5. LA: "Erinnerte Memoiren" - Teil III., II. und IV. (Seite 301 bis 367)

Literaturhexle

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2. April 2017
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5. LA: "Erinnerte Memoiren" - Teil III., II. und IV. (Seite 301 bis 367)
 
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Gelöschtes Mitglied 2403

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Und weiter geht es mit den verdrehten Wahrheiten. Mildred Bevel wird weder von Harold Vanner, noch von Andrew Bevel richtig gezeichnet. Warum? Aus einer Angst heraus? Der Angst des Mannes vor einer mächtigen Frau? Oder der Angst des Mannes vor einer Frau, die seiner heroischen Taten nicht bedarf, die nicht zu ihm aufschaut, die autark ist, die schlau ist? Und deshalb von dem Einen zu einem Weibchen degradiert wird und von dem Anderen zu einer zum Tode verurteilten Verrückten erklärt wird! Aber erfasst denn eine Ida Partenza den Charakter von Mildred Bevel? Dazu kann vielleicht das letzte Buch etwas sagen. Mal sehen!

Mir gefällt dieses Buch bisher sehr gut und ich bin sehr froh dieses Buch zu lesen! Ich freue mich schon sehr auf eure Ansichten zu diesem Buch!
 

GAIA

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27. Dezember 2021
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Der Angst des Mannes vor einer mächtigen Frau? Oder der Angst des Mannes vor einer Frau, die seiner heroischen Taten nicht bedarf, die nicht zu ihm aufschaut, die autark ist, die schlau ist?
Eher zweiteres, denn "mächtig" im Sinne der Macht von damals war sie ja nicht. Aber sie war scheinbar sehr intelligent und das ist oft noch gefährlicher als reine Macht (z.B. des Standes wegen) zu haben. Intelligente Frauen waren und sind und werden auch immer am gefährlichsten für Männer sein.
Aber erfasst denn eine Ida Partenza den Charakter von Mildred Bevel?
Na zumindest hat sie eine bessere Chance als Venner und Bevel, einfach weil sie Mildred "direkt" zuhört, sprich sie schaut in ihre Aufzeichnungen, versucht sich ein Bild zu machen. Aber auch das ist wieder eine Wahrnehmung, die durch bestimmt eVorannahmen gefiltert werden wird. Wirklich etwas über Mildred erfahren, wie sich selbst Mildred wahrgenommen hat, werden wir überhaupt erst durch ihre eigenen Aufzeichnungen. (Und darauf bin ich ebenso massiv gespannt!)

Wie Diaz das alles zusammensetzt ist wirklich meisterhaft. Ich lese atemlos die Seiten und alles spitzt sich auf diesen letzten Text von Mildred zu.

Irgendwie bin ich mit den Geschehnissen um die Figur des Vaters herum noch nicht ganz klar mit mir. Welche Funktion hatte seine Figur für das gesamte Buch? Die Szenen mit IDa und über ihn sind wieder mal grandios beschrieben. Wie er aus Aberglaube das Geschenk von ihr nicht annehmen kann und letztlich, um den Aberglauben zu umgehen, doch wieder auf den von ihm so verhassten Kapitalismus zurückfällt, indem er ihr für einen Cent das Messer "abkauft". Das ist schon toll gemacht. Er hat die (falschen) Manuskriptseiten gestohlen. Aber welche Bedeutung bekommt das Ganze?

Was mir noch aufgefallen ist: Wie der historische Blick auf die weiblichen Protagonisten verloren geht. (Wie wir aus der Realität ja häufig wissen). Das fassen die Sätze von Ida zum Archiv gut zusammen. Sie ist die erste, die nach über 50 Jahren nach Mildreds Tod deren Nachlass überhaupt durchsieht. S. 303: "Ansonsten hat sich wohl niemand mit diesen Dokumenten befasst. Niemand hat sich die Mühe gemacht." Da fabulieren mehrere Menschen am Leben einer Frau herum, aber keiner macht sich mal die Mühe sie selbst zu "befragen". Es wird einfach herablassend über ihr Leben nachträglich entschieden und jeder baut sich sein gewünschtes Bild von der Frau zusammen. (Da muss ich gerade an Sissi denken, und wie die Filme mit Romy Schneider ein so falsches Bild von ihr geprägt haben. Hatte da vor kurzem einen interessanten Beitrag bei Kulturzeit zu dem neuen Film gesehen, der wohl näher an der "wahren" Sissi sein soll.)
S. 306: "Und eben weil sich das Bild von ihr, das sich aus diesem Sammelbuch ergibt, so drastisch von den Portraits unterscheidet, die jene beiden Männer zeichnen, habe ich das Gefühl, zum ersten Mal einen Blick auf die wahre Mildred Bevel zu erhaschen." Was ich gut finde: Ida sagt nicht, dass sie jetzt ein "richtiges/korrektes" Bild von ihr hat. Sie "erhascht" eins. Anders kann es nie gehen, wenn wir versuchen jemand anderen als und selbst zu erkennen und verstehen. (Selbst bei uns selbst ist das nicht immer einfach!)
Toll auch, wie auf S. 308 und 309 genau zweimal vorkommt, dass Mildred auf ihren "Platz verwiesen" wurde. Sowohl von Venner als auch von Andrew Bevel. Die Frau wird von Männern auf ihren Platz verwiesen und Ida hat sich einspannen lassen, dabei zu helfen.
Und zum Thema Wahrheit: Plötzlich wird die von Ida erfundene Geschichte über das Kriminacherzählen im Kopf von Andrew zu einer wahren, tatsächlich stattgefundenen Geschichte. Ein Beispiel, wie unser Gedächtnis uns trügen kann. Wie Andres so das Bild von Mildred verwaschen hat, dass er selbst schon nicht mehr weiß, was tatsächlich passiert ist. Und klasse: Wie beide Männer - Andrew und Idas Vater - ähnlich "das Kind bei der Stange halten" reagiert haben/sich einreden reagiert zu haben.

Noch ein Gedanke zu der Passage in der Ida mit Andrew am Tisch sitzt, aber nicht ganz bei der Sache ist, weil ihr die Erpessungsgeschichte durch den Kopf spukt:
Von Diaz finde ich hier überraschend unauffälig eingeflochten, wie IDa die Formulierungen von Andrew in ihre Gedanken aufnimmt. Er stellt laut Überlegungen an und sagt immer wieder "Streichen Sie das." Und sie stellt im Hintergrund ihre eigenen Überlegungen und denkt immer wieder "Streichen wir das."Meine Begeisterung ist mir anzumerken, oder? ;)

Ist euch auch aufgefallen, dass es auf S. 325 diesen einen Satz gibt, der nicht in der Ich-Perspektive von Ida geschrieben ist? 2. Abs. "Es war das erste Mal überhaupt, dass Jack sie offen um Hilfe bat und auch noch ihre Fähigkeiten anerkannte." Mal provokant gefragt: Ist das ein Übersetzungsfehler? Mir erschließt sich nicht, warum das gerade aus der personalen Perspektive beschrieben ist. Erhellt mich!

Und zuletzt noch die "Treue": S.332 Andrew erzählt Ida (eigentlich) von den Bekannten des Ehepaars, aber es steckt mal wieder - wie so häufig bei Diaz - viel mehr drin: "Je mehr ein anderer am eigenen Alltag teilhat, desto mehr fühlt er sich berechtigt, Geschichten über einen zu verbreiten. Das hat mich immer erstaunt. Man würde doch meinen, Nähe befördere Treue." Wenn man von seiner Wahrheitstreue bezogen auf Mildred auf die Nähe zu ihr schließen würde, wäre diese (und war sie wahrscheinlich auch) sehr, sehr gering.
 
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Gelöschtes Mitglied 2403

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Ist euch auch aufgefallen, dass es auf S. 325 diesen einen Satz gibt, der nicht in der Ich-Perspektive von Ida geschrieben ist? 2. Abs. "Es war das erste Mal überhaupt, dass Jack sie offen um Hilfe bat und auch noch ihre Fähigkeiten anerkannte." Mal provokant gefragt: Ist das ein Übersetzungsfehler? Mir erschließt sich nicht, warum das gerade aus der personalen Perspektive beschrieben ist. Erhellt mich!
Ja, dieser Satz sticht hervor. Aber mir ist die Bedeutung dahinter nicht vollkommen klar. Wenn diese Art der Perspektive verdeutlichen soll, dass Ida die Motive hinter Jacks Handeln begreift, passt dann das weitere Agieren von Ida dazu? In meinen Augen nicht vollkommen.
 
G

Gelöschtes Mitglied 2403

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Und zuletzt noch die "Treue": S.332 Andrew erzählt Ida (eigentlich) von den Bekannten des Ehepaars, aber es steckt mal wieder - wie so häufig bei Diaz - viel mehr drin: "Je mehr ein anderer am eigenen Alltag teilhat, desto mehr fühlt er sich berechtigt, Geschichten über einen zu verbreiten. Das hat mich immer erstaunt. Man würde doch meinen, Nähe befördere Treue." Wenn man von seiner Wahrheitstreue bezogen auf Mildred auf die Nähe zu ihr schließen würde, wäre diese (und war sie wahrscheinlich auch) sehr, sehr gering.
Und wenn man hier an Harold Vanner denkt?

Oder wenn man an Andrews/Benjamins anfängliche, etwas autistisch anmutende Beschreibung denkt? Was wird er wohl über Menschen und ihr Tun innerhalb der bisher erlebten Jahre gelernt haben. Bzw. was kann er überhaupt lernen, dieser rationale Mensch Andrew? Und wie viele Enttäuschungen durch die Umwelt könnten Andrew dann überrannt haben? Weil die böse Umwelt ihn nicht anbetet und verehrt?!?!
 
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Gelöschtes Mitglied 2403

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Toll auch, wie auf S. 308 und 309 genau zweimal vorkommt, dass Mildred auf ihren "Platz verwiesen" wurde. Sowohl von Venner als auch von Andrew Bevel. Die Frau wird von Männern auf ihren Platz verwiesen und Ida hat sich einspannen lassen, dabei zu helfen.
Genau, sowohl Vanner, wie auch Bevel verändern Mildred nach ihren Wünschen. Ida hilft Andrew dabei und wird von Andrew genauso auf ihren Platz verwiesen. Streichen sie dieses und jenes und ändern sie dieses und jenes. Ida hat ein Gefühl dazu. Aber letztendlich weiß nur Mildred selbst, wer und was sie war. Und das zeigt dann das letzte Buch.
 
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Gelöschtes Mitglied 2403

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Wie Diaz das alles zusammensetzt ist wirklich meisterhaft. Ich lese atemlos die Seiten und alles spitzt sich auf diesen letzten Text von Mildred zu.
Ein wirklich wunderbares Buch von einem richtig interessanten Autor. Ich verstehe dich absolut. Ich konnte nicht mehr aufhören mit der Lektüre. Dieses Buch hat mich vollkommen gepackt. Ich muss unbedingt bald "In der Ferne" lesen.
 
G

Gelöschtes Mitglied 2403

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S. 306: "Und eben weil sich das Bild von ihr, das sich aus diesem Sammelbuch ergibt, so drastisch von den Portraits unterscheidet, die jene beiden Männer zeichnen, habe ich das Gefühl, zum ersten Mal einen Blick auf die wahre Mildred Bevel zu erhaschen." Was ich gut finde: Ida sagt nicht, dass sie jetzt ein "richtiges/korrektes" Bild von ihr hat. Sie "erhascht" eins. Anders kann es nie gehen, wenn wir versuchen jemand anderen als und selbst zu erkennen und verstehen. (Selbst bei uns selbst ist das nicht immer einfach!)
Stimmt. Eine wunderbare Sicht und perfekt in dem Wort Erhaschen getroffen. Mir hat diese Art auf jemanden zu schauen auch sehr gefallen und diese Erklärung dazu. Sehr treffend. Denn dies, was man von Anderen wahrnimmt, ist immer nur ein gewisser Teil dieser Person, niemals sieht man Alles vom Anderen. Und in manchen Situationen lernt man auch sich selbst vollkommen neu kennen. Ja.
 

RuLeka

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30. Januar 2018
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Aber sie war scheinbar sehr intelligent und das ist oft noch gefährlicher als reine Macht (z.B. des Standes wegen) zu haben. Intelligente Frauen waren und sind und werden auch immer am gefährlichsten für Männer sein.
Warum eigentlich? Was ist so gefährlich an einer ebenbürtigen oder überlegenen Frau? Dass sie nicht alles einfach hinnimmt, dass sie Dinge in Frage stellt, dass sie sich vom Mann abwendet?
Ich frage mich wirklich, was die Männer fürchten? Ein starker Mann, im Sinne von gefestigt, profitiert doch von einer intelligenten Frau. Was braucht man Hierarchien in Beziehungen? Eine Beziehung wird doch besser, wenn jeder seine Stärken einbringen kann.
Irgendwie bin ich mit den Geschehnissen um die Figur des Vaters herum noch nicht ganz klar mit mir. Welche Funktion hatte seine Figur für das gesamte Buch?
Ida lebt ja nicht im luftleeren Raum. Sie ist ganz stark geprägt durch ihren Vater, betrachtet vieles durch dessen Brille.
Ich sehe ihn als Background für die Figur Ida und als Kontrastprogramm zu Andrew. Gleichzeitig aber hat er ähnliche Verhaltensmuster wie Andrew. Er lässt nur seine Weltsicht gelten, wird zornig, wenn man ihm was entgegenhält.
Die Männer im Roman sind alle Kinder ihrer Zeit, die Frauen ihrer Zeit voraus.
Da fabulieren mehrere Menschen am Leben einer Frau herum, aber keiner macht sich mal die Mühe sie selbst zu "befragen". Es wird einfach herablassend über ihr Leben nachträglich entschieden und jeder baut sich sein gewünschtes Bild von der Frau zusammen. (

Gut beobachtet! Die Mächtigen ,und das waren damals fast ausschließlich Männer, haben die Deutungshoheit über die Geschichte.
 

Irisblatt

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Ich muss unbedingt bald "In der Ferne" lesen.
Mach das. In der Ferne ist nicht komponiert wie Treue. Es wird chronologisch erzählt, es gibt nichts zu rätseln. Ich erinnere mich auch nicht an messerscharf formulierte Sätze wie hier, die mich einfach nur begeistert haben. In der Ferne ist ein sehr melancholisch, zumeist ruhiges Buch, das mich sehr tief berühren konnte - ein Roman mit einer ungewöhnlichen, tragischen Geschichte - ein fantastisches Buch. Treue ist intellektuell mit Protagonist:innen, deren Geschichte ich mit großem Interesse, aber meist mit einer inneren Distanz gefolgt bin während ich In der Ferne mit einem großen Mitgefühl und Bedauern für den "Helden" gelesen habe. Beide Bücher brechen mit Klischees, haben einen ungewöhnlichen Blick auf die Welt. Diaz könnte zu einem neuen Lieblingsschriftsteller werden.
 

Wandablue

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Da fabulieren mehrere Menschen am Leben einer Frau herum, aber keiner macht sich mal die Mühe sie selbst zu "befragen". Es wird einfach herablassend über ihr Leben nachträglich entschieden und jeder baut sich sein gewünschtes Bild von der Frau zusammen.
Die Tagebücher, also die vielen, von denen einen der Autor glauben lässt, dass sie existierten, sind doch verloren gegangen, bzw. wahrscheinlich von Bevel vernichtet worden.
 

Wandablue

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18. September 2019
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Plötzlich wird die von Ida erfundene Geschichte über das Kriminacherzählen im Kopf von Andrew zu einer wahren, tatsächlich stattgefundenen Geschichte.
Das funktioniert literarisch, also hier in diesem Roman - aber ich glaube nicht, dass es in der Realität auch so ist. Andrew wüßte doch genau, was er mit seiner Frau zusammen gemacht hat und was nicht. Ich glaube nicht, dass ein gesunder Mensch sich selbst so betrügen könnte. Vor allem dann nicht, wenn er ein analytischer Mensch ist.
Und im Roman, selbst dort, habe ich eher den Eindruck, er prüft Ida, ob sie aufmuckt.
 

Irisblatt

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15. April 2022
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Wie er aus Aberglaube das Geschenk von ihr nicht annehmen kann und letztlich, um den Aberglauben zu umgehen, doch wieder auf den von ihm so verhassten Kapitalismus zurückfällt, indem er ihr für einen Cent das Messer "abkauft".
Stimmt, danke für den Hinweis.
Was mir noch aufgefallen ist: Wie der historische Blick auf die weiblichen Protagonisten verloren geht. (Wie wir aus der Realität ja häufig wissen). Das fassen die Sätze von Ida zum Archiv gut zusammen. Sie ist die erste, die nach über 50 Jahren nach Mildreds Tod deren Nachlass überhaupt durchsieht. S. 303: "Ansonsten hat sich wohl niemand mit diesen Dokumenten befasst. Niemand hat sich die Mühe gemacht."
Das hat mir auch sehr gut gefallen. Die einzigen persönlichen, erhaltenen Tagebuchaufzeichnungen sind wohl nur noch da, weil sie in einem "Wirtschaftsbuch" versteckt waren. Bevel konnte nicht alle Spuren tilgen - es gibt noch etwas von der echten Mildred auf dieser Welt, nicht nur fiktionale Erzählungen von ihr.
Was ich gut finde: Ida sagt nicht, dass sie jetzt ein "richtiges/korrektes" Bild von ihr hat. Sie "erhascht" eins.
Daumen hoch!
Und zum Thema Wahrheit: Plötzlich wird die von Ida erfundene Geschichte über das Kriminacherzählen im Kopf von Andrew zu einer wahren, tatsächlich stattgefundenen Geschichte.
Diese Szene hat mich ebenso irritiert wie Ida.
stellt laut Überlegungen an und sagt immer wieder "Streichen Sie das." Und sie stellt im Hintergrund ihre eigenen Überlegungen und denkt immer wieder "Streichen wir das.
Das ist mir gar nicht aufgefallen. Danke, dass du das schreibst.
Ist euch auch aufgefallen, dass es auf S. 325 diesen einen Satz gibt, der nicht in der Ich-Perspektive von Ida geschrieben ist?
Nein
Haha, dazu fällt mir nichts ein.
 
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Irisblatt

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Das funktioniert literarisch, also hier in diesem Roman - aber ich glaube nicht, dass es in der Realität auch so ist. Andrew wüßte doch genau, was er mit seiner Frau zusammen gemacht hat und was nicht. Ich glaube nicht, dass ein gesunder Mensch sich selbst so betrügen könnte. Vor allem dann nicht, wenn er ein analytischer Mensch ist.
Ich kenne einen Menschen, bei dem das genauso ist. Es ist erstaunlich unheimlich - vor allem weil klar ist, dass die Person tatsächlich an ihre erfundene Vergangenheit glaubt. Für mich hat das schon krankhafte Züge - ich glaube, solche Mechanismen funktionieren unabhängig davon, ob man ein analytischer Mensch ist. Bevel ist in meinen Augen aber auch gestört - er biegt ständig die Vergangenheit zurecht - logisch, dass er irgendwann nicht mehr unterscheiden kann - und er will es auch gar nicht - er will seine schöne Welt, in der er gut dasteht.
Und im Roman, selbst dort, habe ich eher den Eindruck, er prüft Ida, ob sie aufmuckt.
Den Gedanken hatte ich an der Stelle auch. Habe ihn dann wieder verworfen.
 

Wandablue

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18. September 2019
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Ich kenne einen Menschen, bei dem das genauso ist. Es ist erstaunlich unheimlich - vor allem weil klar ist, dass die Person tatsächlich an ihre erfundene Vergangenheit glaubt. Für mich hat das schon krankhafte Züge - ich glaube, solche Mechanismen funktionieren unabhängig davon, ob man ein analytischer Mensch ist. Bevel ist in meinen Augen aber auch gestört - er biegt ständig die Vergangenheit zurecht - logisch, dass er irgendwann nicht mehr unterscheiden kann - und er will es auch gar nicht - er will seine schöne Welt, in der er gut dasteht.

Den Gedanken hatte ich an der Stelle auch. Habe ihn dann wieder verworfen.
Wahrscheinlich hast du recht, Iris, es ist nur so wahnsinnig weit weg - so ein Verhalten. Ja, krankhaft, das meinte ich. Ein gesunder Verstand merkt das. Aber Andrew vllt nicht, aus den von dir genannten Gründen.
 

Emswashed

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9. Mai 2020
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Treue wird hier zum Mittelpunkt des Geschehens. Wem kann Ida noch trauen? Jack hat sie erfolgreich in die Flucht geschlagen. Bravo! Dann erkennt sie, dass sie ihrem Vater auch nicht trauen kann, dass er die Seiten aus dem Papierkorb gestohlen hat.

Aber den größten Treuebruch beschert ihr Bevel. Anstatt dass er ihr hilft, sein Buch zu schreiben, vereinnahmt er ihre ausgedachte Geschichte als seine eigene und weiß sogar von Dingen zu berichten, die sie ihm gar nicht vorgelegt hat.

Die einzige treue Seele ist hier Ida. "Fast" hat sie ein schlechtes Gewissen, Jack aus den falschen Gründen in die Flucht geschlagen zu haben. Sie kehrt zu ihrem Vater zurück, sogar mit einem Geschenk und sie schmeißt auch nicht ihren Job bei Bevel, der sie doch so offensichtlich in die Irre führt.

Ich fand übrigens die Szene in Mildreds privaten Gemächern recht überraschend und gruselig. Da scheint eine Frau gelebt zu haben, die sich so gar nicht in ihr bisheriges Bild fügen will.

Wenn Bevel so erpicht darauf ist, seine eigene Darstellung unter die Leute zu bringen, warum lässt er dieses Andenken an seine Frau bestehen? Warum beharrt Bevel so sehr darauf, dass die ganzen Finanztransaktionen sein Kind zum Wohl und Wehe der Nation waren?
 

Literaturhexle

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2. April 2017
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Es wird einfach herablassend über ihr Leben nachträglich entschieden und jeder baut sich sein gewünschtes Bild von der Frau zusammen.
Das ist natürlich schon blöd und nicht wünschenswert. Aber nach so vielen Jahren (die Dokumente waren ja erst kürzlich der Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden) kann ich das nachvollziehen. Wer kannte Mildred denn noch persönlich? Sie verstarb früh. Die Bibliothekare gaben zudem als Begründung die schwer lesbare Schrift an. Klingt nachvollziehbar, zumal Ida ja auch lange nichts gefunden hat, was sie der Person Mildred näher bringen könnte.
Intelligente Frauen waren und sind und werden auch immer am gefährlichsten für Männer sein.
Ach, das ist aber schon entsetzlich plakativ;)! Für vergangene Zeiten lasse ich das gelten. Aber die Gleichberechtigung schreitet voran. Mittlerweile wissen kluge Männer auch intelligente Frauen zu schätzen.
Beide Bücher brechen mit Klischees, haben einen ungewöhnlichen Blick auf die Welt. Diaz könnte zu einem neuen Lieblingsschriftsteller werden.
Dieser Roman ist wirklich außergewöhnlich gut durchkomponiert worden. Ich liebe so etwas auch. Was darüber hinaus für Diaz spricht: Er ist ein Geschichtenerzähler. Er hat nicht nur ein (oft sein) Thema, sondern strickt sich etwas zurecht. Bis jetzt entnimmt er seinen Stoff der amerikanischen Geschichte, übt auch Kritik. Aber eben nicht mit der Brechstange, sondern geschmeidig und fließend in die Geschichte eingewebt. Grandios!
Das funktioniert literarisch, also hier in diesem Roman - aber ich glaube nicht, dass es in der Realität auch so ist.
Ich kann es mir bei Kindheitsepisoden vorstellen, die man so oft von Dritten erzählt bekommt, dass man sie selbst glaubt. Aber wie Irisblatt schreibt, sind die Menschen da auch unterschiedlich. Andrew wirkt in dieser Szene fast verträumt, das zweite Glas hat ihn ja eher lockerer werden lassen. Ich glaube daher nicht, dass er die Geschichte absichtlich geklaut hat.
Ein wunderbares Buch über die Zuverlässigkeit von Erinnerungen ist auch "Die einzige Geschichte" von Julian Barnes.
Aber den größten Treuebruch beschert ihr Bevel.
Empfindest du das so?
Ich denke, Ida ist weitgehend im Reinen mit ihm. Sie kreidet ihm höchstens seine Unaufrichtigkeit in Bezug auf Mildred an. Er war ihr Arbeitgeber, die Beziehung überwiegend geschäftlicher Natur. Kann ein solcher Mensch einen stärkeren Treuebruch betreiben als ein Vater oder ein Jugendfreund, die dem Herzen nahe stehen?
Ida ist voll von Geschichten. Ich glaube nicht, dass das so schlimm für sie war. Es zeigt nur wieder Bevels Charakter, der eben nimmt, was sich ihm anbietet.
 

Literaturhexle

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2. April 2017
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Wunderbar, wie sich der Vorhang über die wahre Mildred langsam erhebt beim Durchsehen der alten Schriften. Mildred hatte manchmal Harold Vanner zu Gast. Hat dieser die persönliche Beziehung zu Geld machen wollen durch seine Story oder war er ein verschmähter Geliebter? Wäre interessant, wenn sich das noch auflöst.
(Ida kommt zu dem Schluss, dass Vanner lediglich die "bessere" Geschichte schreiben wollte).
Brutal, dass Bevel sämtliche Spuren seines Feindes tilgen konnte! Unglaublich, was Macht und Geld alles zu bewirken vermögen. Warum ist ihm Vanner so wichtig, woher der Hass:
Aber mit Vanner ist es anders. Was er über meine Frau und mich geschrieben hat, ist anders. Und seine Reichweite ist eine andere. Aber ich wäre ihnen dankbar, wenn Sie darauf verzichten könnten, seinen Namen zu nennen.333
Ida schämt sich ihrer Mittäterschaft. Dennoch hat sie erst durch die Arbeit mit der Bevel-Biografie ihr Talent zum Schreiben gefunden - alles ist für irgendetwas gut.

Begeistert hat mich die eingeflochtene Erpressungsgeschichte, die zwar Jack eingefädelt hat, die verworfenen Zettel hatte jedoch ihr Vater gestohlen.... Einfallsreichtum pur!

Ich empfinde die Vater-Tochter- Beziehung als wichtig in diesem Roman. RULeka hat das an zwei Stellen schon toll dargelegt. Hier hadert Ida mit sich, weil sie "den Vater an den Feind verrät" und muss anschließend feststellen, dass jener auch im Begriff war, sie zu verraten. Oder war es ein Faustpfand, für den Fall, dass mit seiner Tochter irgendetwas passierte? Hatte er schlicht Angst vor der Macht?
Dennoch helfen ihr die gefundenen Zettel, sich weiter frei zu schwimmen von ihrem konfusen, anarchischen Vater. Der Schritt war überfällig und tut ihr gut. Toll zusammengefasst hier:
Eine Liebe, die so fest von Mitleid durchzogen war, dass ich die beiden von jenem Tag an nicht mehr auseinander halten konnte. 363

Fantastisch nach wie vor die Formulierungen und Bilder:
  • selektive Amnesie, parasitäre Irreführung
  • Das Plagiieren meiner Erinnerungen erlebte ich als äußerst wunderliche Form von Gewalt
  • Reichtum gleicht weniger einem Granitblock als vielmehr einem Flussbecken mit zahlreichen Nebenflüssen und Seitenarmen
  • uvm.
Die Übersetzung halte ich für hervorragend!

Auf in den letzten kurzen Abschnitt. Da müsste jetzt Blitz und Donner kommen, um dem Roman den 5ten Stern zu klauen :p