4. Leseabschnitt: Teil 3 (ab Seite 293 bis S. 390)

Circlestones Books Blog

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Hätte Rashid nicht einmal 'nach Hause' fliegen können?
Seine Eltern hatten ihn wiederholt aus Gründen der politischen Situation gewarnt, nach Hause zu kommen, bis er seiner Heimat und auch seiner Familie entfremdet war, vielleicht hatte er auch etwas Angst vor einem Wiedersehen, Angst, sie hätten einander nichts mehr zu sagen, zu unterschiedlich waren ihre Lebenswege.
 

RuLeka

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Ich hatte nicht damit gerechnet, dass Gurnah am Ende der Geschichte mit ein paar eleganten Verknüpfungen den Kreis schließt, aber für mich passt es und es ist ein positiver Abschluss.
Es gefällt mir auch sehr, wie Gurnah hier nochmals alle Fäden aufgreift und zu einem runden Ende führt.
 

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Für mich hat dieser gesamt Roman deshalb so gut funktioniert, weil Gurnah seine Geschichte in diese zwei großen Teile geteilt hat. Dadurch hatte er die Möglichkeit, uns nicht nur die jeweiligen Hauptfiguren Martin und Rehana - Farida, Amin, Rashid, Jamila in allen ihren Facetten zu schildern, sondern auch Umfeld, Gesellschaft, Politik, Alltagsleben um 1899 mit allen Themen, die Gurnah wichtig sind, für uns informativ und umfassend zu beschreiben und dann nochmal ab 1950, vor allem jedoch ab 1963, dem prägenden Jahr für Amin und Rashid. Wir sehen, dass sich in diesen mehr als sechzig Jahren kaum etwas geändert hat, Jamila wird an der Geschichte ihrer Mutter und an der Geschichte ihrer Großmutter bemessen und danach gesellschaftlich geächtet.
Die besondere Tragik des Schicksals sehe ich darin, dass zwar beide, Amin und Rashid, ihre beruflichen Wege wie geplant und erfolgreich gehen können, aber beide kein glückliches Leben führen. Amin beugt sich den strengen gesellschaftlichen Regeln, aufgefordert durch die Eltern, in der Heimat und kommt nie über den Verlust seiner Liebe Jamila hinweg. Rashid dagegen fliegt 1963 genau aus diesen engen Regeln und Gesellschaftszwängen, um in England genau wieder gegen Gesellschaftsstrukturen ankämpfen zu müssen, in diesem Fall gegen die überhebliche Missachtung und Ausgrenzung als Fremder unter Engländern.
Als Pendant zu Amin und Rashid ist es ausgerechnet Farida, die als Frau sich erstaunlich weit durchsetzen kann, sie ergreift den Beruf, der ihr gefällt und ist erfolgreich, sie bestimmt den Mann, den sie heiraten will und lässt sich nicht beirren und tritt sogar in die Öffentlichkeit, als ihre Gedichte herausgebracht werden.
Es sind genau diese vielen unterschiedlichen Aspekte, die mich beim Lesen begeistert haben, da sie sowohl einzeln, als auch als Ganzes für mich wirken, nachvollziehbar sind und mir viel neues Wissen gebracht haben, über einen mir bisher wenig bekannten Teil Afrikas.
 

Literaturhexle

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2. April 2017
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Ihr habt schon viele kluge Gedanken geäußert und diskutiert. In diesem Buch steckt unheimlich viel Wahrheit über das Leben zwischen den Kulturen. Die vielen Vorurteile, die Legenden, die eine Familie über Generationen verbrennen und stigmatisieren. Die Probleme, wenn man im Heimatland bleibt und sich den gängigen Normen anpassen muss, die Probleme, wenn man das Land verlässt, um im gelobten England neu Fuß zu fassen. Überall gibt es Grenzen, ungeschriebene Gesetze, Diskriminierungen usw., die ein selbst bestimmtes Leben einschränken.

Es gelingt Gurnah, seine Geschichten zu verflechten. Er beweist seine These vom Anfang, dass alles mit allem zusammenhängt. Das ist ihm wie bereits in "Nachleben" hervorragend gelungen.
Bereits im letzten LA stellte ich fest, dass ich es nicht so mit Liebesgeschichten habe. Das bestätigt sich hier. Diese riesengroße, allumfassende Liebe zu Jamila, die Amir sein ganzes Leben lang nicht vergessen kann... Nicht meins. Das ist mir zuviel Pathetik, zuviel Sentimentalität. Letztlich heilt die Zeit fast alle Wunden. Unwahrscheinlich, dass Amir sein ganzes Leben Junggeselle bleibt und Jamila nachtrauert, finde ich. Aber der Autor darf entscheiden, welche Lebensläufe seine Figuren bekommen.
Den Preis für das Liebesverhältnis hat primär Jamila bezahlt, es sind meistens die Frauen, die zahlen. Aber auch ihr waren die Risiken zu gut bekannt. Wobei ich mir diese revanchistischen Revolutionäre nicht mit der Frau alleine vorstellen will. Die perverse Macht der Männer!

Ich verurteile die Eltern nicht zu laut. Auch sie sind Kinder ihrer Generation, die meinten, das Beste zu tun. Diese Gesellschaft ist einfach eingefahren, der gute Ruf unheimlich wichtig und schnell ruiniert. Man darf sie nicht mit dem Selbstverständnis von heute verurteilen. Die Geschichte spielt Anfang der 1960er Jahre im fernen Sansibar bzw. in London.

Am Ende erklärt sich auch die ausführliche Vorstellung der Geschwisterkonstellation. Jedes Kind ist ein Unikat, sie erfüllen höchst selten die früh angelegten Erwartungen ihrer Eltern. Der verwandtschaftliche Zusammenhang zwischen Rehana und Barbara am Ende ist natürlich konstruiert, aber dennoch ein netter Twist im Sinne der Ausgangsthese "alles mit allem".

Begeistert hat mich das alles nicht. Der 4. LA las sich etwas leichter. Trotzdem hat mich die Detailverliebtheit Gurnahs etwas angestrengt. Ich kann leider schlecht querlesen, sonst hätte ich es getan.

Auch mich irritiert es, dass der Herr Professor über 20 Jahre lang seine Familie nicht besucht hat. Statt dessen werden gefühlvolle Briefe, die dann auch wieder das Wesentliche verschweigen, über den Ozean geschickt. Es wird wohl stimmen, dass sich auch Geschwister über die Distanz und die Jahre entfremden, zumal es kein Telefon gab.
 

RuLeka

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30. Januar 2018
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Ich verurteile die Eltern nicht zu laut. Auch sie sind Kinder ihrer Generation, die meinten, das Beste zu tun. Diese Gesellschaft ist einfach eingefahren, der gute Ruf unheimlich wichtig und schnell ruiniert. Man darf sie nicht mit dem Selbstverständnis von heute verurteilen. Die Geschichte spielt Anfang der 1960er Jahre im fernen Sansibar bzw. in London.
Das sehe ich auch so. Wir beurteilen immer mit unserem Hintergrund, muss aber die Zeit, in der ein Roman spielt oder geschrieben wurde, mitberücksichtigen.
Trotzdem hat mich die Detailverliebtheit Gurnahs etwas angestrengt.
Hier konnte ich sie genießen. ( Sei froh, dass die Szekely- Runde ausgelassen hast.)
Auch mich irritiert es, dass der Herr Professor über 20 Jahre lang seine Familie nicht besucht hat. Statt dessen werden gefühlvolle Briefe, die dann auch wieder das Wesentliche verschweigen, über den Ozean geschickt. Es wird wohl stimmen, dass sich auch Geschwister über die Distanz und die Jahre entfremden, zumal es kein Telefon gab.
Mich erschien auch das glaubwürdig. Die Wege, die jeder eingeschlagen hat, waren zu verschieden, jeder hatte mit seinen eigenen Problemen zu kämpfen. Wahrscheinlich war öfter mal der Wille zu einem Besuch da, aber keine Dringlichkeit. Wie oft treffen sich Geschwister erst wieder bei der Beerdigung der Eltern.
 

Literaturhexle

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2. April 2017
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Beschäftigt man sich gerade gedanklich mit Jamila und Amin, geht es jetzt nur noch um Rashid.
Wobei es mir gefallen hat, immer wieder unterschiedliche Perspektiven kennenzulernen. Auch das Notizbuch Amins wiederholt zwar teilweise Sachverhalte, aber aus einer anderen Perspektive, die den Blickwinkel weitet.
Für mich hätte alles etwas gestrafft gehört. Die verschiedenen Geschichten an sich haben mir gefallen, zumal sie am Ende zusammenlaufen.
Sei froh, dass die Szekely- Runde ausgelassen hast.)
Bin ich auch. Richtig froh!!!
 

Irisblatt

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15. April 2022
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Dass die Eltern Grace ablehnen, habe ich so nicht gehört, zumal er ja mit Barbara den Heimatbesuch plant.
Die Mutter diktiert Amin einen bitterbösen Brief an Rashid, nachdem sie von Grace erfahren hat - einen Brief, den Amin nie abschicken.
Er plant mit Barbara einen Heimatbeduch, bei dem klar ist, dass sie nicht im selben Zimmer übernachten werden, weil sie nicht verheiratet sind. Offen bleibt, wie Rashid seinem Vater gegenüber Barbara vorstellt - vielleicht redet er nur von einer Freundin/Bekannten, die etwas über ihre Halbschwester herausfinden möchte.
 

dracoma

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16. September 2022
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Diese Gesellschaft ist einfach eingefahren, der gute Ruf unheimlich wichtig und schnell ruiniert. Man darf sie nicht mit dem Selbstverständnis von heute verurteilen.
Die erste Reaktion auf diese Beziehung war ja auch: Du bringst Schande über uns.
Dieser Ehrbegriff, der die Ehre bzw. das öffentliche Ansehen über das persönliche Glück stellt, mag uns heute fremd sein, aber genau deswegen fordert Baron Innstetten den Major Crampas auch zum Duell, er fühlt sich dazu gezwungen.
Ich finde es auch nicht erstaunlich, dass Amin seinen Eltern gehorcht. Er fühlt sich dem Ehrbegriff der Familie verbunden und fühlt Verantwortung. Seine Erziehung, die aufs Gehorchen ausgelegt war, wie damals üblich, trägt dazu bei.

Immer schwierig, wenn wir durch unsere Brille auf andere Kulturen und Zeiten schauen...
Diese riesengroße, allumfassende Liebe zu Jamila, die Amir sein ganzes Leben lang nicht vergessen kann... Nicht meins. Das ist mir zuviel Pathetik,
Mir auch.
Ich habe das Gefühl, dass Liebe hier zelebriert wird, weil's so schön ist.
So wie Farida ihre jahrelange schriftliche Liebe mit Abbas zelebriert, so "feiert" Amin seine verlorene Liebe zu Jamila.
Vielleicht bin ich auch nur zu pragmatisch.

Ich habe als Nachhinkerin nur ein paar kurze Gedanken:

Amins Blindheit
Amin darf Jamila nicht mehr sehen, also erblindet er langsam, und das, was ihm wichtig ist, nämlich das Zusammensein mit Jamila, spielt sich in seiner Innenwelt ab. Überhaupt wird ihm das Diesseits, also das, was er sieht, täglich unerträglicher, und er freut sich auf das Sterben und ein Leben im Jenseits, wo es "Seeelenruhe und ... Frieden" (S. 379) für ihn gibt.
Seine Blindheit hat aber noch eine andere Bedeutung: er lebt "in einem Land der Blinden" (S. 344), sagt er, und damit spielt Gurnah wohl auf die chaotischen und grausamen Zustände nach der Unabhängigkeit an.

Das Haus
kann man als Bild des Empire bzw. der britischen Oberhoheit in Sansibar sehen. Jetzt nämlich stürzt es endgültig zusammen und "alles sah anders aus" (S. 372)

Das Notizbuch
Das hat mir jetzt gut gefallen, wie Gurnah das Motiv des Notizbuchs einsetzt und damit die Geschichte zu einem Ring zusammenschließt. Die Liebesgeschichte beginnt mit dem Notizbuch von Martin Pearce, das Rehana entwendet hat und ihm zurückbringt. Und hier ist es das Notizbuch Amins, das er an Rashid schickt und mit dessen Hilfe Rashid diese Geschichte erst öffentlich machen kann.
 

dracoma

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16. September 2022
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Ein kleiner Nachklapp zu einer Stelle, die ich interessant fand.

S. 221: Rashids Gedichte werden von seinem britischen Lehrer kritisiert: "nachgemachtes Geschwätz, ... bedeutungslos wie alle Versuche von Afrikanern, auf Englisch große Gefühle auszudrücken... Überheblichkeit" etc.

Das erinnert mich sehr an dieses Buch
Buchinformationen und Rezensionen zu Die geheimste Erinnerung der Menschen: Roman von Mohamed Mbougar Sarr
Kaufen >

in dem es auch um diese besondere Form des rassistischen Diskriminierung geht und um die Suche nach der eigenen kulturellen Identität.
 
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RuLeka

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Immer schwierig, wenn wir durch unsere Brille auf andere Kulturen und Zeiten schauen...
Das müssen wir immer berücksichtigen, wenn wir Romane aus anderen Kulturkreisen oder aus vergangenen Zeiten lesen. Wir dürfen nicht mit unserem Hintergrund urteilen.
Das ist doch auch mit ein Grund, warum wir lesen. Um Einblick zu bekommen in Gesellschaften, die uns fremd sind und dadurch mehr Verständnis.
Mir auch.
Ich habe das Gefühl, dass Liebe hier zelebriert wird, weil's so schön ist.
So wie Farida ihre jahrelange schriftliche Liebe mit Abbas zelebriert, so "feiert" Amin seine verlorene Liebe zu Jamila.
Vielleicht bin ich auch nur zu pragmatisch.
Beides sind Lieben, die nicht gelebt werden können ( bei Farida zum Zeitpunkt der Brjede). Da bleibt Schwärmerei und Idealisierung nicht aus. Anders bei Lieben, die den Alltagstest bestehen müssen.
Danke auch für den Hinweis mit Amins Erblindung.
 

Literaturhexle

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2. April 2017
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Seine Erziehung, die aufs Gehorchen ausgelegt war, wie damals üblich, trägt dazu bei.
Sehr guter Hinweis.
Ich habe das Gefühl, dass Liebe hier zelebriert wird, weil's so schön ist.
So erging es mir auch.
Amin darf Jamila nicht mehr sehen, also erblindet er langsam,
Stimmt. Gute Verbindung, gewiss kein Zufall!
kann man als Bild des Empire bzw. der britischen Oberhoheit in Sansibar sehen.
Darauf hat mich Luisa schon gebracht, als sie in einem vorhergehenden LA erwähnte, dass ausführliche Beschreibungen oft eine tiefere Bedeutungsebene haben. Das Haus kommt tatsächlich immer wieder vor, und erst am Ende fällt es in sich zusammen.
Motiv des Notizbuchs
Auch richtig!
Das erinnert mich sehr an dieses Buch
An Sarr musste ich bei dem Satz tatsächlich auch denken;)
Da bleibt Schwärmerei und Idealisierung nicht aus. Anders bei Lieben, die den Alltagstest bestehen müssen.
Stimmt. Wichtiger, richtiger Einwand!
 

dracoma

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Beides sind Lieben, die nicht gelebt werden können ( bei Farida zum Zeitpunkt der Brjede). Da bleibt Schwärmerei und Idealisierung nicht aus.
Das sehe ich auch so, das ist wohl auch die Ursache dieses Zelebrierens.
Umso erstaunlicher, dass es bei Farida in eine offensichtlich funktionierende Ehe führt.
Bei Amin - ich weiß nicht - da bekommt es zerstörerische Züge; er wirkt auf mich wie ein Einsiedler, der nur für seine vergangene Liebe lebt.
Ich könnte mir aber denken, dass diese Auffassung einer lebenslangen, fast heiligen Liebe auch kulturell bedingt ist...?
 

luisa_loves-literature

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9. Januar 2022
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Das Haus
kann man als Bild des Empire bzw. der britischen Oberhoheit in Sansibar sehen. Jetzt nämlich stürzt es endgültig zusammen und "alles sah anders aus" (S. 372)
Genau, da ist es wieder: das Haus! Großartig, dass es wieder aufgenommen wurde. Und es ist auch so toll gelungen: "die Mauer des oberen Stockwerks brach zuerst ein" - die Kolonialverwaltung verschwindet zuerst - "und so konnten alles sich aus dem Haus retten" - also alle Briten - "bevor alles zu einem Haufen von brüchigem Mörtel, Steinen, morschen Balken und in allen Richtungen davonrennenden Hühnern zusammenfiel" - das Empire war schon marode, hinterlässt bei seinem Zusammenbruch aber nur kopflos agierende Entscheidungsträger (in Kolonialverwaltungen war es ja durchaus üblich, Ortskräfte in weniger wichtigen Positionen einzusetzen), die in von dem Chaos der Unabhängigkeit überfordert sind. "Niemand wurde verletzt, und es wurde sogar ein wenig darüber gelacht und gescherzt, dass die alte Ruine schließlich doch zusammengekracht war" - also friedlicher, nicht sonderlich überraschender Abzug der Briten - "obwohl unsere Nachbarn es nicht so lustig fanden" - die Nachbarstaaten sind angesichts der jungen Unabhängigkeit skeptisch. "etwas Großes war plötzlich aus unserem Blickfeld verschwunden. Alles sah anders aus, wenn man aus dem Fenster schaute" - das Große ist das Empire und das Land sieht nun unabhängig anders aus.

Sehr interessant auch, dass hier das Bild des "aus dem Fenster schauen" angewendet wird. Es nimmt Mas Haltung auf. wenn Amin nach Hause kommt. (S. 365) Sie sieht "tragisch aus", braucht aber "das Licht". Am Fenster sitzende Frauen sind in der Literatur der Inbegriff von Passivität. Frauen waren jahrhundertelang ans Haus gebunden, sie waren nie draußen in der Welt, sondern konnten sie nur von drinnen durchs Fenster betrachten. Hier kann man möglicherweise auch einen Bezug zu der Inaktivität der Bürger nach der Unabhängigkeit herstellen, eben zu dem "alles sah anders aus, wenn man aus dem Fenster schaute", aber ein aktiver Versuch, die Zukunft des jungen Landes mitzugestalten, bleibt hier aus. Hier sehe ich tatsächlich auch einen Bezug zu dem "Erblinden", dass ja sehr stark auch als Erbkrankheit thematisiert wird, zu dem "Land der Blinden". Man will gar nicht sehen, was aus dem Land, aus dem das "Licht" gewichen ist, wird, sucht Zuflucht in den eigenen vier Wänden und der Religion - sehr traurig, sehr tragisch, sehr passiv. Es klingt, als "trauere" Amin um die Zeiten des Empire.

Die Rahmenhandlung, in der Rashid erfolgreich in England lehrt und den Roman in Angriff nimmt, finde ich großartig, vor allem auch, weil das Geheimnis um den Erzähler sich erst im dritten Teil lüftet.
 

RuLeka

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30. Januar 2018
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Genau, da ist es wieder: das Haus! Großartig, dass es wieder aufgenommen wurde. Und es ist auch so toll gelungen: "die Mauer des oberen Stockwerks brach zuerst ein" - die Kolonialverwaltung verschwindet zuerst - "und so konnten alles sich aus dem Haus retten" - also alle Briten - "bevor alles zu einem Haufen von brüchigem Mörtel, Steinen, morschen Balken und in allen Richtungen davonrennenden Hühnern zusammenfiel" - das Empire war schon marode, hinterlässt bei seinem Zusammenbruch aber nur kopflos agierende Entscheidungsträger (in Kolonialverwaltungen war es ja durchaus üblich, Ortskräfte in weniger wichtigen Positionen einzusetzen), die in von dem Chaos der Unabhängigkeit überfordert sind. "Niemand wurde verletzt, und es wurde sogar ein wenig darüber gelacht und gescherzt, dass die alte Ruine schließlich doch zusammengekracht war" - also friedlicher, nicht sonderlich überraschender Abzug der Briten - "obwohl unsere Nachbarn es nicht so lustig fanden" - die Nachbarstaaten sind angesichts der jungen Unabhängigkeit skeptisch. "etwas Großes war plötzlich aus unserem Blickfeld verschwunden. Alles sah anders aus, wenn man aus dem Fenster schaute" - das Große ist das Empire und das Land sieht nun unabhängig anders aus.

Sehr interessant auch, dass hier das Bild des "aus dem Fenster schauen" angewendet wird. Es nimmt Mas Haltung auf. wenn Amin nach Hause kommt. (S. 365) Sie sieht "tragisch aus", braucht aber "das Licht". Am Fenster sitzende Frauen sind in der Literatur der Inbegriff von Passivität. Frauen waren jahrhundertelang ans Haus gebunden, sie waren nie draußen in der Welt, sondern konnten sie nur von drinnen durchs Fenster betrachten. Hier kann man möglicherweise auch einen Bezug zu der Inaktivität der Bürger nach der Unabhängigkeit herstellen, eben zu dem "alles sah anders aus, wenn man aus dem Fenster schaute", aber ein aktiver Versuch, die Zukunft des jungen Landes mitzugestalten, bleibt hier aus. Hier sehe ich tatsächlich auch einen Bezug zu dem "Erblinden", dass ja sehr stark auch als Erbkrankheit thematisiert wird, zu dem "Land der Blinden". Man will gar nicht sehen, was aus dem Land, aus dem das "Licht" gewichen ist, wird, sucht Zuflucht in den eigenen vier Wänden und der Religion - sehr traurig, sehr tragisch, sehr passiv. Es klingt, als "trauere" Amin um die Zeiten des Empire.

Die Rahmenhandlung, in der Rashid erfolgreich in England lehrt und den Roman in Angriff nimmt, finde ich großartig, vor allem auch, weil das Geheimnis um den Erzähler sich erst im dritten Teil lüftet.
Toll, welche Bezüge Du wieder herstellst.
 

Sassenach123

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27. Dezember 2015
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So, ich konnte gestern Abend das Buch beenden und ich war weitestgehend zufrieden. Amin tut mir leid, wie fast allen hier. Seine Liebe, seine einzige Liebe, er hat niemals wieder versucht jemand anderen in sein Herz zu lassen, schlimmer noch empfinde ich allerdings sein Schicksal blind zu werden. Er als Lehrer, der alsbald seinen Beruf nicht mehr ausüben kann, keine eigenen Kinder hat, die ihm helfen könnten, wie er es bei seiner Mutter getan hat.
Rashid geht seinen Weg, auch wenn der auch nicht leicht ist. Da fragt man sich was schlimmer ist? Allein unter Menschen die einen verachten, oder zwischen den Unruhen leben zu müssen, aber den Halt der Familie zu haben…….
 

Sassenach123

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27. Dezember 2015
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Etwas konstruiert wirkt in den letzten Kapiteln die Zufälligkeit, dass Rashid etliche Jahre nach seiner Scheidung Barbara kennenlernt, die eine Cousine Jamilas ist.
Das habe ich ähnlich empfunden. Ich meine mich erinnern zu können, dass dies in dem anderen Roman den ich von ihm gelesen habe auch so war.
Doch, die Vorbehalte, gerade von Seiten der Mutter, sind groß. Ihre Worte so voller Bosheit, dass sie Amin garnicht in seinem Brief an Rashid schreibt. Gerade gesehen, dass alasca die Szene zitiert.
Schlimm, jemanden abzulehnen, den man nicht mal kennt. Rassismus gibt es auf beiden Seiten. Eine andere Mutter wäre froh zu wissen, dass ihr Sohn in der Ferne jemanden hat. Sie erwidert die Grüße nicht, gut das Amin eingeschritten ist, es hätte Rashid sicher sehr verletzt
Für mich hat dieser gesamt Roman deshalb so gut funktioniert, weil Gurnah seine Geschichte in diese zwei großen Teile geteilt hat.
Zu Beginn war ich verwirrt, doch nun, macht es Sinn
Bei Amin - ich weiß nicht - da bekommt es zerstörerische Züge; er wirkt auf mich wie ein Einsiedler, der nur für seine vergangene Liebe lebt.
Die erste Zeit hatte ich dafür Verständnis, dass er sein restliches Leben unter dieses Ereignis stellt, grenzt an Selbstkasteiung. Andere Mütter haben auch hübsche Töchter, an diesem Sprichwort ist etwas wahres dran