4. Leseabschnitt: Teil II. Kapitel 8 bis einschl. 10

Xanaka

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12. Juli 2015
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Es find so vielversprechend an. Dieses geheimnisvolle Treffen mit O'Brien. Das hörte sich alles so gut an. Mutig von Winston dass er Julia mit zu diesem Treffen mitnahm.
Wobei die Forderungen und Ansagen die O'Brien den beiden gegenüber machte, waren schon heftig. Interessant fand ich, welche Privilegien O'Brien hatte und wie weit diese gingen.

Tja und dann das Buch. Mir war klar, dass Julia beim Lesen des Buches einschlafen wird. Aber entsetzter war ich dann über die weitere Entwicklung. Plötzlich wird das Ausmaß der Überwachung deutlich und der einstmals geschützte Raum bei Charrington erweist sich auch als ein überwachter Raum. Auch die Verwandlung von Charrington war erstaunlich. Und die Erkenntnis, dass Winston wissentlich einem Mitglied der GedankenPolizei gegenübersteht. Einfach nur gruselig!
 

Die Häsin

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"Nach all den Jahren, in denen er nur Gin getrunken hatte, schmeckte er den Wein kaum."

Das ist eine Zeile, die ich als symptomatisch empfinde. Heute hatte ich mit meiner 30jährigen Tochter das übliche kulturpessimistische Gespräch, das wir in regelmäßigen Abständen wiederholen (ob wir wollen oder nicht), und dabei kam ich auch auf 1984 zu sprechen. Wir leben ja nicht in einer Diktatur, aber neben all den anderen Parallelen, die man trotzdem ausmachen kann (die Überwachung, die auch der Übersetzer anspricht, die Beeinflussung des Sprachgebrauchs usw) gibt es auch eine Parallele bei einem meiner Lieblingsthemen, nämlich den Lebensmitteln. Ich habe vorgestern gelesen, dass man aus vielen Gemüsesorten die Bitterstoffe herausgezüchtet hat (zb Auberginen und einige Kohlarten), obwohl der Körper diese für bestimmte Prozesse braucht; sie sind geschmacklich nicht erwünscht und wenn wir einen echten Rosenkohl der Sechzigerjahre zu essen bekämen, würde er uns vermutlich nicht mehr schmecken. Das gute, kernfeste Brot aus der Backstube verschwindet, weil die Leute lieber Aufbackbrötchen aus China-Teiglingen beim Discounter kaufen, und wie aufbereitete Lebensmittel mit völlig unmotivierten Zuckerbeigaben verfälscht werden, wird ja immer wieder mal in den Medien betont. Was unser Essen angeht, werden wir planmäßig blöd gemacht - das ist seit Jahren mein Gefühl. (Ich habe übrigens auch schon jetzt das Gefühl, dass ein großer Teil der im Radio gespielten Musik aus dem Versifikator kommt, aber das mag täuschen ...)

Wir sind wohl alle froh, in einer Demokratie und als freie Menschen zu leben, aber es kann nicht schaden, bei der Lektüre immer mal wieder innezuhalten und sich zu überlegen, ob unsere Lebensweise wirklich so toll und jenseits 1984 ist, wie wir uns das gern einbilden.
 

Die Häsin

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Noch ein Nachtrag: Bei Goldsteins scharfsinnigen Analyse, warum der Krieg nicht aufhören darf - nämlich weil die Menschheit weiter produziert und die Überproduktion irgendwo hinmuss - übersieht er die Möglichkeiten, auf dem Gebiet der Freizeitindustrie Ressourcen zu verplempern. Wenn man (zum Beispiel) die Leute mithilfe populärmedizinischer Indoktrinierung dazu bringt, dass sie sich schlecht und schuldig fühlen, wenn sie nicht dreimal wöchentlich drei Stunden in der Fitti auf dem Laufband verbringen, ist schon was gewonnen. Man hat die Menschen beschäftigt und dafür gesorgt, dass Bedarf an Fitnessgeräten und Fitti-Personal besteht, einschließlich Produktion und Verkostung von Eiweißdrinks zum Abschluss und nicht zu vergessen die praktische Sportkleidung, die man dazu braucht. Auf ähnliche Weise lassen sich leicht weitere Absatzmärkte schaffen mit dem Ziel, Arbeitskraft und Ressourcen zu verballern.

Das ist nur ein Beispiel und mir liegt ferne, die Fitnessindustrie damit irgendwie niederzumachen. Das gleiche könnte man über die Produktion von Computerspielen, die Reisebranche und jeden beliebigen Freizeittempel sagen. Und die Mode - und die eingeplante Schrottreife von Elektronikartikeln, die pünktlich nach Ende der Garantiezeit in die Knie gehen ...

Würde Orwell sein 1984 heute schreiben, ginge er höchstwahrscheinlich auch auf die Zerstörung der Natur ein. Dieser Aspekt fehlt in dem Buch bisher.
 
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Anjuta

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Winstons weitere Entwicklung auf dem Weg in den Widerstand ist zunächst Inhalt dieses LA. Der mutige Besuch bei o'Brian zusammen mit Julia, die Einschwörung auf die Bruderschaft mit allen furchtbaren Folgen, die kommen können. Die Übergabe des Buches und dann das Lesen des Buches. Für den Leser ist es ein "Buch im Buch", aus dem wir die Theorie hinter dem jetzigen System IngSoc (für was ist das nochmal eine Abkürzung, das habe ich überlesen oder vergessen) und dessen Geschichte erfahren. Für Orwell, der aus den 40er Jahren heraus diese dystopische Zukunftssicht entworfen hat, gestaltete sich die Zukunft wirklich sehr düster, zB mit einer Reihe weiterer Atomraketenabwürfe auf Städte in den 50ern und der Herausbildung von 3 großen Mächten, in denen überall eine ähnlich diktatorisch-menschenverachtende Ideologie vorherrscht und gelebt wird. (Da haben wir ja nochmal Glück gehabt! Unfd sind ganz gut weggekommen!) Strenge Hierarchien, Krieg als systemerhaltendes Mittel der Herrschaft und gesteuerte Senkung des Lebensstandards, damit die Massen beschäftigt und abgelenkt sind, habe ich mir als einige der Charakteristiken von IngSoc und größtenteils wohl auch von den anderen Gesellschaftssystemen gemerkt.
Und dann in Kap. 10: Das Ende bevor es richtig angefangen hat. Winston und Julia kommen gar nicht in die Situation, dass sie für die Bruderschaft eine der rätselhaften Handlungen ausführen müssen/können, wie o'Brian sie geschildert hatte. Sie werden gleich verhaftet. Und - so ein Mist - der gute, altmodische Mr. Charrington steckt dahinter. Er hat sie in eine Falle gelockt und ihnen nicht etwa ein sicheres Versteck gewährt. Die Idylle des Zimmers über seinem Laden platzt genauso wie der gläserne Briefbeschwerer. Und die Einsamkeit des Zimmers war natürlich nie eine Einsamkeit. Der Feind war dort und hörte mit, verborgen hinter dem Bild, das Julia immer abnehmen wollte, aber dann doch nie getan hat.
Nun sind Winston und Julia in den Händen der Gedankenpolizei und wir begeben uns in Teil III des Buches.
 

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Ich hatte in einem der vorigen Leseabschnitte geschrieben, dass es ganz erstaunliche Leute unter den Prolls zu geben scheint, zum Beispiel den kultivierten Mr. Charrington - und musste mich zurückhalten, dann nicht direkt dahinter zu schreiben "aber der ist ja gar kein Proll".
Als ich das Buch das erste Mal las, war das einer der größten Überaschungseffekte. Ausgerechnet dieser kleine, verhuschte, intellektuelle Mann, der wirkt wie aus der Zeit gefallen.

Nachtrag: Ich weiß jetzt, wie man Parteimitglied wird.
Goldstein erklärt es.
 
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sursulapitschi

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„Es ist ausgeschlossen, dass es in unserer Lebenszeit noch zu irgendwelchen wahrnehmbaren Veränderungen kommt. Wir sind die Toten.“

Frustrierender kann wirklich nichts mehr sein.

Mitten in der Hasswoche ändert sich der Feind. Der Name wird geändert, das Volk schimpft weiter. Das klingt doch nach Trump-Anhängern: Egal was gebrüllt wird, es wird mitgebrüllt und der Lauteste hat recht.

Ich habe damit gerechnet, dass es kein gutes Ende nimmt, aber dass sie jetzt schon auffliegen, bevor sie überhaupt etwas gegen das Regime tun konnten, kommt schon plötzlich, dafür um so eindrucksvoller. Der vermeintlich sichere Raum ist eine Falle. Schlimmer geht es nicht.

Goldsteins Buch ist eine unglaublich zynische Gesellschaftsanalyse. So etwas muss man sich erst einmal ausdenken. Irre.
 

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In meiner alten Übersetzung hieß es Engsoz, die Abkürzung von "Englischer Sozialismus". Was heißt es in der neuen, weiß es jemand vielleicht noch? Mich irritiert das "Ing".
 

sursulapitschi

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In meiner alten Übersetzung hieß es Engsoz, die Abkürzung von "Englischer Sozialismus". Was heißt es in der neuen, weiß es jemand vielleicht noch? Mich irritiert das "Ing".
Wir haben doch ein umfangreiches Glossar. Da steht: "INGSOC. Die Abkürzung steht für "English Socialism" und wurde nach Ansicht von "Winston Smith" etwa 1960 erfunden, als die dahinterliegende Idee endgültig zum dogmatischen Lehrgebäude erstarrt war..."
 
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hinmuss - übersieht er die Möglichkeiten, auf dem Gebiet der Freizeitindustrie Ressourcen zu verplempern.
Ich denke, dass Orwell so kurz nach dem Krieg tatsächlich nicht an diese Möglichkeit gedacht hat. Er selbst war an Tuberkulose erkrankt, sportliche Bestätigung keine Option. Aber er war im Krieg und daher hat er vielleicht diese Option gesehen.
In meiner alten Übersetzung hieß es Engsoz, die Abkürzung von "Englischer Sozialismus". Was heißt es in der neuen, weiß es jemand vielleicht noch? Mich irritiert das "Ing".
Das ist wirklich irritierend, auch in den Anmerkungen steht, dass es die Abkürzung für „English Socialism“ ist, warum nicht ENGSOC?

Wie habt ihr dieses Buch im Buch empfunden? Interessant, da es einige Hintergründe erläutert, aber letztlich ging es mir wie Winston. Es hat mir nichts Neues erzählt, es nur strukturiert. Ich empfand es teilweise sehr belehrend, so als ob Orwell sicher gehen wollte, dass alles richtig verstanden wird.
 
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sursulapitschi

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Wie habt ihr dieses Buch im Buch empfunden?
Eine LANGE, sehr zynische Analyse, die man hätte kürzen sollen. Es ist gut, dass jemand mal zusammenfasst, was wir vermutet haben und es in den Gesamtzusammenhang stellt, aber nebenbei hat sich da Herr Goldstein (Orwell) auch noch seinen Fust von der Seele geschrieben und die Welt erklärt, wie er sie sieht.
Und bei vielen Aspekten denke ich: Ja, mag sein, dass es so ist, aber woher weißt du das denn? Gerade wenn es um die Anfänge der Partei geht, war er dabei? Hat er Beweise gefunden? Oder spekuliert er auch nur?
Belehrend klingt es auch, stimmt, zwischendrin denkt man, kein Wunder dass Julia eingeschlafen ist.
 

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zwischendrin denkt man, kein Wunder dass Julia eingeschlafen ist.
:D, ehrlich gesagt ist es mir auch so ergangen gestern Abend o_O. Kürzen wäre sicherlich eine gute Option gewesen. Ich hätte es besser gefunden, wenn nicht alles bis ins Detail ausformuliert wäre. Ich möchte auch noch selbst denken ;) und nicht alles erklärt bekommen.
 

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Ich finde Goldsteins Buch zwar interessant, war aber trotzdem immer mit Julia der Meinung, dass der Krieg nicht existiert bzw. die Partei einen Fake-Krieg gegen ihr eigenes Land führt.

Aufgefallen ist mir die Stellung der Frauen in Buch allgemein: In Goldsteins Buch heißt es (S. 257): "Wer Mitglied der Partei ist, lebt vom ersten bis zum allerletzten Lebenstag unter den Augen der Gedankenpolizei. (...)... sein Verhalten gegenüber Frau und Kindern ..."

Das erinnert mich an einen Gesellschaftsentwurf bei Emile Zola in dem Roman "Rom" (Zola beschäftigte sich in seinen späteren Romanen gern mit Utopien), der mit den Worten beginnt: "In den drei ersten Jahrhunderten war jede Kirche ein kommunistischer Versuch, eine ausgesprochene Genossenschaft, deren Mitglieder alles gemeinsam besaßen, mit Ausnahme der Frauen."

Im Gespräch mit O'Brien spricht Smith ganz selbstverständlich für Julia mit, und O'Brien nimmt das auch ganz selbstverständlich so an.
 

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Apropos Frau.
Es ist an der Zeit, ein Übersetzungsproblem zu erwähnen, das bei mir immer ein ärgerliches Lachen ausgelöst hat. Es geht um die singende Prollfrau, die Wäsche aufhängt.
In meiner alten Übersetzung sagt Julia von ihr: "Sie misst leicht einen Meter um die Hüften herum." Da muss der Übersetzer definitiv geschlafen haben, denn ein Meter Hüftumfang entspricht Größe 40, das ist nicht dick, je nach Körpergröße sogar durchaus schlank.
Im Original heißt es "She's a metre across the hips", also ein Meter Durchmesser. Das entspricht einem Umfang von 314 cm, das ist Walrossformat und jenseits jeder messbaren Kleidergröße; die Frau trägt ein Viermannzelt.
Bei Lutz-W. Wolff heißt es nun "Ihre Hüften sind mehr als einen Meter breit". Das bedeutet einen Umfang von irgendwas über 200 cm. Ich habe mal anhand einer Größentabelle extrapoliert, dass die Frau Konfektionsgröße 76 trägt.

Fragt mich nicht, was genau Orwell nun vorschwebte. Irgendwie ist das alles Schwurbel. Mit den Frauen scheint er's nicht gehabt zu haben.
 
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Die Häsin

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Rhönrand bei Fulda
Ich glaube, er hält sie einfach für einen (innerhalb ihrer Grenzen) glücklichen Menschen. Das meinte ich, als ich zu einem anderen Leseabschnitt mal schrieb, dass die Prolls besser dran sind als die Parteimitglieder. Die Parteimitglieder haben ein paar Privilegien (wie bessere Schulbildung - aber was heißt schon Schulbildung in einem solchen Regime?), dafür aber viel mehr Repressalien. Sie gehen immer wie auf Eiern, während die Prolls unbeachtet bleiben.