4. Leseabschnitt: Teil 2 - Kapitel 4 und 5 (S. 136 bis S. 192)

SuPro

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an der David ausprobiert hat, ob er bei den Damen noch seinen Mann stehen kann
Ich glaube, es ging nicht nur darum. Es ging, meine ich, um mehr.
David erhoffte sich, wie jeder, der einen heftigen inneren Konflikt zu lösen hat, eine einfache Entscheidungshilfe von außen. Dafür gibt es ja Beispiele im Buch. Ich glaube, David hatte die naive Illusion, nach der Nacht mit einer Frau zu wissen, ob er homo- oder heterosexuell ist...
 

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Baldwin ist ein begnadeter Schriftsteller, was seinen Sprachstil und das Vermitteln von Stimmungen angeht. Aber dieses Frauenbild, das er zeichnet, nehme ich ihm übel.
...wir können nicht darauf schließen, dass Baldwin SEIN Bild vermittelt hat. Er kann genauso gut nur beschrieben haben, was er beobachtet hat. Und das vermute ich ehrlich gesagt auch. Genau aus dem Grund, den du anführst. Er erfuhr Diskriminierung am eigenen Leib und setzte sich für Gleichheit und Emanzipation ein. Meines Erachtens kann das nicht sein Frauenbild sein.
 

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D. wehrt sich mit aller Macht gegen seine Homosexualitat
... da er sich noch gar nicht wirklich im Klaren über seine sexuelle Orientierung ist, kann er sich noch gar nicht gegen eine eindeutige homosexuelle Orientierung wehren. Bis zuletzt scheint mir die Klarheit diesbezüglich zu fehlen. Er hat meines Erachtens weniger Probleme mit der sexuellen Orientierung, er ist wahrscheinlich bisexuell, als mit der Fähigkeit des sich Einlassens.
 
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Ich glaube jetzt, am Ende, am ehesten, dass es weniger um die sexuelle Orientierung geht, als um die Fähigkeit bzw. Unfähigkeit des Euch Einlassens. Des sich Fallenlassens. Des sich Anvertrauens. Er ist, meine ich bisexuell. Kann sex. Genuss mit beiden Geschlechtern empfinden. Aber es geht um etwas viel tieferes. Die Liebesfähigkeit, als Oberbegriff des oben erwähnten. Und dabei spielt, m. E. eine große Rolle, dass er seine Mutter mit 5 Jahren verloren hat. Dieser einschneidende Verlust und noch dazu in der ödipalen Phase. Und was danach kommt, war schlimm. Emotionale Kargheit und keine Möglichkeit, den Verlust durch Austausch und emotionalen Halt auszugleichen/aufzufangen. Ich glaube also, dass es unterm Strich um viel mehr geht, als nur um die sexuelle Orientierung...
 

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Ja, mein positives Bild von James Baldwin ist durch diesen Roman stark ins Rutschen gekommen. War er da so in seiner Zeit verwurzelt, dass Befreiung nur ein Thema für Männer ist? Erstens haben die männlichen Figuren im Roman ein schreckliches Frauenbild, es geht immer nur um ihre Befindlichkeiten , ob dabei Gefühle von Frauen verletzt werden, ist zweitrangig. Und die Frauen im Roman sind, wie Du schreibst, auch so auf Männer fixiert , dass ein eigenständiges Leben ohne Mann undenkbar scheint.
Aber tappen wir nicht in eine Falle, wenn wir Baldwins Einstellungen, Haltungen und Meinungen hier durchblitzen sehen? Ich glaube, dass er einfach nur das damalige vorherrschende Bild beschrieb. Und dass er das so hervorragend macht, dass wir glauben, dass Dich sein Bild dahinter verbirgt spricht für seine Meisterschaft.
Wenn wir einen Schauspieler maximal unsympathisch finden, spricht das ja auch für seine schauspielerische Leistung.
 

Literaturhexle

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Ich glaube jetzt, am Ende, am ehesten, dass es weniger um die sexuelle Orientierung geht, als um die Fähigkeit bzw. Unfähigkeit des Euch Einlassens. Des sich Fallenlassens. Des sich Anvertrauens. Er ist, meine ich bisexuell. Kann sex. Genuss mit beiden Geschlechtern empfinden. Aber es geht um etwas viel tieferes. Die Liebesfähigkeit, als Oberbegriff des oben erwähnten. Und dabei spielt, m. E. eine große Rolle, dass er seine Mutter mit 5 Jahren verloren hat. Dieser einschneidende Verlust und noch dazu in der ödipalen Phase. Und was danach kommt, war schlimm. Emotionale Kargheit und keine Möglichkeit, den Verlust durch Austausch und emotionalen Halt auszugleichen/aufzufangen. Ich glaube also, dass es unterm Strich um viel mehr geht, als nur um die sexuelle Orientierung...
Gut, dass du nochmal auf das schlimme Schicksal hinweist, dass David so früh seine Mutter verloren hat. Weder Vater noch Tante konnten ihm Liebe geben. Da bleiben die ihm eigenen Emotionen auf der Strecke! Insofern ist es kein Wunder, dass er gefühlsarm wurde. Nichts desto trotz hat er sich sowohl Giovanni, als auch Sue und Hella gegenüber schäbig verhalten. Auch wenn er vielleicht nicht anders konnte.
 

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Da kann ich Dir nur bedingt zustimmen. Sicherlich muss man das Bild der Frau im Kontext der damaligen Zeit sehen. Das macht es aber nicht richtiger. Und gerade bei einem Intellektuellen wie Baldwin, der ebenfalls mit Rollenklischees zu kämpfen hatte, hätte ich mir mehr Distanz zu diesen Ansichten erhofft.
Ich erkenne nirgends, dass er sich mit dem damals vorherrschenden Bild identifiziert. Er beschrieb als neutraler Beobachter, was er sah. Weshalb sollte er werten und bewerten? Das ist hohe Kunst, seine eigene Meinung nicht einfließen, sondern den Leser selbst denken, fühlen und werten zu lassen...wobei ich gar nicht das Bedürfnis habe zu werten. Es machte mir einfach Spaß, in die innere Welt von David einzutauchen und zu versuchen, nachzuvollziehen oder zu verstehen...
 

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Ist es wirklich Baldwins Meinung? Oder ist es die Meinung seines Personals?
Baldwin steht über den Dingen. Er beschreibt die damalige Gesellschaft und seine Figuren repräsentieren diese Gesellschaft, deren Regeln und Schwierigkeiten... aber er kämpfte für Freiheit und Gleichberechtigung. Eine Meisterleistung, sich so zurückzunehmen und neutraler Beobachter und Erzähler zu bleiben.
 

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wir können nicht darauf schließen, dass Baldwin SEIN Bild vermittelt hat. Er kann genauso gut nur beschrieben haben, was er beobachtet hat.
Dann bewegt er sich aber auf sehr dünnem Eis, wenn er auf seinen Ruf als "Ikone der Gleichberechtigung" baut und hofft, dass der Leser ihm nicht abnimmt, was er geschrieben hat. Für einen Leser, der Baldwins Hintergrund nicht kennt, bleibt der Eindruck der negativen Darstellung des Frauenbildes zurück. Baldwin korrigiert dieses Bild noch nicht mal ansatzweise.
 
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Dann bewegt er sich aber auf sehr dünnem Eis, wenn er auf seinen Ruf als "Ikone der Gleichberechtigung" baut und hofft, dass der Leser ihm nicht abnimmt, was er geschrieben hat. Für einen Leser, der Baldwins Hintergrund nicht kennt, bleibt der Eindruck der negativen Darstellung des Frauenbildes zurück. Baldwin korrigiert dieses Bild noch nicht mal ansatzweise.
... Ich sehe das tatsächlich anders. Baldwin wertet und bewertet nicht. Er beschreibt nur und der Leser muss ihm also nur abnehmen, dass das, was er beschreibt, stimmt. Und es stimmt ja auch. So war das damals. Das macht ja auch Salzmann in ihrem Nachwort noch mal deutlich.
Hättest Du Dir gewünscht, dass er Stellung bezieht und seine Meinung einbringt? Ich verstehe nicht ganz, was Du mit „korrigieren“ meinst.
 

ulrikerabe

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Hättest Du Dir gewünscht, dass er Stellung bezieht und seine Meinung einbringt? Ich verstehe nicht ganz, was Du mit „korrigieren“ meinst.

Wenn alle Figuren im Roman einhellig eine Meinung vertreten neigt man sehr leicht dazu anzunehemn, dass dies auch die Meinung des Autors sei.
Ich bin jetzt nicht die Angesprochene, aber ich könnte mir vorstellen, dass eine "Korrektur" so aussehen könnte, dass es zumindest eine Person im Roman gäbe, die sich gegegn das misogyne chauvinistische Frauenbild stellt. Wenn der Autor eine Gegenrede zulässt, ändert sich auch die Sichtweise auf den Autor.
 
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Hättest Du Dir gewünscht, dass er Stellung bezieht und seine Meinung einbringt? Ich verstehe nicht ganz, was Du mit „korrigieren“ meinst.
"Korrigieren" ist vielleicht das falsche Wort. Eigentlich meine ich damit, dass Baldwin ein paar Spuren hätte auslegen können, die dazu verleiten, Hella und Sue nicht mit diesem verächtlichen Frauenbild in Erinnerung zu behalten. Sie hätten zumindest als "moralischer Sieger" aus der Geschichte hervorgehen können. Ich spinne mal rum:
Sue, die sich auf Davids Avancen scheinbar einlässt, ihn aber kurz vor Vollzug abblitzen lässt ... oder der Klassiker "vorgetäuschter Orgasmus", den sie ihm unter die Nase reiben könnte. Also, irgendeine Abreibung hätte David verdient, was auch keinen Einfluss auf Baldwins Gestaltung dieses Charakters gehabt hätte.

Oder Hella, die sich sang- und klanglos davon macht, nach Amerika zurückgeht und sich auf die Suche nach einem Ehemann und Erzeuger ihrer Kinder machen wird. Zu Beginn des Romans ist sie uns als selbstbewusste Frau begegnet, die ihr eigenes Ding macht und durch die Welt reist. Am Ende wäre es ein leichtes gewesen, sie wieder auf Reisen gehen zu lassen und ihr "altes" Selbstbewusstsein wieder aufleben zu lassen, nachdem sie ihre Wunden geleckt hat. Das hätte ich Baldwin sogar eher abgenommen, als ihr Streben nach einem Leben als "Männerzubehör".
 

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Ganz schwierig: ich empfinde sowohl Renies als auch SuPros Aussagen absolut nachvollziehbar.
Generell muss man sich aber davor hüten, den Autor in seinen Figuren sehen zu wollen. Es kann biografische Bezüge geben, muss aber nicht.
Das sind generell völlig getrennte Paar Stiefel. Der Autor erschafft seine Figuren nach eigenem Gusto. Seine eigene Meinung müssen sie nicht wiedergeben.
 
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Wenn alle Figuren im Roman einhellig eine Meinung vertreten neigt man sehr leicht dazu anzunehemn, dass dies auch die Meinung des Autors sei.
Ich bin jetzt nicht die Angesprochene, aber ich könnte mir vorstellen, dass eine "Korrektur" so aussehen könnte, dass es zumindest eine Person im Roman gäbe, die sich gegegn das misogyne chauvinistische Frauenbild stellt. Wenn der Autor eine Gegenrede zulässt, ändert sich auch die Sichtweise auf den Autor.
... ich verstehe, was Du meinst. Mir kam aber gar nicht ernsthaft in den Sinn, dass Baldwin so ein Bild haben könnte. Nicht, weil ich ein Baldwin-Kenner wäre, sondern weil er mir dieses Bild, diesen Eindruck nicht implizit oder explizit vermittelt hat.
Bei so wenig Personal, noch dazu aus ähnlichem Milieu, gibt’s halt keine Gegenrede. Da hätte er dann noch eine Figur erfinden müssen. Aber nur, um es dem Leser dadurch leichter zu machen? Daran lag ihm offenbar nichts.
 
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"Korrigieren" ist vielleicht das falsche Wort. Eigentlich meine ich damit, dass Baldwin ein paar Spuren hätte auslegen können, die dazu verleiten, Hella und Sue nicht mit diesem verächtlichen Frauenbild in Erinnerung zu behalten. Sie hätten zumindest als "moralischer Sieger" aus der Geschichte hervorgehen können. Ich spinne mal rum:
Sue, die sich auf Davids Avancen scheinbar einlässt, ihn aber kurz vor Vollzug abblitzen lässt ... oder der Klassiker "vorgetäuschter Orgasmus", den sie ihm unter die Nase reiben könnte. Also, irgendeine Abreibung hätte David verdient, was auch keinen Einfluss auf Baldwins Gestaltung dieses Charakters gehabt hätte.

Oder Hella, die sich sang- und klanglos davon macht, nach Amerika zurückgeht und sich auf die Suche nach einem Ehemann und Erzeuger ihrer Kinder machen wird. Zu Beginn des Romans ist sie uns als selbstbewusste Frau begegnet, die ihr eigenes Ding macht und durch die Welt reist. Am Ende wäre es ein leichtes gewesen, sie wieder auf Reisen gehen zu lassen und ihr "altes" Selbstbewusstsein wieder aufleben zu lassen, nachdem sie ihre Wunden geleckt hat. Das hätte ich Baldwin sogar eher abgenommen, als ihr Streben nach einem Leben als "Männerzubehör".
... gute Ideen. Aber würde Baldwin dadurch nicht einfach nur unsere bzw. Deine Wünsche befriedigen? Ich glaube, dass er mit seinem Personal die damalige Realität sehr gut abgebildet hat. Und dass es vielleicht tatsächlich sehr wenig Gegenrede gegeben hat… Und die Gegenrede kommt ja von uns. Hier. Jetzt. Heute.
 
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Aber würde Baldwin dadurch nicht einfach nur unsere Bzw. Deine Wünsche befriedigen?
Nein, aber er würde damit nicht den Eindruck beim Leser hinterlassen, dass er ein herabwürdigendes Frauenbild vertritt.

Und dass es vielleicht tatsächlich sehr wenig Gegenrede gegeben hat…
Als "Ikone der Gleichberechtigung" kann dies aber seinerzeit nicht in seinem Sinne gewesen sein.
 

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Nein, aber er würde damit nicht den Eindruck beim Leser hinterlassen, dass er ein herabwürdigendes Frauenbild vertritt.


Als "Ikone der Gleichberechtigung" kann dies aber seinerzeit nicht in seinem Sinne gewesen sein.
... und jetzt bestätigt es sich mal wieder, wie unterschiedlich die Eindrücke verschiedener Leser sind und wie interessant und bereichernd eine Diskussion darüber ist.