5. Leseabschnitt: Teil VI und VII (Seite 195 bis Ende)

GAIA

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Aber aus meiner Sicht spricht nichts gegen eine Liebesbeziehung, wenn beide es wollen.
So geht es mir auch. Wenn daraus keine Kinder entstehen würden, ist dann nicht eine einvernehmliche Liebe zusammen sinnvoller als der Selbstmord? Ich finde ja. Aber die Beziehung könnte trotzdem nicht miteinander funktionieren. Eben wegen der Sache mit dem Kind. Alicia ist deutlich darin, dass sie eins haben möchte mit Bobby. Er scheinbar keinesfalls. (Auf den medizinisch-genetischen Aspekt komme ich weiter unten noch einmal zu sprechen.) Wenn wir jetzt mal alles Inzestiöse gedanklich weglassen: Es gibt viele Beziehungen, die in die Brüche gehen, weil ein Teil unbedingt Kinder möchte der andere Teil aber keinesfalls. Dann wird das Paar nicht zusammen glücklich werden, weil entweder der unerfüllte Wunsch zu innerlichem Groll führt oder andersrum die aufgezwungene Elternschaft. Diese beiden scheinen also auf mehreren Ebenen nicht zu passen. Auch wenn sie scheinbar gleichzeitig perfekt passen könnten.
Dass Sprache quasi der Anfang allen Übels gewesen sein soll - ein sperriger Gedanke. Für mich war sie immer ein Heilsbringer.
Ich kann mir vorstellen, dass gerade für Alicia diese als Übel ansieht. Wenn sie in ihren Gedanken Mathematik denken kann, dann braucht sie dafür keine Sprache. Will sie mit anderen darüber reden, muss immer vereinfacht werden. Mathematik allein ist immer ausführlicher als Sprache. Unterschiedliche Sprachen führen zu Konflikten (Babel), Mathematik ist aber eine einheitliche Form. Kein Wunder, dass viele, sehr gute Science-Fiction-Klassiker damit liebäugeln, dass der Erstkontakt zu einer Alien-Lebensform nur über Mathematik passieren könnte.
Was soll man denken über diesen Roman? Prätentiöser Mist? Geniales Zeug?
Meine Tendenz gerade eben nach Abschluss, aber bevor ich ein, zwei Nächte darüber geschlafen habe: Inhaltlich ist das, was Alicia erzählt geniales Zeug. Als literarischer Roman ist dieser für mich aber prätentiöser Mist. Also etwas von beidem. ;)

Er ist klein, zwergwüchsig, aufmüpfig, hat eine Behinderung ausgelöst durch Contergan, [...]der Zwerg möchte überall mitreden, hat Halbwissen, gibt Sachverhalte und Theorien falsch wieder, verwendet Sprache nicht immer richtig
Zum ersten Mal taucht er auf als Alicia mit 12 ihre Regel bekommt - er möchte für sie ein Menstruationsfest feiern.
Könnte der Zwerg eine Manifestation von Alicias Unbewussten sein? Das, durch sein unperfektes Erscheinen (äußerlich und intellektuell), einen Gegenpol zu Alicias, in höheren Sphären analysierenden bewussten, geistigen Fähigkeiten bildet.
Aufbauend auf diesen drei Aussagen von dir habe ich noch eine weitere Hypothese zum Zwerg: Die Manifestation von Alicias Unbewussten finde ich eine sehr gute Deutungsidee! Er ist zur ersten Menstruation aufgetreten, zur Geschlechtsreife quasi. Zu der Zeit, gibt Alicia an, habe sie auch schon gewusst, dass sie Bobby heiraten und mit ihm ein Kind haben will. Sie ist ja schon unglaublich intelligent seit sie ein Kind ist und versteht die Welt, durchdringt sie, wie kaum eine andere 12Jährige. Könnte es dann sein, dass der missgebildete Zwerg schon ein unbewusster HInweis darauf sein soll, was herauskommen könnte, wenn Bruder und Schwester ein Kind zusammen zeugen? Wenn also nicht nur Inzest sonder Inzucht passieren würde, wäre die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, dass ein physisch und/oder geistig behindertes Kind herauskommen würde. Könnte der Zwerg genau dafür stehen?
Möchte denn niemand über den Zwerg reden? Welche Ideen habt ihr?
Doch hier, siehe oben. Sogar eine ganz wilde Theorie. :p
 

Sassenach123

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@GAIA
Deine Theorie zum Zwerg ist genial. Ob das nun tatsächlich die Intention des Autors ist, lässt sich nicht ergründen, aber deine Darstellung passt so perfekt, dass ich fast schon überzeugt bin;)
 

Irisblatt

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Sie denkt, er sei quasi tot, sie bringt sich später um. Er ist aber nicht tot, erwacht wieder und dann ist die Liebe seines Lebens tatsächlich tot, weil sie sich umbrachte, ohne zu wissen, dass er wieder aufwachen würde. "Romeo und Julia" lässt grüßen, oder? Was denkt ihr dazu?
Ich habe inzwischen eine andere Theorie, die aber wirklich spoilern würde. Wenn du Lust hast, dann schau mal - ich habe hier im ersten oder 2. Leseabschnitt meine Vermutung verdeckt als Spoiler geschrieben.
 

GAIA

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27. Dezember 2021
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Wie genial! Darauf bin ich nicht gekommen, wo doch die Parallelen eigentlich so offensichtlich sind. Habe grad regelrecht ne Gänsehaut bekommen wegen dieser logischen Beweisführung :joy:heloRichtig gut!!!
Genau, liebe @GAIA, deine Gedanken sind absolut zwingend logisch, so muss es gemeint sein!
ich danke euch! ich muss auch zugeben, dass aufgrund der vielen deutungsmöglichkeiten mir der roman jetzt im nachhinein immer besser gefällt. mein anfänglicher ärger verblasst langsam.
 

Literaturhexle

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vielen deutungsmöglichkeiten
Oh ja! Ich bin begeistert, was sich mit eurer Hilfe so alles erschließen lässt.
Romeo und Julia passt hervorragend.

Erzählt Alicia nicht gleich zu Anfang in DIESEM Buch, dass ihr Bruder im Koma liegt und sie die Maschinen nicht abschalten kann? Insofern hat man den Kontext.

Was den Zwerg betrifft, ist mir da jegliche Interpretation zu hoch. Dennoch finde ich es spannend, euren Überlegungen zu folgen. Für mich ist er nur eine penetrante Halluzination entsprungen aus Alicias Hyper-Geist. Doch sowohl Kind als auch Unterbewusstsein sind vorstellbar.
 
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Irisblatt

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Aufbauend auf diesen drei Aussagen von dir habe ich noch eine weitere Hypothese zum Zwerg: Die Manifestation von Alicias Unbewussten finde ich eine sehr gute Deutungsidee! Er ist zur ersten Menstruation aufgetreten, zur Geschlechtsreife quasi. Zu der Zeit, gibt Alicia an, habe sie auch schon gewusst, dass sie Bobby heiraten und mit ihm ein Kind haben will. Sie ist ja schon unglaublich intelligent seit sie ein Kind ist und versteht die Welt, durchdringt sie, wie kaum eine andere 12Jährige. Könnte es dann sein, dass der missgebildete Zwerg schon ein unbewusster HInweis darauf sein soll, was herauskommen könnte, wenn Bruder und Schwester ein Kind zusammen zeugen? Wenn also nicht nur Inzest sonder Inzucht passieren würde, wäre die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, dass ein physisch und/oder geistig behindertes Kind herauskommen würde. Könnte der Zwerg genau dafür stehen?

Doch hier, siehe oben. Sogar eine ganz wilde Theorie. :p
Wilde Theorie, aber super spannend und absolut möglich! Danke!
 
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Könnte es dann sein, dass der missgebildete Zwerg schon ein unbewusster HInweis darauf sein soll, was herauskommen könnte, wenn Bruder und Schwester ein Kind zusammen zeugen? Wenn also nicht nur Inzest sonder Inzucht passieren würde, wäre die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, dass ein physisch und/oder geistig behindertes Kind herauskommen würde. Könnte der Zwerg genau dafür stehen?
Gerade bin ich im Passagier auf eine Stelle gestoßen, in der der Zwerg Alicia erklärt, dass er auch da sei, weil es um Genetik gehe. Das würde deine Theorie untermauern. Kurz danach geht es aber auch um die Atombombentests - Strahlung verändert auch das Erbgut. Vermutlich steht der Zwerg für sehr viele Aspekte und möchte auf vieles hinweisen. Je mehr ich (wiederholt) lese, umso verwirrter lassen mich die Szenen zurück. Das ist definitiv nichts, was ich ohne eure Inputs deuten kann. Deshalb lasse ich es erst einmal gut sein.
 
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Irisblatt

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Als sich Alicia bei einem ihrer früheren Aufenthalte in Stella Maris (in Der Passagier) einer Elektroschockbehandlung (?) unterzieht, beschimpft sie der Zwerg danach, weil er und seine Leute dadurch Verbrennungen 3. Grades erlitten hätten, die jetzt mühsam wieder heilen müssen. Was sagt mir das über das Wesen des Zwergs bzw. das seiner Begleiter:innen??????
 

luisa_loves-literature

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Weiterhin war es für mich aber fast ausschließlich die Zurschaustellung von McCarthys Wissen bzw. ein mathematisches name dropping.
Das ging mir genauso. Erst im letzten Leseabschnitt schimmerte mal etwas Menschliches durch, dann wenn es um Emotion geht.
"Romeo und Julia" lässt grüßen, oder?
Ja, ich kenne den Passagier nicht, aber:rofl
Inhaltlich ist das, was Alicia erzählt geniales Zeug. Als literarischer Roman ist dieser für mich aber prätentiöser Mist.
Das fast meinen Eindruck recht gut zusammen. "Mist" jetzt nicht, aber wieder einer dieser Romane, wo sich der Autor vor seiner eigenen Genialität verneigt.
 
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luisa_loves-literature

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Es hat endlich etwas "gemenschelt", das hatte mir tatsächlich die ganze Zeit über gefehlt. Dieser Roman setzt ja fast auf dauerhaften Emotions-Entzug beim Leser, zum Glück wird dieser durch die geschilderte Liebe zum Bruder (Alicia hat Gefühle!) und den tatsächliche sehr gelungenen Schluss beendet. Das Ende fand ich in der Tat großartig, die Umkehrung der Rollen bzw. die Rückerlangung der eigentlichen Rollenverteilung, wenn der Psychiater darauf hinweist, dass die Zeit um ist und dann der rührende Moment, dass eine hochbegabte, sich allen geistig überlegen fühlende Alicia eine Berührung wünscht. Dazu der Gedanke, dass sie gerne im Land ihrer Wurzeln gestorben wäre - bei aller Analyse, Distanziertheit und Rationalität wird es am Ende doch äußerst überraschend gefühlig, was mir hier, das kann ich nicht genug betonen, doch ausgezeichnet gefallen hat.

Ansonsten: seitenweise mathematische Einblicke. Ich verstehe leider nicht den Beweggrund dahinter. Funktonstechnisch führt es dazu, dass Alicia als sehr nüchtern, hochintelligent, arrogant, überlegen und distanziert gezeichnet wird. Was die Wirkung angeht, überfordert es die allermeisten Leser mit Sicherheit doch sehr. Es ist eine vielleicht nicht zutreffende Vermutung, aber die wenigsten von McCarthys Lesern sind Mathematiker (die über all diese Theorien auch Bescheid wissen), sondern vermutlich eher Literaturbegeisterte (es ist ja sowieso ein beliebtes Vorurteil(?), dass Literaturaffine nicht unbedingt die Mathematik lieben und umgekehrt). Mein Interesse wurde zumindest in den mathematischen Passagen auf eine harte Probe gestellt und die Rückkehr zur Verständlichkeit wurde von mir mit erleichtertem Aufatmen quittiert. Ich erkenne McCarthys Wissen an, hätte mir aber sehr gewünscht, dass er auch einiges davon für sich behält.

Und abschließend: die Dialogform halte ich für innovativ - aber nur für ein-zwei Kapitel. Wenn er so versessen auf Dialoge ist, dann hätte er sich trauen sollen und ein Drama schreiben (da versuchen sich ja mittlerweile eh viel zu wenige Autoren dran.). Es hätte sich vielleicht nicht so leicht verkauft, aber er hätte sich ja der Form des "closet drama" verschreiben können. Das sind Dramen, die nur zum Lesen gedacht sind. So finde ich es bei allem inhaltlichen Wagnis, doch in der Form verhalten.
 
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