5. Leseabschnitt: Karton 2/13 bis 2/24 (Seiten 275 bis 339)

Wandablue

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Katharina hat ein Verhältnis mit Rosa begonnen. Kein Roman ohne Lesben oder Homosexuelle nehr. Also auch bei Erpenbeck. Ein Zugeständnis an den Zeitgeist?
Das nur nebenbei.
Rosa tut Katharina gut und Hans hat nichts dagegen. (*empörtbin*).
Hans hängt und hängt und hängt an den alten Sachen. Er scheint unfähig, nach vorne zu gehen. Das merkt man nicht nur am Privaten, auch am Politischen. Obwohl er schon einigen politischen Durchblick hat. (Es ist alles vorbei).
Endlich sind die Verhältnisse auch für ihn nicht mehr "so" und er wird bestimmt seine Arbeit beim Radio verlieren.
Erstaunlich, dass Katharina nicht mit fliegenden Fahnen in die Neue Zeit aufbricht.
Hans ist ein schrecklicher Klotz an ihrem Bein.
Aber man ist halt auch an das Schreckliche gewöhnt.
 

Literaturhexle

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Tja, dieser Abschnitt hat sich für mich gezogen. Hier verquickt sich das Persönliche der bröckelnden Beziehung mit dem Politischen, der bröckelnden DDR. Hans macht beides irgendwie zu schaffen. Ständig bemüht er seine Dichter, Schriftsteller und Liedermacher, die mir (weil zu jung, aus dem Westen und nicht gebildet genug bin) nichts sagen. Mit Sicherheit sind die Bezüge für Kenner offensichtlich. Vielleicht kennt @Naibenak den einen oder anderen - lauter alte weiße Männer;)

Katharina hat mehr Distanz entwickelt. Ich wundere mich zwar, warum sie an Hans überhaupt noch festhält. Diese abstrusen Vorwürfe, dieses dauerhafte Hervorholen ihres Betruges muss doch zermürben. Wenn man nicht verzeihen/vergessen kann, muss man sich trennen.
Katharina sieht ziemlich klar:
Aber hat sie nicht versprochen, von jetzt an immer ehrlich zu sein? Aber ehrlich sein ohne die Freiheit zum Neinsagen ist unmöglich. 282
Auch der Gattin gegenüber entwickelt K. Skrupel.
Bei der lesbischen Beziehung zu Rosa musste ich auch die Augen rollen. Wir fangen an wie die Amerikaner: in jedes Buch gehört der/die Quotenquere. Glaubwürdig finde ich diese Entwicklung nicht. Putzig ist auch die Toleranz von Hans in dieser Sache: Vadim einmalig ist ein Drama, Rosa regelmäßig kein Problem :rolleyes: .

Hans hält an allem Alten fest. Er lässt sich überrollen von den Ereignissen, würde zu gerne alles beim Alten lassen. Es wird anschaulich herausgearbeitet, wie die gemischten Gefühle unterschiedlicher Interessengruppen aussehen. 100 DM als Anfüttern - so habe ich das nie gesehen. Viele scheinen sich einen Mittelweg zu wünschen zwischen BRD und DDR.
Katharina macht eine DDR- Abschiedsausstellung, fühlt große Unsicherheit in Bezug auf das neue Jahr 1990.
Es dauert nicht mehr lang, sagt Hans, dann bin ich so alt wie Brecht, als er starb 339
Ist das eine dunkle Vorschau auf Hans frühen Rauchertod? Schließlich ist er ständig am Husten...
 

Wandablue

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Bei der Zitierung der Dichter und Denker kann man doch noch was lernen. Hört man mal Namen, liest ein Zitat. Ich finde das bereichernd, nicht langweilig. Und vergesssen wir nicht, Hans ist ein Intellektueller, durch und durch.

Was Rosa angeht, doch, ich finde es schon glaubwürdig. Wir befinden uns immer und ewig "im Theater". Aber trotzdem. Man / also Jenny hätte auch eine zweite Affäre einbauen können. Oder ganz was anderes. Es stimmt schon, ohne gleichgeschlechtliche Liebe kommt kein Roman mehr aus.
 
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Barbara62

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Bei der Zitierung der Dichter und Denker kann man doch noch was lernen. Hört man mal Namen, liest ein Zitat. Ich finde das bereichernd, nicht langweilig. Und vergesssen wir nicht, Hans ist ein Intellektueller, durch und durch.
Ich habe mir heute den neuen Schweizer Literaturclub angeschaut - mit Rainer Moritz. Er sagte über "Die Anomalie" von Hervé Le Tellier, er habe höchstens die Hälfte der Andeutungen verstanden, aber das würde nichts machen, er fände es trotzdem hervorragend. Das tut aus seinem Mund gut! Ich verstehe bei "Kairos" auch nicht jede Andeutung, ich bin mir sicher, es steckt noch mehr in dem Text, aber man muss sich deshalb nicht schämen.
 

Barbara62

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So langsam wird es doch politisch. K. stimmt bei der Wahl mit "Nein" und verlässt eine Vorlesung, in der von einer Konterrevolution die Rede ist. Ihre Freunde sind noch engagierter als sie, als sie in die Gethsemanekirche gehen, hört K. eine der abstrusen Kassetten von Hans :rolleyes:. Trotzdem geht sie erst drei Wochen nach dem Fall der Mauer nach Westberlin.

Eine absolute Unverschämtheit von Hans: K. ist "wertgemindert", sie soll die "Hände weg von der Kunst" lassen.

Dass ihm K.s Beziehung zu Rosa nichts ausmacht, ist ebenso abstrus. Er geilt sich geradezu daran auf - fasst hatte ich erwartet, dass er auch noch zuschauen will. Der Typ lässt nichts aus, um mir noch unsympathischer zu werden.

Jenny Erpenbeck konstruiert den Niedergang der Beziehung parallel zum Niedergang der DDR. Hans verhält sich wie Honecker: Er versucht, mit Restriktionen etwas aufrecht zu erhalten, was zum Scheitern verurteilt ist, seht ihr das auch so? K. schnappt den Begriff "Mitbestimmung" in einem Manifest aus und übernimmt ihn für ihre Wünsche an Hans.

Die Mutter macht sich endlich Sorgen um K., jetzt erst???

Ich freue mich immer, wenn etwas aus anderen Büchern, die ich gerade gelesen habe, sich wiederholt: Robert war in Kamtschatka ("Das Verschwinden der Erde") und die Ostseeurlaube finden in Ahrenshop statt ("Der Brand"). ;)
 

Barbara62

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Was Rosa angeht, doch, ich finde es schon glaubwürdig. Wir befinden uns immer und ewig "im Theater". Aber trotzdem. Man / also Jenny hätte auch eine zweite Affäre einbauen können. Oder ganz was anderes. Es stimmt schon, ohne gleichgeschlechtliche Liebe kommt kein Roman mehr aus.
Eine Männer-Beziehung wäre nicht gegangen, dann hätte Hans in der altbekannten Form darauf reagiert. An sich gebe ich euch recht, die Quotenlesben und -schwulen nerven mich auch, aber hier weiß ich keine andere Möglichkeit. Vor allem auch deshalb, weil man so sieht, wie unterschiedlich Hans darauf reagiert.
 

Literaturhexle

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Jenny Erpenbeck konstruiert den Niedergang der Beziehung parallel zum Niedergang der DDR.
Das habe ich auch so interpretiert. Die Gegensätze treten immer deutlicher hervor.

Ich verstehe bei "Kairos" auch nicht jede Andeutung, ich bin mir sicher, es steckt noch mehr in dem Text, aber man muss sich deshalb nicht schämen.
Auf keinen Fall! Genossen habe ich das Buch trotzdem. In der nachträglichen Reflexion nochmal mehr.
 
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RuLeka

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30. Januar 2018
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Bei der Zitierung der Dichter und Denker kann man doch noch was lernen. Hört man mal Namen, liest ein Zitat. Ich finde das bereichernd, nicht langweilig.
Das hat mir gefallen, angefangen mit meinem Lieblingsgedicht von Hölderlin und da die Überlegungen, ob sein Wahnsinn mit seinen enttäuschten Hoffnungen zusammenhängt.
Oder zu lesen, dass Christoph Hein schon früher die Abschaffung der Zensur gefordert hat.
Bei der lesbischen Beziehung zu Rosa musste ich auch die Augen rollen. Wir fangen an wie die Amerikaner: in jedes Buch gehört der/die Quotenquere. Glaubwürdig finde ich diese Entwicklung nicht. Putzig ist auch die Toleranz von Hans in dieser Sache: Vadim einmalig ist ein Drama, Rosa regelmäßig kein Problem :rolleyes: .
Diese Geschichte kam auch ziemlich plötzlich und nicht schlüssig. Hans geilt sich eher auf an der Vorstellung von zwei Frauen im Bett und eine Frau erscheint ihm nicht als ernsthafte Konkurrenz. Dazu ist er als Mann zu sehr von sich überzeugt.
So langsam wird es doch politisch
Endlich!
Jenny Erpenbeck konstruiert den Niedergang der Beziehung parallel zum Niedergang der DDR. Hans verhält sich wie Honecker: Er versucht, mit Restriktionen etwas aufrecht zu erhalten, was zum Scheitern verurteilt ist, seht ihr das auch so?
Interessante Beobachtung! Wenn ich Hans und DDR- Staat gleichsetze, ergeben sich einige Parallelen: Lückenlose Kontrolle , der Bürger muss alles offenlegen und sich unbedingt zu ihm bekennen, kein Liebäugeln mit anderen Systemen , Gehirnwäsche usw.
 

Wandablue

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Jenny Erpenbeck konstruiert den Niedergang der Beziehung parallel zum Niedergang der DDR.
Genialer Gedanke. Wäre ich nie drauf gekommen, hat was. Ich hab lediglich - zum Scheitern verurteilte Liebe - mit - zum Scheitern verurteilter Staat - gleichgesetzt. Es steckt mehr in dem Roman als man auf den ersten Blick glaubt.
 

Literaturhexle

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Genialer Gedanke. Wäre ich nie drauf gekommen, hat was. Ich hab lediglich - zum Scheitern verurteilte Liebe - mit - zum Scheitern verurteilter Staat - gleichgesetzt. Es steckt mehr in dem Roman als man auf den ersten Blick glaubt.
Es steckt viel mehr drin! Ich habe mir gerade die Premierenlesung angeschaut und schreibe im nächsten Abschnitt mal ein paar Sätze und Ansätze dazu;)
 
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Renie

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Hier verquickt sich das Persönliche der bröckelnden Beziehung mit dem Politischen, der bröckelnden DDR.
Das macht den Roman für mich wieder interessanter, zumal wir hier erleben, wie die Normalos der DDR-Gesellschaft, diese Zeit erlebt haben. Man ist als Wessi ja immer davon ausgegangen, dass es das höchste Glück auf Erden für einen Ossi ist, wenn er sich komplett von seinem alten Leben verabschieden und wie ein Wessi leben kann. Hier erfahren wir, dass Änderungen gewünscht waren, den Menschen jedoch Probleme bereitete, dass sie keinen Einfluss darauf hatten, welche Auswirkungen diese Veränderungen auf ihren persönlichen Alltag hatten. Das ist verständlich. Denn wer wird schon gern überrollt.
Katharina hat mehr Distanz entwickelt.
Tatsächlich ist mir aber nicht klar, woher sie die Energie nimmt, aus der tiefen Grube, in die sie von Hans geschubst wurde, wieder herauszukrabbeln. Mir ist das zuviel Hin und Her. Mal verachtet er sie, mal missbraucht er sie, dann ist er wieder verständnisvoll und verliebt. Und Kathi zieht auch sämtliche Register von selbstmordgefährdet bis hin zu selbstbewusst. Hier hat Frau Erpenbeck eine Erzählschleife zu viel gedreht.
Bei der Zitierung der Dichter und Denker kann man doch noch was lernen. Hört man mal Namen, liest ein Zitat. Ich finde das bereichernd, nicht langweilig. Und vergesssen wir nicht, Hans ist ein Intellektueller, durch und durch.
Für mich ist das aber auch ein Beweis, dass er die Welt der Dichter und Denker der echten Welt vorzieht. Für mich ist er ein Ewig-Gestriger, der mit der Realität nichts anfangen kann. Was nützt ihm der Intellekt, wenn er in der echten Welt nicht bestehen kann.
 
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Wandablue

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Für mich ist das aber auch ein Beweis, dass er die Welt der Dichter und Denker der echten Welt vorzieht. Für mich ist er ein Ewig-Gestriger, der mit der Realität nichts anfangen kann. Was nützt ihm der Intellekt, wenn er in der echten Welt nicht bestehen kann.
Immer interessant, mit dir zu diskutieren!
Ja, das stimmt. Absolut.
Aber die DDR war für eine bestimmte Klientel auch ein Schutzraum.
Arbeit garantiert. Wohnung garantiert. Lebensunterhalt garantiert. Ja, man hat auf ein Auto lange warten müssen, Wohnung auch. Und man hatte wenig Luxus. Aber man war keinen existentiellen Sorgen ausgeliefert. Höchstens gefrustet. Das allerdings maximal.
 

Naibenak

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Oder zu lesen, dass Christoph Hein schon früher die Abschaffung der Zensur gefordert hat.
Ja, genau! Das hat mir auch gefallen. Und überaupt die vielen Namen, die ich zwar zum Teil gehört habe, aber nie so richtig einordnen konnte. Ich war zur besagten Zeit einfach viel zu jung und hatte noch gar kein richtiges Verhältnis zur politischen Situation im Land. Im Nachhinein bekommt man natürlich einiges mit, mit den Dichtern und Denkern der DDR habe ich mich aber nie so richtig ausführlich befasst... nur am Rande hin un wieder etwas aufgeschnappt ;-)
 

Naibenak

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Interessante Beobachtung! Wenn ich Hans und DDR- Staat gleichsetze, ergeben sich einige Parallelen: Lückenlose Kontrolle , der Bürger muss alles offenlegen und sich unbedingt zu ihm bekennen, kein Liebäugeln mit anderen Systemen , Gehirnwäsche usw.
Könnte man immer weiter fortführen, diese Liste. Das ist wirklich gut zu beobachten, wie sehr dies parallel nebenher läuft. Ich denke wirklich, das ist genau Jennys Absicht. Hans verkörpert den Kontrollstaat, Katharina das brave Völkchen, welches, wenn es nicht so will wie der Staat, zurechtgebogen wird und weiter mitläuft. Bis es irgendwann dann doch einmal aufwacht... Das ist absolut großartig gemacht von Jenny!