5. Leseabschnitt: Anmerkungen und Nachwort

Literaturhexle

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Wir erfahren, dass die Widersprüchlichkeit zu Tolstois Werk gehört, dass sich auch schon Zeitgenossen an ihm gerieben haben. Er selbst war mit einer 16 Jahre jüngeren Frau verheiratet. Das beschriebene Eifersuchtsdrama scheint jedoch keine autobiografischen Bezüge zu haben.

Olga Martynova sieht Tolstoi als Autor, der für Gleichberechtigung der Frauen eintritt und seiner Zeit damit weit voraus ist.
Tatsächlich hielt er die vollkommene Enthaltsamkeit für ein gesellschaftliches (und nicht umsetzbares) Ideal. Insofern gibt der Erzähler damit tatsächlich die Meinung des Autors wieder.

Wie immer sind solche Nachworte und Anmerkungen höchst informativ. Tolstoi hat selbst ein Nachwort zur Novelle geschrieben, das in der Penguin Ausgabe jedoch nicht enthalten ist.
 

Die Häsin

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Rhönrand bei Fulda
Wie versprochen die Zusammenfassung:
Tolstoj wendet sich direkt an die Leserschaft, da er "noch immer zahlreiche Briefe" erhält "von Leuten, die ich nicht kenne" mit der Bitte, "in einfachen und klaren Worten auseinanderzusetzen, was ich über den Gegenstand, welcher den Inhalt meiner Erzählung 'Die Kreutzersonate' bildet, denke". Das tut er im folgenden:
Erstens sei es nicht richtig, dass der "geschlechtliche außereheliche Verkehr, welcher den Mann zu nichts anderem als einer Geldspende verpflichtet, eine vollkommen natürliche Sache sei, die deshalb auch Aufmunterung verdiene". Er führt das noch weiter aus. (Der Gedanke taucht übrigens auch in Tolstojs Roman "Die Auferstehung" auf, wo es darum geht, dass ein junger Mann ein armes Mädchen - wenn ich mich richtig erinnere, ein Dienstmädchen - ins Unglück bringt, was er später sehr bereut.)
Zweitens sei die eheliche Untreue "eine ganz gewöhnliche Erscheinung geworden", was zu verurteilen sei. "Die Auffassung der sinnlichen Liebe (muss) eine andere werden".
Drittens sei die Geburt der Kinder "anstatt Ziel und Rechtfertigung der ehelichen Beziehungen zu sein, ein Hindernis für die angenehme Fortsetzung des Liebesverkehrs geworden", was er verurteilt, ebenso die Unenthaltsamkeit während der Schwangerschaft und Stillzeit.
Viertens drehe sich die Erziehung der Kinder, statt sie "auf eine menschenwürdige Wirksamkeit vorzubereiten", zu sehr um das, was er "Verzärtelung" nennt: "Putz, Bücherlesen, Schauspiele, Musik, Tanz, Süßigkeiten" etc.
Fünftens sei in unserer Gesellschaft "die Liebelei" zu höchstem dichterischem Zweck menschlicher Bestrebungen erhoben", wodurch "die besten Kräfte des Menschen nicht nur in unfruchtbarer, sondern sogar in schädlicher Arbeit vergeudet" würden. Als höchstes Ziel gibt er statt dessen "die Arbeit im Dienste der Menschheit, des Vaterlandes, der Wissenschaft und Kunst und im Dienste Gottes an.

Bei diesem letzten Punkt musste ich übrigens an "1984" denken. Wer das Buch mitgelesen hat, erinnert sich vielleicht noch, wie Julia sagte, die Partei sieht Liebesbeziehungen nicht gern, weil das die Menschen zu sehr vom Dienst für die Partei ablenkt. Wenn ich mich richtig erinnere, durften Parteimitglieder nur mit Erlaubnis der Partei heiraten und diese wurde nicht erteilt, wenn der Verdacht bestand, dass sie aus Liebe heiraten wollten.

Für mich hat Tolstoj mit diesem Nachwort seine Erzählung vollkommen entwertet - bzw zu entwerten versucht, denn der großartige Gehalt der Erzählung an sich bleibt ja stehen. Aber ich könnte mir auch vorstellen, dass er diese Deutung im nachhinein entworfen hat, während der eigentliche künstlerische Prozess beim Schreiben der Novelle davon nur am Rande beeinflusst war.
 
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Literaturhexle

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Wandablue

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Als höchstes Ziel gibt er statt dessen "die Arbeit im Dienste der Menschheit, des Vaterlandes, der Wissenschaft und Kunst und im Dienste Gottes an.
Warum schreibt er das dann nicht so? Ich gebe ihm darin zum Teil Recht. Es ist allerdings ein Problem der Reichen. Gestern guckte mein Männe eine Doku "Warum spenden die Reichen?" o.ä. Ja, warum wohl? Nicht aus hehren Motiven. Um Einfluss zu nehmen und aus schlechtem Gewissen.

Müsigang ist aller Laster Anfang ist ein Sprichwort, das auch nicht von ungefähr kommt. Der Mensch braucht eine sinnvolle Aufgabe. Die Liebe ist dann "das Höchste", wenn sie sich auf das Wohl des Nächsten bezieht und nicht die Eigenliebe.
Gott hat durchaus nichts dagegen, wenn der Mensch Vergnügen empfindet. Es ist nur nicht als Lebenszweck tauglich.
Menschen, die mit den Händen arbeiten haben derartige Luxusprobleme nicht.
 

Sassenach123

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Wenn ich es nicht besser wüsste, könnte man fast denken, es gibt ein weiteres Werk, auf das sie das Nachwort bezieht. Beim lesen erschloss sich mir nämlich nicht unbedingt alles so, wie ich es dann beim Nachwort erlebt habe.
Ansonsten bringt es aber auch Licht ins Dunkel, es wird natürlich einiges auf den Punkt gebracht, was man sich, wenn überhaupt, mühsam zusammenreimen muss.
Meins war es nicht :-;
 
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