5. Leseabschnitt: Kapitel 9 und 10 (Seite 459 bis 589)

Mikka Liest

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14. Februar 2015
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Hilter am Teutoburger Wald
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Also diese Szene finde ich wenig überzeugend, weil Miriam zunächst völlig abweisend reagiert und Roland sogar rauswerfen will. Sie hat keine Schuldgefühle, ich nehme sie ihr nicht ab. Sie knickt erst ein, als Roland die "Beweise" erwähnt. An der Stelle handelt sie (wie früher schon) kalkuliert. Sie kennt Rolands Gutmütigkeit und weiß, welche Tasten sie spielen muss.
Ja, so sehe ich das auch. Ich denke, sie hat geblufft mit ihrem "wenn es vor Gericht geht, gestehe ich alles und erzähle gar nix", weil sie es richtig eingeschätzt hat, dass es Roland mehr um das Verstehen der Umstände als um Rache ging. Sie will ihn loswerden und mit ihrem Leben weitermachen.
In der Regel verhandelt ein guter Roman mehrere Themen auf verschiedenen Ebenen, nicht jedes gleich vorrangig. Und hier zeigt sich ein guter Autor, wenn es ihm gelingt, das alles organisch zu verbinden.
Da stimme ich dir zu! Und viele durchaus gute Romane werden auch weniger von konkreten Themen angetrieben als davon, dass man als Leser:in die Welt für eine Weile aus anderen Augen sieht.
 
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luisa_loves-literature

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9. Januar 2022
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Leider ergeht es mir nich so. Ich tue mich schwer mit dem neuesten McEwan.
Ich mich auch. Ich finde es zäh.
Mir fehlt im Roman eine Fokussierung. Es wird ausschweifend erzählt über dies und das, aber was ist Mc Ewans eigentliches Anliegen? Was soll der Roman uns letztlich sagen?
Ja, alles rein, was das Leben so schwer machen könnte und dann noch ein bisschen Weltgeschehen...aber sein Anliegen ist ja das "was-wäre-wenn", das macht er ja mit seiner Ballade vom verlorenen Bruder nochmals deutlich.
Leider fühle ich mich auch nicht sonderlich gut unterhalten. Alles ist sehr ausschweifend erzählt, meine Gedanken schweifen permanent ab.
Ich zähle ständig, wie viele Seiten bis zum nächsten Absatz - definitiv kein gutes Zeichen.

So, ihr Lieben - ich scheue nicht die Konfrontation :rofl Dieser Absatz hat mir im guten wie im schlechten Sinne den Rest gegeben.

ENDLICH: Konfrontation - High Noon - Showdown! Atemlos bin ich durch die Passage geglitten, in Erwartung einer Krise oder Auflösung. Und was macht Roland??? NICHTS! Wie immer! Ich finde ja noch nicht einmal, dass er Miriam adäquat Paroli bietet. Denn er ist ja ein moderner Hamlet, daher antizipiere ich schon mal, dass der Roman mit "Schweigen" endet...Was ich allerdings sehr amüsant fand, war, dass er sich bei Miriam als "Mr. MONK" anmeldet. Das hat Humor. Dennoch: dieses Kapitel hat zumindest für mich einmal die Spannung hochgehalten und kommt auf meiner persönlichen Lieblingsliste ganz nach oben - noch vor den Mauerfall.

So stark und interessant dieses Kapitel war, so furchtbar konstruiert fand ich das nachfolgende. Ich weiß gar nicht, wie weit meine Augenbrauen nach oben gewandert sind, aber, nun mal ehrlich: noch ein Bruder? Und dann so plötzlich aus dem Hut gezaubert? Fiel McEwan kein cooler Twist mehr ein, um noch die letzten 200 Seiten zu füllen? Ist das Leben mit 60 im Jahr 2010 so langweilig, dass weder die Weltgeschichte noch der Alltag etwas bieten können, was 70 Seiten füllt? Bei mir war da wirklich eine Grenze überschritten, an der ich mich frage, ob McEwan so etwas wirklich nötig hat bzw. stelle ich fest, dass er es sich natürlich erlauben kann, bei fast jedem anderen Autor würde man entnervt den Roman zuklappen und sich sagen: "Nun ist aber mal gut." Selbst, wenn ich den Bruder in die sehr plakative Ausarbeitung des alternativen Lebens stelle, wird es nicht besser. Das Kapitel, inklusive der Begegnung mit den Ostberliner Freunden, ist für mich nur unter sehr aktiver "willing suspension of disbelief" zu ertragen. Und dann noch Krebs von Daphne und natürlich Demenz von Rosalind und Jane hatte auch Probleme mit dem Erinnerungsvermögen. Es ist mir einfach und definitiv "too much" in zu vielen Seiten erzählt.
 

Literaturhexle

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noch ein Bruder? Und dann so plötzlich aus dem Hut gezaubert? Fiel McEwan kein cooler Twist mehr ein, um noch die letzten 200 Seiten zu füllen?
Bei der Einschätzung dieses Buches liegen wir mal auseinander;). Ich habe es gerne gelesen und die vielen von dir als "too much" kritisierten Twists zumeist genossen. Bei dem "neuen" Bruder habe ich auch geschluckt. Das ist aber wohl tatsächlich McEwans eigene Lebensgeschichte... Things happen.
 

parden

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Nach wie vor ist die Erzählung sehr langatmig, aber ich merke, dass ich mich mit dem Roman etwas aussöhne. Dadurch, dass liegengelassene Handlungsstränge hier wieder aufgenommen werden, wird das Bild runder. Wie jemand hier bereits schrieb: Kreise schließen sich. Da McEwan hier vieles aus seiner eigenen Biografie hat einfließen lassen, passt auch das mit dem Bruder wieder, der wie aus dem Hut gezaubert plötzlich auftaucht. Lässt sich z.B. bei Wikipedia nachlesen. Rolands Ding ist es einfach nicht, Entscheidungen zu treffen, ihm passiert das Leben einfach, und er hält es aus bzw. arrangiert sich damit. Prägende Erlebnisse lassen sich nicht rückgängig machen - und er erkennt nun immerhin, dass es sich nicht lohnt, in der Vergangenheit festzuhängen. Dafür brauchte es die Wiederbegegnung mit Miriam, nicht aber eine Anzeige gegen sie. Nun hat Roland endlich eine Entscheidung getroffen und Daphne gebeten, ihn zu heiraten - und jetzt das. Was erwartet und jetzt noch im letzten LA?
Roland beginnt, ein Tagebuch zu schreiben "Die Vergangenheit war nicht mehr zu retten, aber die Gegenwart konnte er vor dem Vergessen bewahren." (Seite 477) Kommt er mit seinem Leben doch noch zur Ruhe? Diese zwei Seiten, 478 - 480 mit seiner Idee, alle Stimmen und Meinungen gleichzeitig aufzuschreiben, scheinbar ein wirres Durcheinander, man weiß nicht, wer nun was gesagt hat, aber andererseits führt er ungemein klar die vielen unterschiedlichen Themen jeweils fort, sodass sich viele komplexe Aussgen ergeben, ich fand das großartig,
Diese zwei Seiten fand ich einfach nur schrecklich. Eine der Stellen, an denen ich das Buch am liebsten zur Seite gelegt hätte. Alles gefällt mir hier nun auch nicht, ich schwanke derzeit noch zwischen 3 und 4 Sternen. Mir fehlt ja noch ein LA.
 

alasca

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13. Juni 2022
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Das soll jedoch nicht ihr Handeln rechtfertigen, sie hätte es versuchen können und kein so gutes schriftstellerisches Werk rechtfertig in meinen Augen, dass man sein Kind willentlich verlässt.
Da ist es wieder, das harte Urteil Frauen gegenüber - von einer Frau. Ich finde es durchaus legitim, ein bleibendes künstlerisches Werk über die traditionellen Werte zu stellen. Kaum jemand könnte das - oder wäre von Schuldgefühlen zerfressen.

Super spannend, wie McEwan das konstruiert hat - er lässt gar keine mildernde Aspekte aufkommen, die Figur ist knallhart und konsequent in ihrer Entscheidung, und das polarisiert. Was die Absicht ist.
 

Literaturhexle

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ein bleibendes künstlerisches Werk über die traditionellen Werte zu stellen
Ich auch. Es sträubt sich in mir nur manches, wenn Menschen zuvor getroffene Lebensentscheidungen negieren, die Konsequenzen streng genommen anderen aufdrücken und frank und frei in ihr "neues" Leben durchstarten. Das drückt eine große Rücksichtslosigkeit aus, unter der hier der Sohn zu leiden hat, den sie einst willentlich bekommen hat.
Ich verurteile das bei Männlein und Weiblein - egal, welche Gründe sie ins Feld führen. Auch wenn man neu anfängt, sollte man sein altes Leben nicht ausradieren.

die Figur ist knallhart und konsequent in ihrer Entscheidung, und das polarisiert.
Genau. Auch weil es in der Literatur (und im Leben) unüblich ist.
 

pengulina

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22. November 2022
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Liest eigentlich irgendjemand das Original? Der Übersetzer spielt mit der Du- und Sie-Form
Ja, ich. Miriam nennt Roland erst beim Vornamen, er verbittet sich das und wird dann Mr. Baines genannt. Meintest du das?
Die Geschichte um seinen Bruder Robert schließt einige Lücken.
McEwan hatte tatsächlich einen Bruder, die Geschichte ist wohl so passiert, wie er sie im Buch beschreibt. Diesen Bruder lernt er allerdings erst später. Hier ein Artikel aus dem Guardian aus dem Jahr 2007 zum Thema:

McEwans Bruder hat ein Buch geschrieben, zu dem McEwan das Vorwort geschrieben hat: "Complete Surrender" by Dave Sharp
Leider konnten wir zu diesem Buch keine Daten ermitteln.

Ich bin übrigens auch begeistert vom Buch und konnte heute das machen, was @RuLeka damals beklagt hat - einfach weiterlesen.
 
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