4. Leseabschnitt: Teil 2 - Kapitel 4 und 5 (S. 136 bis S. 192)

RuLeka

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Wenn alle Figuren im Roman einhellig eine Meinung vertreten neigt man sehr leicht dazu anzunehemn, dass dies auch die Meinung des Autors sei.
Ich bin jetzt nicht die Angesprochene, aber ich könnte mir vorstellen, dass eine "Korrektur" so aussehen könnte, dass es zumindest eine Person im Roman gäbe, die sich gegegn das misogyne chauvinistische Frauenbild stellt. Wenn der Autor eine Gegenrede zulässt, ändert sich auch die Sichtweise auf den Autor.
Er hätte einfach eine starke Frauenfigur in die Geschichte einbauen können, eine, die sich nicht über Männer definieren muss. Das gab es damals nämlich auch. Hella ist eine selbständige Junge Frau, die allein zum Studium nach Paris ging, allein durch Spanien reist, erweist sich als eine Frau, die sich unterwirft ( s. S. 184 oben).
 

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Er hätte einfach eine starke Frauenfigur in die Geschichte einbauen können, eine, die sich nicht über Männer definieren muss. Das gab es damals nämlich auch. Hella ist eine selbständige Junge Frau, die allein zum Studium nach Paris ging, allein durch Spanien reist, erweist sich als eine Frau, die sich unterwirft ( s. S. 184 oben).
Er hätte das tun können. Ja. Aber ich gehe mal davon aus, dass ein Schriftsteller wie Baldwin gute Gründe hatte, es nicht zu tun.
Hella ist auch nicht eindeutig, sondern komplex in ihrem Fühlen, Denken und Auftreten. Selbstbewusst und konservativ.
Baldwin wollte wahrscheinlich abbilden, wie es überwiegend war. Ausnahmen und Vorreiter gibt es immer. Das war ihm sicherlich auch klar und das wissen wir ja auch... und wie gesagt, er brauchte keine Person erschaffen, die die Gegenrede repräsentiert, weil die über das Frauenbild empörte Leserin diese Gegenrede hält...
 
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RuLeka

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30. Januar 2018
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Vorab: Ich liebe James Baldwin , seine Bücher und bewundere sein Eintreten für die Freiheit des Menschen. Aber wir werden keinen Frauenrechtler aus ihm machen. Das Bewusstsein war damals ein anderes. Wenn ich mir nur anschaue, wie die linken Studenten der 68 er Bewegung mit Frauen umgegangen sind. Wir sind da heute viel sensibilisierter für solche Fragen.
 

Literaturhexle

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Aber wir werden keinen Frauenrechtler aus ihm machen. Das Bewusstsein war damals ein anderes.
That's it. Ich habe immer Probleme damit, ein vergangenes Gesellschaftsbild mit den heutigen Werten und Ansichten zu evaluieren. Wir können dem Autor auf diese Weise nicht gerecht werden.
Außerdem: nochmal, es sind Figuren, nicht der Autor selbst. Streng genommen kann er irgendeine Geschichte erzählt haben. Nichts davon muss SEINE Meinung sein.
 
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MRO1975

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11. August 2018
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In diesem Abschnitt versucht David, sich an Hella zu binden. Sobald sie in Paris ankommt, zieht er zu ihr ins Hotel und verlässt Giovanni. Er möchte ihn aus seinem Leben ausradieren, sieht er in ihm einen Schandfleck, etwas, dass ihn von einer bürgerlichen Existenz trennt. Hartherzig, dass er ihm noch nicht mal Bescheid sagt und der andere dermaßen leiden muss.
Mich hat dann doch erstaunt, wie schnell sich David neu mit Hella arrangiert. Er scheint keinen Herzschmerz zu spüren, dass er Giovanni nicht mehr treffen kann. Das lies nicht gerade viel Liebe vermuten.
 

MRO1975

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11. August 2018
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Zu seiner Ehrenrettung würde ich ja anführen, dass er keinen feministischen Roman schreiben wollte und im Hinblick auf Frauen einfach das beschrieben hat, was er in den 50ern beobachtet hat. Dass muss ja nicht heißen, dass er es auch billigt.

Evtl. ist es auch eine überzogene Reaktion von David und Giovanni auf die eigene Diskriminierung? In Beale Street hat Baldwin von der Diskriminierung Schwarzer geschrieben und einer der Folgeeffekte dieser Diskriminierung war, dass die Schwarzen sich untereinander ebenfalls diskriminiert haben und die Frauen am Ende der Hackordnung standen.
 

Leseglück

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Evtl. ist es auch eine überzogene Reaktion von David und Giovanni auf die eigene Diskriminierung? In Beale Street hat Baldwin von der Diskriminierung Schwarzer geschrieben und einer der Folgeeffekte dieser Diskriminierung war, dass die Schwarzen sich untereinander ebenfalls diskriminiert haben und die Frauen am Ende der Hackordnung standen.
Dieser Gedanke ist mir auch schon gekommen. Nach dem Motto: wir Homosexuelle sind verachtungswert aber auf Frauen können wir immer noch runterschauen.
 

Leseglück

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7. Juni 2017
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Er hätte einfach eine starke Frauenfigur in die Geschichte einbauen können, eine, die sich nicht über Männer definieren muss. Das gab es damals nämlich auch. Hella ist eine selbständige Junge Frau, die allein zum Studium nach Paris ging, allein durch Spanien reist, erweist sich als eine Frau, die sich unterwirft ( s. S. 184 oben).
Ja, sie unterwirft sich: "Lass mich eine Frau sein...ich werf die Bücher weg.."
Aber vorher auf S.142 sagt Hella:
"Ist dir noch nie in den Sinn gekommen, dass diese Notwendigkeit (gemeint ist, einen Mann zu haben) demütigend ist?"
"....es ist doch irgendwie schwierig, dass man erst man selbst sein kann, wenn man sich irgendeinem unrasierten, unappetitlichen Fremden ausliefert?"
"Für eine Frau ist ein Mann immer ein Fremder. Und es hat was Schreckliches einem Fremden ausgeliefert zu sein...."


Diese Zitate zeigen, finde ich, dass Hella nicht nur eine unterwürfige Frau ist...sie hat diese unabhängige Seite, wie du schreibst, schließlich studiert sie und reist allein.
Die Sätze sind so eine Art Gegenrede gegen die chauvinistischen Äußerungen unserer Helden.
 

Sassenach123

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Ich habe massive Schwierigkeiten mit dem Frauenbild, das Baldwin hier vermittelt. Erst haben wir eine Frau als Opfer: Damit meine ich die Dame, an der David ausprobiert hat, ob er bei den Damen noch seinen Mann stehen kann. Ich glaube, das war in einem der vorherigen Abschnitte und ich habe ihren Namen vergessen. Ich kann mich nur an eine Amerikanerin erinnern, die scheinbar in Paris gestrandet ist und sich von Männern ausnutzen lässt (also David).
Dann gibt es hier Prostituierte als Randfiguren bzw. Frauen, die es brauchen, vermöbelt zu werden.
Und dann haben wir Hella, die zuerst meine Hoffnungsträgerin war, die sich aber bei näherer Betrachtung als Enttäuschung erweist. Dieses Streben nach Hausfrauentum ist übel. Auch sie will sich über einen Mann definieren und sieht es als höchstes Ziel einer Frau an, für das Wohlergehen eines Mannes zu sorgen. Bestenfalls will sie an der Seite eines Mannes stehen, würde sich aber auch mit ein zwei Schritten hinter ihm begnügen.
Baldwin ist ein begnadeter Schriftsteller, was seinen Sprachstil und das Vermitteln von Stimmungen angeht. Aber dieses Frauenbild, das er zeichnet, nehme ich ihm übel. Das kann er doch nicht wirklich gemeint haben. Er, der unter der Diskriminierung in seiner Heimat litt, hat kein Problem damit, Frauen zu diskriminieren. Meine Güte!
Sorry, ich schreibe mich gerade in Rage.
Am Ende sieht das Bild, dass er von Hella darstellt tatsächlich genauso aus, wie du es beschrieben hast. Umso verwunderlicher finde ich daher,wie sie am Anfang beschrieben wurde. Sie reist allein, ohne Mann und lässt den Leser fast schon glauben, dass sie sehr emanzipiert ist.
 
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Sassenach123

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David ist einfach nicht in der Lage klar Stellung zu beziehen was seine sexuelle Neigung angeht. Er sehnt sich nach Männern, aber die Möglichkeit eine Familie zu gründen will er sich auch nicht nehmen lassen. In Paris, in einer schmuddeligen Wohnung, ist Giovanni wichtig für ihn, er hat das Gefühl ihn zu lieben. Ich kaufe ihm sogar ab, dass er wirklich so für ihn empfunden hat. Doch für andere Menschen scheint Liebe nach anderen Regeln zu spielen. Woran liegt es, dass ihm das nicht klar ist? Vorstellbar wäre sogar, dass er es erneut mit einer Frau versucht, um sie nach kurzer Zeit wieder mit einem Mann zu betrügen.
Manchmal vergesse ich allerdings auch ein wenig die Zeit in der der Roman spielt. Heute hätte es für David besser laufen können, zumindest was einige Dinge angeht. Sein Egoismus ist auch in der jetzigen Zeit nicht kompatibel, egal ob für Männlein oder Weiblein
 
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Wandablue

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Brandenburg
Sehr dramatischer LA! Geahnt hatte ich es schon, dass es auf einen Mord hinauslaufen würde... Die Gespräche zwischen Giovanni und David und Hella und David fand ich aufschlussreich und haben deutlich gezeigt, wie zerrissen David war - nicht nur innerlich. Am Ende hat er alles verloren; ob sein letzter Weg wohl in die Seine führt? Wir wissen es nicht, aber wundern würde es mich nicht... Ich gehe später noch auf eure Beiträge ein; das ist mir am Handy gerade zu mühselig :D.

Nein, nein. Warum sollte er sich umbringen?
 

Wandablue

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Brandenburg
Er hätte einfach eine starke Frauenfigur in die Geschichte einbauen können, eine, die sich nicht über Männer definieren muss. Das gab es damals nämlich auch. Hella ist eine selbständige Junge Frau, die allein zum Studium nach Paris ging, allein durch Spanien reist, erweist sich als eine Frau, die sich unterwirft ( s. S. 184 oben).

Es wäre nicht so schlimm gewesen, wenn Baldwin die misogynen Dinge die Männer hätte äussern lassen, dass aber Hella über sich selber so herabwürdigend und unterwürfig redet, deutet m.E. darauf hin, dass mit Hella auch etwas Baldwin spricht.
 
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Leseglück

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@kingofmusic
Ich finde du hast da ein Thema aufgemacht, über das wir noch gar nicht geredet haben? Wie geht es eigentlich mit David weiter. Dazu muss man vielleicht das Buch bis zu Ende gelesen haben.
Aber Selbstmord ist ja eine Möglichkeit. Auf S. 118 steht: " Vielleicht zum ersten Mal in meinem Leben stand mir hier der Tod als Möglichkeit vor Augen."
 

kingofmusic

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Aber Selbstmord ist ja eine Möglichkeit. Auf S. 118 steht: " Vielleicht zum ersten Mal in meinem Leben stand mir hier der Tod als Möglichkeit vor Augen."
Das habe ich mir beim Lesen auch dick markiert. Aber irgendwie ist mir David im Zuge des Lesens dermaßen unsympathisch geworden (ich weiß, das darf kein Maßstab sein!), dass mich sein Ende gar nicht mehr beschäftigt hat. Aus meiner Sicht ist er ein großer Egoist, vielleicht sogar ein Narzisst. Er hat die Menschen um sich rum nicht gut behandelt. Wenn er nun mit seinem Gewissen nicht weiterleben kann.... Auch gut. Das berührt mich einfach nicht mehr.
 

parden

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13. April 2014
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www.litterae-artesque.blogspot.de
Gestern hatte ich den Roman bereits beendet, heute aber noch das Nachwort gelesen, das die Erzählung sowie den Autor für mich in den Rahmen rückt, in dem es geschrieben wurde. Auch auf das Frauenbild wird da kurz eingegangen.

Internet-Recherchen zeigen, dass Baldwin durchaus feministischer Kritik unterliegt - nämlich dahingehend, dass selbst seine kraftvollsten Frauenfiguren v.a. im Dienste ihrer Männer existierten. Aber ich denke auch, dass man diesen Aspekt - sowie z.B. auch das Thema der Homosexualität - in den damaligen gesellschaftlichen Kontext setzen muss. Davids Scham bezüglich seiner sexuellen Neigung, sein Selbsthass - wenn ich mir im Nachwort anschaue, welchen Repressalien Schwule in den USA seinerzeit ausgesetzt waren, kann ich nachvollziehen, dass das Leugnen der homoerotischen Neigung oftmals näher lag als ein offenes selbstbewusstes Bekenntnis. Dieses Leugnen wesentlicher Anteile von sich selbst - verhindert das nicht zwangsläufig die Fähigkeit, wirklich zu lieben? Interessante Aspekte, die Baldwin hier aufwirft.

Unglaublich viele biografische Anteile scheinen in diesen Roman eingeflossen zu sein. Das machen sicher viele Autoren so, hier aber hat es mich stellenweise betroffen gemacht: Giovanni und David gab es in anderer Form wirklich. Und ein Lebensdrama war es für Baldwinn offenbar allemal...
 

Mikka Liest

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14. Februar 2015
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Hilter am Teutoburger Wald
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Ich glaube, Hella war für David nie eine echte Person, sondern nur ein Symbol, ein Trugbild, eine mögliche Rettung vor seiner eigenen Natur. Das finde ich an ihm so fatal: er benutzt Menschen. Hella als Freifahrschein in das Leben, das er sich vorstellt, Giovanni als Triebbefriedigung...

Ist David zu wahrer Liebe fähig? Ich glaube nein, nicht so, nicht bevor er nicht mit sich selbst ins Reihe kommt.

Ich fand die Überlegungen im Nachwort zum Thema der Scham sehr interessant. Tatsächlich werden die Personen in diesem Buch dann zu den schlimmsten Verfehlungen getrieben, wenn sie ihre Natur aus Scham verleugnen.

Ich glaube, Giovanni konnte einfach nicht mehr, er war zu tief verletzt und erniedrigt... Immer, wenn er glaubt, sein Glück gefunden zu haben, zerrinnt es ihm zwischen den Fingern. Erst sein totes Kind, dann die gescheiterte Liebe zu David, und das verbunden mit einem stetigen Abstieg in die Prostitution.

Ich glaube nicht, dass das Frauenbild, wie es sich in Davids Umfeld präsentiert, dem entspricht, was Baldwin für erstrebenswert hält. Hier geht es immer wieder um (falsche) Scham und Unterdrückung, in den verschiedensten Formen. Und immer wieder liegt die Wurzel des Übels in der Gesellschaft, in der fatale Vorstellungen und Erwartungen propagiert werden. Ich denke, das Frauenbild soll genauso wenig als positiv dargestellt werden wie Davids Verhalten.

David quält sich selber und andere, weil er die Vorstellungen, was eine normale Sexualität ist, einfach übernimmt. Hella verweigert sich ein Leben nach ihren eigenen Vorstellungen, weil sie das Frauenbild einfach übernimmt.

Das ist hier doch ein wiederkehrendes Thema: der Mensch wird zu seinem eigenen ärgsten Feind, weil er sich nicht lösen kann von dem, was die Gesellschaft ihm (oder ihr) vorschreibt.
 
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