5. Leseabschnitt: 2016 - Seite 267 bis 367 (Ende)

Literaturhexle

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2. April 2017
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Diese Aussage hat mich zu Tränen gerührt :sad Genau so ist es auch bei meiner Mutter!
Es schlägt nicht irgendwer. Es schlagen die Eltern, diejenigen, die eigentlich die nächsten liebenden Bezugspersonen sein sollten...
Diese ungesunde "Ambivalenz" treibt ihre Tentakel in das ganze zukünftige Leben hinein.
Meine Mutter wurde zu Hause sehr klein gehalten, bei Fehlverhalten kam "die Kloppeitsche" zum Einsatz - für mich als Jugendliche unvorstellbar, dass man sich ein "Werkzeug" nimmt, um zu züchtigen. Damals sicher kein Einzelfall.
Trotzdem liebte sie ihre Eltern und stand ihnen bis zum Ende bei (es war natürlich auch längst nicht so schlimm wie bei Juli)

Ich war und bin meiner Mutter immer sehr dankbar gewesen, dass sie es mit uns anders gemacht hat. Sie hat uns gefördert und war meist liebevoll. Es hat bei ihr ganz bewusst eine Reflexion stattgefunden: meine Kinder sollen es besser haben. Bildung war ihr ganz wichtig, ohne Angst, dass wir sie überflügeln würden.

Dieses Buch zeigt eindringlich, dass das nicht die Regel ist, dass die Seele oftmals so geschunden wurde, dass sie nur noch schwer in ein normales Leben hinein findet.
 

Naibenak

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2. August 2021
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und ihre jetzige Therapeutin scheint auch fähiger zu sein als die Kollegin aus der Schweiz.
Oh ja, die Trulla in der Schweiz war ja wohl das Letzte! Man kann von Glück reden, dass Juli durch sie nicht die Nase voll hatte und trotzdem einen neuen Therapieversuch unternahm!
Trotzdem frage ich mich, ob es realistisch ist.
Wie schon mehrfach gesagt, sehe ich es auch als durchaus realistisc an. Juli kam ja zum Zeitpunkt des Kennenlernens überhaupt nicht klar in ihrem Leben. Sie brauchte jemanden zum Festhalten und Hochkommen… und Thilo machte auf sie mit seinem starken Auftreten genau diesen Eindruck, dass er so jemand ist. Dass er sie für sich zurechtbiegen will, hat er ihr ja auch nicht gleich auf die Nase gebunden. Klar gab es hin und wieder Warnzeichen, aber gut dosiert. Und da Juli so aufgewachsen ist, wird sie es automatisch so hingenommen haben. Dass sie nun eine Radikalveränderung vornimmt, kann ich auch nachvollziehen. Juli will ihr altes Leben komplett auslöschen. Das Gefühl habe ich. Sie will ganz neu starten mit neuem Namen, neuem Freund, neuen Job, neuem Styling, im neuen Land… Sie hofft, durch das zusätzliche Antrainieren von „Normalität“ letztendlich zu einem normalen Leben finden zu können.
Ihr Bruder scheint es geschafft zu haben.
Na da wäre ich vorsichtig. Er hat es geschafft, einen sehr wichtigen Schritt zu gehen und beginnt eigentlich gerade erst seine Vergangenheit zu verarbeiten. Ob er dran bleibt, ist gar nicht sicher. Aber zum jetzigen Zeitpunkt sieht es insgesamt gut aus, da stimme ich zu! Und es hilft nun ihnen beiden sehr, dass sie sich zu öffnen beginnen. Sie können sich gegenseitig stützen und trauen sich es Freunden zu erzählen, die u.U. auch großen Halt geben können. Anikó ist ja so eine gute Seele. Ob Bruno jemanden hat, wissen wir allerdings nicht…
Es mag ja Menschen geben, die einen öffentlichen Heiratsantrag zu schätzen wissen. Bei mir würde das einen Fluchtinstinkt auslösen :apenosee
Hahaha… es kommt darauf an :D aber unter diesen Umständen wie im Roman wäre ich auch im Boden versunken… und dann ausgerechnet vor der Familie. Da war ein „Ja“ ohnehin vorprogrammiert, weil doch niemand enttäuscht werden sollte. Seufz!
 

Naibenak

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Was ich sprachlich sehr interessant finde: in diesem letzten Abschnitt wird aus der Perspektive der dritten Person erzählt. Bis dahin war es immer die ich-Perspektive von Juli.

das ist super gemacht, nicht nur Juli distanziert sich von ihrem früheren Leben, auch die Leser*innen tun es auf diese Weise. Gleichzeitig kann die Autorin toll in den Perspektiven zwischen Juli und Thilo wechseln. Es ist nämlich extrem gut zu erfahren, wie Thilo eigentlich tickt und wie er über Juli denkt. Man sieht z.Bsp.perfekt, wie schnell man Dinge (vor)verurteilt, weil man Hintergründe nicht kennt. Weil man nicht fragt, weil der/die andere sich nicht öffnet. Auch dadurch sind Beziehungen oft zum Scheitern verurteilt. Finde ich super gemacht!
 

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29. März 2022
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Dieses Buch zeigt eindringlich, dass das nicht die Regel ist, dass die Seele oftmals so geschunden wurde, dass sie nur noch schwer in ein normales Leben hinein findet.
So wahre Worte! Und gerade die Kindheit kann so große Wunden hinterlassen, dass diese nie wieder verheilen. Man lernt vielleicht zu funktionieren, aber mitunter ist es nur das :sad
 

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29. März 2022
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Andeutungen, die den Vater als gewalttätig darstellen, prallen an Thilo ab und werden auf den kleinen Klaps reduziert, der noch nie geschadet habe. Dass Thilo Julis Kindheit regelrecht neidisch betrachtet, muss für Juli ein Schlag in die Magengrube gewesen sein.
Letztendlich ist klar, dass Frieden für Juli so nicht erreichbar ist.
Wo ich das jetzt noch mal so lese...
Unfassbar, wie gut manchen Menschen die eigene Verstellung gelingt. Juli müsste sich ja eigentlich sehr von Thilo verraten fühlen, der alles so leichtfertig schluckt. Auch hier also eine starke Abhängigkeit in der Beziehung.
Irgendwie will Juli Normalität soo sehr, quasi um jeden Preis, und je mehr, sie sich wünscht, desto wenigber bekommt sie.
Wieder malt die Autorin starke Bilder. Großartig finde ich auch dieses: „… vertraute Hölle. Diese Nächte, in denen sie allein auf dem Geisterschiff trieb, zerlöcherte Segel, schwarzes Meer, nie und nirgends ein Hafen.“
Wahnsinn, oder?! Ich glaube, ich habe noch nie ein dermaßen wortgewaltiges und ausdrucksstarkes Werk gelesen.
Für Juli wird es noch ein weiter Weg sein. Das Ende hat mir gut getan - es steckt so viel Hoffnung darin, dass sie es schaffen kann, einen Weg für sich zu finden. Eine Person außerhalb der Familie weiß nun bescheid - sie ist nicht mehr alleine, ein Hafen ist in Sicht und ihre jetzige Therapeutin scheint auch fähiger zu sein als die Kollegin aus der Schweiz
Ja schon. Aber es ist und bleibt eine sehr fragile Situation. Jede Kleinibgkeit kann Juli jederzeit umpusten und völlig aus dem Gleichgewicht bringen.
Naja, immerhin hat sie mit dieser Therapeutin Gölück gehabt. Es gibt ja leider auch sehr viele schwarze Schafe in der Branche. Ich habe vor vielen vielen Jahren mal eine Radionsendung von Missbrauchsopfern gehört, die berichteten, dass Therapien ihnen nichts gebracht hätten.
 

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Das geht uns wahrscheinlich allen so. Man spürt immer wieder Charakteristika ihres Vaters: Thilo hat Freude, sie vor anderen vorzuführen, sie zu demütigen. Seine Gedanken zeigen diese Perversität schnell: "Hatte er sie poliert, würde sie glänzen wie ein Schmuckstück, das er im ersten Moment in ihr gesehen hatte." Das perfekte Paar: Einer, der verändern will, und eine, die genau das möchte: sich verändern.
Das ist wohl die Sache mit der Resonanz, dass man immer wieder die gleichen Menschen anzieht...
Im Epilog wird deutlich, was wir das ganze Buch über gewusst haben: Juli hat das Gefühl, ihre Familie zu verraten, indem sie über die erlittene Gewalt spricht. Sie spürt Scham und schlechtes Gewissen. Es wird ein langer Weg werden bis zur Genesung. Ihr Bruder scheint es geschafft zu haben. Vielleicht wird er zum guten Vorbild. Zu wünschen wäre es!
Zum einen empfindet sie es als Verrat, denn in einer guten funktionierenden Familie halten alle zusammen, dennoch weiß sie auch, dass die allermeisten Menschen im Grunde gar nicht mit den Problemen anderer Menschen konfrontiert werden wollen und wenn, dann in der Regel überfordert sind und sich abwenden.
Ich habe mir einige Male das Bild der Autorin angeschaut und überlegt, ob sie selbst derlei Erfahrungen mit Gewalt machen musste. Das Ganze wirkt so echt, dass es mir schwer fällt, an reine Fiktion zu glauben. Aber selbstverständlich kann es reine Schreibkunst und intensive Recherchearbeit sein. Im Grunde auch egal. Gelungen ist es auf alle Fälle!
Allerdings sind die biografischen Stationen (Speckgürtel Stuttgart, Studium in Berlin, Beruf u.a. in Zürich) augenfällig
Das könnte durchaus gut sein. Wer sonst könnte so treffend die Situation darstellen und analysieren. Und Schreiben ist ja immer auch ein Verarbeitungsprozess...
Ich habe Pflegefälle (in unmittelbarer Nachbarschaft meiner Eltern) erlebt................ es war für beide die Hölle auf Erden! (Puh, wir hörten da ja jedes Wort! :p
Der professionelle Rat in solchen Situationen ist ja eigentlich, dass die Nähe beiden Beteiligten nicht gut tut. Es ist eben nicht die Regel, dass schwerwiegende dysfunktionale Beziehungen quasi auf der Zielgrade noch bereinigt werden können.
 

luisa_loves-literature

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9. Januar 2022
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Hier komme ich nun auch noch - die Nachzüglerin. Mich hat das Buch einfach nicht mehr mitgenommen nach dem ersten Teil. Außer dem Wechsel der Erzählperspektive im letzen Abschnitt, der mich kurz überraschte, aber in seiner Funktion sehr klar und nachvollziehbar ist, hat mich auch nichts mehr wirklich verwundert.

Thilos schließlicher Abstieg zur Gewalt wird im Grunde von Anfang an schon erkennbar, viele seiner Verhaltensarten gleichen denen von Julis Vater und wie dieser sich seine perfekte Ehefrau zurecht biegt. Da handelt Thilo doch sehr ähnlich. Auch die Minderwertigkeitskomplexe, die ebenfalls beim Vater zu erkennen sind, werden bei Thilo gespiegelt. Ich finde Thilo ist durchaus interessant als Figur, aber leider sehr vorhersehbar - ebenso wie der gesamte letzte Abschnitt, der Schluss mit dem Rückfall in die Gamerszene und der letztlich doch erfolgenden Therapie und dem Öffnen der Freundin gegenüber. Was mich vielleicht ein wenig überrascht hat, ist die Tatsache, dass Juli den Kontakt zur Mutter aufrecht erhält.

Dass Thilo am Ende zum Versager mutiert, würde ich in 9 anderen von 10 Büchern schwer verurteilen - zu plakativ, sterotyp...
Hier wird es so organisch eingebaut, dass es mich nicht stört. Es gehört irgendwie dazu, dass auch Thilos Seifenblase platzt, dass er aus seiner Scheinexistenz heraus komplementiert, von seinem hohen Ross geschossen wird. Da brechen seine Minderwertigkeitsgefühle unkontrolliert hervor und er schlägt zu...
Ich stimme dir grundsätzlich zu, aber es war mir dennoch zu vorhersehbar, machte es Juli zu einfach aus der toxischen Abhängigkeit zu entkommen.
Fasziniert hat mich auch die Balkonszene mit den Falbala Frauen. Ob es so eine affektierte, auf Äußerlichkeiten beruhende Welt wirklich gibt?
JA! Leider schon häufig beobachtet!
 
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