5. Leseabschnitt: Kapitel XXIV bis XXVI (Seite 307 bis 381)

Die Häsin

Bekanntes Mitglied
11. Dezember 2019
4.620
16.624
49
Rhönrand bei Fulda
Meine Aufmerksamkeit hat etwas nachgelassen .... Adrian Leverkühn ist zuerst nach München gezogen, wo er mit neuen Leuten bekannt wird; dann verbringt er eine längere Zeit in Italien, wo wiederum die ganze Wirtsfamilie in den Roman einziehen muss, mit einer Fülle von Einzelheiten, die zwar reizend zu lesen sind, aber ich weiß nie so recht, was ich mir merken muss und was eher nicht. Vermutlich wird jener Gutshof in den Räumen einer alten Abtei, wo Leverkühn während einer Radtour pausiert, noch eine Rolle spielen.
Die musiktheoretischen Überlegungen im vorhergehenden LA haben mich zwar teilweise überfordert, aber ich folge ihnen ganz gerne. Während ich jetzt, wo des langen und breiten von Leverkühns Arbeit an seiner Oper die Rede ist, mit nachlassender Aufmerksamkeit lese. Kennt überhaupt jemand hier dieses englischsprachige Stück, auf dem die Oper basiert? Nach dem, was der Erzähler daraus zitiert, kommt es mir ziemlich buffonesk vor.
 
  • Like
Reaktionen: Emswashed

tinderness

Aktives Mitglied
25. November 2021
161
394
34
Wien und Wil
mostindien.org
Meine Aufmerksamkeit hat etwas nachgelassen ....
Merkwürdig, mir geht es gerade umgekehrt. Ich habe schon längst den Höhepunkt des Romans erwartet und giere mit Spannung danach.

Erste Anzeichen dafür gibt es, wenn etwa von einem früheren Gast erzählt wird, der sich auf dem Anwesen in Palestrina mit einer Pistole auf Geisterjagd begeben hat, wenn auch von der geistig zurückgebliebenen Tochter erzählt wird, die von Geistererscheinungen besessen ist (Kapitel 24). Die an die Schilderung der Familienszene anschliessende Begegnung mit dem Teufel, die der Erzähler aus dem Nachlass AL rekonstruiert, ist also bestens vorbereitet.

Begegnung mit dem Teufel: Da ist sie nun jetzt, die Szene, in der es zu einem Gespräch zwischen AL und dem Teufel kommt (Kapitel 25). Die Kälte des Bösen weht uns an, AL kämpft mit der Realität der Begegnung. Er bezweifelt die Präsenz des Teufels, glaubt, zu halluzinieren, mit seiner Phantasie beschäftigt zu sein. Der Böse repliziert und führt sein frierendes und zweifelndes Opfer vor. Ich denke, so muss es sein, wenn sich der Abgrund in einem Selbst auftut, wenn man mit dem Bösen spricht, einen Pakt mit ihm, also mit sich selbst eingeht. Das ist die einzig nicht märchenhafte Möglichkeit, dem Bösen zu begegnen: sie in seine Selbstwahrnehmung zu verlegen. Das hat der Erzähler mit Bravour gemeistert, eine wunderbare Stelle im Roman! Ich folge der Begegnung also mit zunehmender Spannung.
 

Die Häsin

Bekanntes Mitglied
11. Dezember 2019
4.620
16.624
49
Rhönrand bei Fulda
Ja, da haben wir ihn, den Besuch des Leibhaftigen, und nun hat es mich auch wieder voll erwischt, ich lese mit wachsender Begeisterung. Ich bin noch nicht durch mit der Begegnung, wollte hier nur festhalten, wie mich die Rolle der "Infektion", das Geschehen rund um die beiden Ärzte, in der nachträglichen Deutung fasziniert.
(Zur Erklärung: ich schrieb den Eingangspost nach der Lektüre des Kapitels 25 - also unmittelbar davor. Hätte ich die Fortsetzung gekannt, hätte ich mich anders geäußert.)
 

Die Häsin

Bekanntes Mitglied
11. Dezember 2019
4.620
16.624
49
Rhönrand bei Fulda
Der Teufel wechselt anscheinend sein Erscheinungsbild. Die zweite Beschreibung (scharfe Nase, schmaler Mund, weiches Kinn mit Grübchen) hat mich an Bildnisse von Franz Werfel erinnert ... Während die erste (geckenhafte Erscheinung, schief sitzende Mütze, rote Haare) wohl eher an überkommene Schilderungen anknüpft, wie etwa in Gotthelfs "Schwarze Spinne", wo der Teufel ein Jägerhütchen und spitzes Bärtchen trägt.
Sehr amüsant, sehr phantastisch - wie übrigens auch der wiederholte Bezug auf Andersens Seejungfrau, eines meiner Lieblingsmärchen.
 

tinderness

Aktives Mitglied
25. November 2021
161
394
34
Wien und Wil
mostindien.org
Bevor ich mich nun in den nächsten Leseabschnitt wage (und dabei den Bezug von AL neuen Domizil in der Abgeschiedenheit des Dorfes namens Pfeiffering in Kapitel 26 zur Kenntnis nehme), noch diese, wahrscheinlich vorläufigen Zeilen zum "Dialog":

Vielschichtig ist er tatsächlich, der Dialog mit dem Teufel, man könnte auch sagen, der Monolog mit dem Bösen. Immer schon hatte die Beschäftigung mit ihm etwas Faszinierendes für mich, das weit über die immer wieder auf unsere Erziehung hereinprasselnde "Gnade Gottes" und die Aufforderung zur "Demut im Guten" hinausging. Viele Ansatzpunkte gäbe es in diesem Dialog, die sich weiter zu besprechen lohnten. Vielschichtig ist das Wechselspiel von Gut und Böse und gar nicht so manichäisch, wie es viele vermuten. Wir kennen das Verderben, das vom unreflektierten Guten für uns alle ausgeht.

Ein ausführliches Schreiben darüber, wie Thomas Mann das Gut/Böse Verhältnis anlegt und den "Teufel in uns selbst", gibt wohl die Eingeschränktheit dieses Forums und das wohl allseits herrschende, mangelnde Interesse an philosophischen Fragen nicht her. Ich werde die Reflexion darüber wohl an anderer Stelle fortsetzen. Eines steht aber fest für mich: Das "Wann passiert endlich etwas?" ist jedenfalls im Verständnis dieses Dialogs zu ersetzen mit dem "Wir sind immer schon mittendrin, können es aber oft nicht entziffern"! @Die Häsin hat es weiter oben schon gesagt: Die nachträgliche Deutung früherer Passagen des Romans wird nach Lekture des "Dialogs" auf einmal möglich!

Doch ich nähere ich im sprachlichen Duktus schon der Folie dieses Romans an - und das zeugt wohl am deutlichsten von der Ansteckungsgefahr, die von ihm ausgeht.
 

Die Häsin

Bekanntes Mitglied
11. Dezember 2019
4.620
16.624
49
Rhönrand bei Fulda
Ich bin immer noch in diesem Dialog gefangen, habe ihn gestern abend zum zweiten Mal gelesen.

Einige Dinge, die mir aufgefallen sind, mal so stichwortartig:

Das Zustandekommen des Teufelspakts: Wenn ich es richtig verstanden habe, liegt der Zeitpunkt dieses "Pakts" schon in der Vergangenheit, und zwar mit der bewussten Inkaufnahme der Infektion - manchmal scheint es ja so, als habe Leverkühn es geradezu darauf angelegt. Die Geschlechtskrankheit als Metapher für einen Pakt mit dem Teufel erscheint als recht schräger Gedanke (ich frage mich, wie das wohl bei Lesern ankam, die sich unwillentlich infiziert hatten - aber dieser Gedanke der Gekränktheit durch persönliches Betroffensein war vielleicht zu Manns Zeiten noch nicht so allgegenwärtig wie heute ...?). Ist in sich jedenfalls stimmig: Die Infektion geschieht im Moment der Lust, wandert aber im Spätstadium ("Quartärstadium") ins Gehirn und führt letztlich zur Demenz. Angeblich sind aber kurz vorher besonders herausragende kognitive Leistungen möglich (!).
(Übrigens - der Teufel hat die beiden Ärzte, die Leverkühn aufgesucht hat, vorsorglich beseitigt – das erinnerte mich spontan an den Film „Angel Heart“, einen meiner Lieblingsfilme, in dem jede Person, die der Detektiv bei seinen Nachforschungen aufsucht, kurz darauf zu Tode kommt. Übrigens auch infolge eines Teufelspakts.)


Inspiration: Der „Ludewig“ erklärt, dass er nichts Neues schaffen könne: „Wo nichts ist, hat der Teufel sein Recht verloren.“ – „Wir schaffen nichts Neues (….) wir entbinden nur und setzen frei.“ Er bietet an, für eine Inspiration zu sorgen, die nicht (Shakespeare sagt es am schönsten) von des Gedankens Blässe angekränkelt ist, sondern „wahrhaft beglückend, entrückend“ ist, „bei der alles als seliges Diktat empfangen wird“, quasi ein Geniestreich aus dem Unbewussten. Das sei nicht möglich mit Gott, „der dem Verstande zu viel zu tun übrig lässt“, sondern nur mit dem Teufel, „dem wahren Herrn des Enthusiasmus“.
Im Volksmund sagt man über den kreativen Prozess "ein Prozent Inspiration, 99 Prozent Transpiration". Es scheint hier, als ob der Teufel dafür sorgen will, dass jedes schöpferische Werk "druckreif" aus dem Unbewussten kommt, ohne kontrollierende Instanz? Die kontrollierende Instanz zu überwinden, ist heute im allgemeinen Sprachgebrauch das erste Ziel des Kreativ-sein-Wollens - ich kenne das aus praktisch jedem Kreativ-Workshop, egal für welche Art von Kreativität. Automatisches Schreiben, Clustern, Zeichnen mit der linken Hand (für Rechtshänder) usw.


Thema Vergebung / göttliche Gnade: Gottes Gnade ist umso größer, je mehr ein Mensch gesündigt hat. D.h. gerade der größte Sünder lässt Gottes Gnade am meisten strahlen. Der am meisten und schwersten sündigt, gibt der göttlichen Gnade das breiteste Wirkungsfeld! Andererseits ist gerade dieser Gedanke - den der Ludewig "Spekulieren" nennt - die schwerste Sünde überhaupt, und damit die größte Herausforderung an die göttliche Vergebung. Die "Spekulierer", stellt Ludewig fest, sind die größten Sünder - sie stellen die "Population der Hölle". Das heißt, dass Leverkühn ohnehin der Hölle verfallen ist, schon aufgrund seines Gedankengangs.

Und schließlich die Negation der objektiven Wirklichkeit: "Ist wirklich nicht, was wirkt, und Wahrheit nicht Erlebnis und Gefühl? Was dich erhöht, was dein Gefühl von Kraft und Macht und Herrschaft vermehrt, zum Teufel, das ist Wahrheit - , und wäre es unterm tugendlichen Winkel gesehen zehnmal eine Lüge". Bezieht sich das nun nur auf die Spannung zwischen Wirklichkeit und Wahrnehmung - oder auch auf die Moral? Offenbar letzteres, da ausdrücklich von Macht und Herrschaft die Rede ist. Nietzsches Übermensch, der über der Moral steht? Letzteres führt, wie wir aus bitterer Erfahrung wissen, direkt ins Herrenmenschentum. Da darf man gespannt sein, was aus Leverkühn noch wird.
 
Zuletzt bearbeitet:

Emswashed

Bekanntes Mitglied
9. Mai 2020
2.733
9.771
49
Meine Aufmerksamkeit hat etwas nachgelassen ....
Ja, da haben wir ihn, den Besuch des Leibhaftigen, und nun hat es mich auch wieder voll erwischt,

Na, jetzt hättest Du mich beinahe gehabt!:eek:

Natürlich ist es der Anschnitt, der auch mich gerissen hat! Endlich! Fast war ich versucht, Passagen daraus meinem derzeitigen Mitbewohner vorzulesen.... aber er hat nur abgewinkt, er kennt TM vom Tod in Venedig...

Absolut genial, die Begenung mit dem Teufel, die wandlerische Gestalt, dich sich zum Schluss und steigenden Temperaturen als Schildknapp erweist... gruselig.

Mir ist noch das Deutschtum des Höllenfürsten aufgefallen. Könnte es eine Anspielung auf Hitler in der Gegenwart, versteckt in der Geschichte aus der Vergangenheit sein? Zumindest wollte es mir so scheinen. Warum sonst hat TM sich die Mühe der Beschreibung des Kriegsgeschehens in seiner Gegenwart gemacht, doch wohl nicht um irgendwelche Vorgriffe zu entschuldigen, oder?

Wenn ich es richtig verstanden habe, liegt der Zeitpunkt dieses "Pakts" schon in der Vergangenheit, und zwar mit der bewussten Inkaufnahme der Infektion - manchmal scheint es ja so, als habe Leverkühn es geradezu darauf angelegt.

Ich denke, der Pakt war schon besiegelt, als er das Mädchen gesucht hat und ihm hinterhergereist ist. Der Akt war die Unterschrift, die Krankheit die Kopie der Bestätigung - aber das ist jetzt Wortklauberei meinerseits.;) (und nicht wirklich relevant)
Doch ich nähere ich im sprachlichen Duktus schon der Folie dieses Romans an - und das zeugt wohl am deutlichsten von der Ansteckungsgefahr, die von ihm ausgeht.

Das passiert mir mit anderen Büchern, aber TM ist dann doch zu weit von meinem Geisteshorizont entfernt, als dass ich so sprechen und denken könnte.
 
  • Stimme zu
Reaktionen: Die Häsin

Emswashed

Bekanntes Mitglied
9. Mai 2020
2.733
9.771
49
Ach, da war noch was. Ich bin über diesen Satz von Ethos und Pathos (Leverkühns endgültige Abkehr vom Liebesleben) gestolpert und habe mir daraufhin ein interessantes "Filmchen" über Diskussionrethorik angeschaut. Ethos,Pathos und Logos... else what learned, wie wir Franzosen so gern sagen.;) TM bildet!