzw. seines.
Dann gibt es noch die Frau im Mantel, die um die Babys weint. Auch sie könnte einen anderen Aspekt von Alicias Unbewussten darstellen, ein wenuger dominanter Anteil. Die Stellen werde ich mir in beiden Romanen noch einmal ansehen. Vielleicht führt das noch auf eine Spur.
 

Naibenak

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Könnte der Zwerg eine Manifestation von Alicias Unbewussten sein? Das, durch sein unperfektes Erscheinen (äußerlich und intellektuell), einen Gegenpol zu Alicias, in höheren Sphären analysierenden bewussten, geistigen Fähigkeiten bildet.
Mensch, da hast du einen super interessanten Geistesblitz ;) ich habe den Zwerg bisher nicht so recht einordnen können, aber deine Theorie kommt mir sehr passend vor. Danke dafür :)
 

Irisblatt

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Vielleicht ist Alicia kurz etwas gelungen, was kaum jemand schafft: sie hat einen Blick auf ihr Unbewusstes erhascht, die Wächter und sich selbst damit erschreckt. Dieser Blick ist nicht vorgesehen- das Unbewusste bestimmt, welche Informationen (verschlüsselt) ins Bewusstsein treten. Der Schock war auf allen Seiten gewaltig und deshalb musste irgendwann der Zwerg und seine Horte ran.
Alles nur vielleicht - ich weiß es nicht :think