"Nach all den Jahren, in denen er nur Gin getrunken hatte, schmeckte er den Wein kaum."
Das ist eine Zeile, die ich als symptomatisch empfinde. Heute hatte ich mit meiner 30jährigen Tochter das übliche kulturpessimistische Gespräch, das wir in regelmäßigen Abständen wiederholen (ob wir wollen oder nicht), und dabei kam ich auch auf 1984 zu sprechen. Wir leben ja nicht in einer Diktatur, aber neben all den anderen Parallelen, die man trotzdem ausmachen kann (die Überwachung, die auch der Übersetzer anspricht, die Beeinflussung des Sprachgebrauchs usw) gibt es auch eine Parallele bei einem meiner Lieblingsthemen, nämlich den Lebensmitteln. Ich habe vorgestern gelesen, dass man aus vielen Gemüsesorten die Bitterstoffe herausgezüchtet hat (zb Auberginen und einige Kohlarten), obwohl der Körper diese für bestimmte Prozesse braucht; sie sind geschmacklich nicht erwünscht und wenn wir einen echten Rosenkohl der Sechzigerjahre zu essen bekämen, würde er uns vermutlich nicht mehr schmecken. Das gute, kernfeste Brot aus der Backstube verschwindet, weil die Leute lieber Aufbackbrötchen aus China-Teiglingen beim Discounter kaufen, und wie aufbereitete Lebensmittel mit völlig unmotivierten Zuckerbeigaben verfälscht werden, wird ja immer wieder mal in den Medien betont. Was unser Essen angeht, werden wir planmäßig blöd gemacht - das ist seit Jahren mein Gefühl. (Ich habe übrigens auch schon jetzt das Gefühl, dass ein großer Teil der im Radio gespielten Musik aus dem Versifikator kommt, aber das mag täuschen ...)
Wir sind wohl alle froh, in einer Demokratie und als freie Menschen zu leben, aber es kann nicht schaden, bei der Lektüre immer mal wieder innezuhalten und sich zu überlegen, ob unsere Lebensweise wirklich so toll und jenseits 1984 ist, wie wir uns das gern einbilden.