4. Leseabschnitt: 'STEHEN' (Seiten 223 bis 319)

GAIA

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Tatsächlich ist es bisher für mich am schwierigsten diesen letzten LA für mich selbst einzuschätzen und einzuordnen.

Zum einen war ich (mal wieder, wie so oft in diesem Buch) überrascht vom Perspektivwechsel hin zu einem Mix aus verschiedenen personalen Perspektiven (nennt man das so?). Wir bekommen Einblicke dazu, was nicht nur Anna denkt, sondern auch Liz und Amira usw. Das ist zwar etwas Neues, aber ich fand es schon etwas merkwürdig von einem Absatz zum nächsten von einem Blickwinkel zu einem anderen geworfen zu werden. Wobei McGregor es wieder einmal beherrscht dies authentisch hinzubekommen. Ist euch aufgefallen, dass Amira als einzige in "Teilnehmende", "Begleitende" etc. statt in "Teilnehmer" und "Begleiter" denkt und spricht? Durch die Sprache wird hier das junge Alter der Person und deren gelebte Integration und Versuch nach Gleichbereichtigung. Das kommt nicht vor, wenn wir z.B. bei Liz sind.

Der Plot entwickelt sich in die von mir vermutete Richtung, dass es Richard gut tun würde, "aussprechen" zu können, was er in der Antarktis erlebt hat. Durch diese unkonventionelle Gruppentherapie (die habe ich natürlich nicht vorhergesehen!) findet er und die anderen Mittel und Wege, um ihr Inneres auszudrücken. Hier hat mir die Darstellung der Verschiedenartigkeit von Aphasien sehr gefallen. Wieder: sehr gut recherchiert.

Und irgendwie hat dieses Erscheinen von plötzlich noch einmal vielen neuen Protagonisten aber auch bei mir dazu geführt, dass die starke emotionale Angepacktheit, die ich durch den "Anna"-Abschnitt verspürt habe, etwas abgeflacht ist. Kognitiv also ein interessanter Abschnitt, emotional aber für mich etwas weniger relevant.

Auch die abschließende "Rückkehr" in die Antarktis mit poetischer Schilderung der Geschehnisse, wie sie Robert erlebte, fand ich "rund" und schlüssig, konnte mich aber nicht vollends aus der Reserve locken. Vielleicht war ich noch zu sehr darauf gepolt, dass jetzt vielleicht doch noch "der Knaller", "die neuen Fakten", "die Erkenntnis", was nun tatsächlich vorgefallen ist, kommt.

Vom letzten Abschnitt bin ich also nicht mehr ganz so vollkommen hingerissen, wie von den vorherigen. Was aber meines Erachtens dem meisterhaften Kaliber des Romans keinen Abbruch tut.
 

Literaturhexle

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Wobei McGregor es wieder einmal beherrscht dies authentisch hinzubekommen.
Das ist wirklich phänomenal, wie glaubwürdig und authentisch diese Perspektiven rüber kommen. Anfangs hat Robert Vorbehalte gegen die Therapie. Amira hinterfragt sich selbst, reflektiert ihre spontanen Entschlüsse. Liz coacht, beide sind sehr professionell und aufeinander eingespielt.
Sehr deutlich wird das Kämpfen der Versehrten selbst, das Ringen um Worte, die Suche nach Alternativen. Wie der Autor es fertig bringt, die verschiedenen Arten der Sprachstörungen darzulegen, an verschiedenen Charakteren und Figuren: große schriftstellerische Leistung!!!
Hier hat mir die Darstellung der Verschiedenartigkeit von Aphasien sehr gefallen. Wieder: sehr gut recherchiert.
Ja. Das meinte ich. Großartig!
Kognitiv also ein interessanter Abschnitt, emotional aber
Nein. Das kann ich nicht sagen. Zwar mag es uns leichter fallen, uns mit der gesunden Ehefrau Anna zu solidarisieren, von der alle etwas erwarten, die sich selbst völlig zurücknehmen muss. Aber diese Selbsthilfegruppe hat mich ebenso sehr beschäftigt.
die neuen Fakten", "die Erkenntnis", was nun tatsächlich
Nein. Mir war eigentlich klar, dass es keine neuen Fakten geben würde. Das einzige, was offen war, war, ob Robert den Notruf krankheitsbedingt nicht abgesetzt hat oder bewusst. Und das beantwortet er uns ja.
Der Augenblick, als ihm klar wurde, daß er gefehlt hatte, als er die beiden anderen alleine ließ. Sich verkalkuliert. Fehler gemacht. (...) Er hatte zugelassen, dass Thomas hinaus ging aufs Eis. 292
Ihm klar wurde, dass er ihn wieder gutmachen musste, bevor es jemand merkte. Bevor ihm jemand auf die Schliche kam. 293
Damit ist der Fall in meinen Augen aufgeklärt. Sehr behutsam und bewegend. Er macht sich selbst genug Vorwürfe deshalb. Damit muss er leben. Deshalb finde ich es toll, dass er Luke zu dem Austausch einlädt. Das ist ein schöner Schlusspunkt.
 

Literaturhexle

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Diese Textstelle finde ich grandios:
Immer musste er nach den Worten angeln. Als hätte sie jemand im Laden extra auf das höchste Regal gestellt. Man kam nicht an sie heran. Oder als hätte man sie draußen vergessen und jetzt waren sie völlig eingeschneit und müssten ausgebuddelt werden. 293

In diesem Abschnitt wird deutlich, wie sich Roberts Zustand ganz allmählich verbessert, wie er zurück in Leben findet. Die Gruppe hilft ihm enorm dabei. Als Gesunder kann man sich kaum vorstellen, wie schwer es sein muss, wenn man sich nicht mehr ausdrücken kann- insbesondere dann, wenn man sich dessen wie Robert komplett bewusst ist. Stürzen und aufgefangen werden - ein wiederkehrendes Motiv.

Es schmerzt Robert, dass Station K jetzt ohne ihn funktioniert. Er ist kalt gestellt.
Wie seine Frau. Die sich jetzt ein Jahr Pause vom Job genommen hat. Es sieht aber so aus, als könnte sie anschließend wieder loslegen. Robert ist ja kein dauerhafter Pflegefall, wie es aussieht. Schön der Blick und das Winken der Beiden in der letzten Szene.

/_|
Kunstfertig und fast poetisch empfinde ich diesen letzten Abschnitt, der uns das letzte Puzzlesteinchen zum Unfall in der Antarktis liefert.

Robert hat sich immer dort wohlgefühlt. Obwohl er spürt, dass er versehrt ist und dass es zu Ende gehen könnte mit ihm, spürt er einen inneren Frieden.
Alles würde gut sein und war immer schon so.
Er saß. Und er sah. Und er war. 317
In den letzten Seiten wieder diese Intensität! Ich bin vollkommen völlig BEGEISTERT!!!
 

GAIA

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Zwar mag es uns leichter fallen, uns mit der gesunden Ehefrau Anna zu solidarisieren, von der alle etwas erwarten, die sich selbst völlig zurücknehmen muss. Aber diese Selbsthilfegruppe hat mich ebenso sehr beschäftigt.
Das meinte ich tatsächlich gar nicht. Wenn ich dein „wir“ nochmal auseinanderklamüser ( ;) ) und über mich spreche: Ich solidarisiere mich nicht mit ihr einfacher, weil sie die gesunde Ehefrau ist und es fällt mir nicht schwerer mich mit den Personen der Selbsthilfegruppe zu solidarisieren. Gerade weil ich selbst einen Pflegegrad habe und mein Mann der pflegende Angehörige ist. Mir ging es dabei tatsächlich darum, dass durch die unglaublich vielen neuen Personen in diesem letzten Buchabschnitt und die personale Erzählperspektive verteilt auf mehrere Menschen, für mich die emotionale Anbindung schwerer fiel. Also nicht auf inhaltlicher sondern eher auf formeller Ebene.
 
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GAIA

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Schön der Blick und das Winken der Beiden in der letzten Szene.
Für mich wär‘ das Buch auch „rund“ gewesen mit einem Ende schon an dieser Stelle. Den allerletzten Abschnitt finde ich zwar keineswegs unnötig, aber es fühlte sich mit dieser „Wink“-Szene auch schon genau richtig für mich an.
 

Anjuta

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Der 4. und letzte LA hat mich ehrlich gesagt etwas enttäuscht. Die Fokussierung auf die Therapiestunden bei Amira haben mich etwas aus der Geschichte herausgeholt und nicht weitergebracht. Da ging es mir zu sehr um Amira in ihrem Ringen um eine "richtige Therapie" sowie um andere Teilnehmer dieser Therapie, die ähnliche aber andere Sprachprobleme und auch Sprachticks als Doc haben. In der Fülle dieser unterschiedlichen Patienten kam mir das immer etwas vorgeführt vor. Von Doc, Anna und der Familie sowie der Aufarbeitung der Vorgänge in der Antarktis haben wir dagegen gar nichts mehr gehört. Schade!
 

Literaturhexle

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Aufarbeitung der Vorgänge in der Antarktis haben wir dagegen gar nichts mehr gehört.
Aber haben wir da nicht im Grunde alles erfahren? Welche Information fehlt dir noch? Wir wissen um Docs Verfehlungen, er selbst gesteht es am Ende ein. Luke hat ihn (und sich selbst) gedeckt, ausgebildet waren ja alle drei. Alle wussten (im Nachhinein) um den Leichtsinn des Fotoshootings.

Der Roman legt in Teil 2 und 3 weniger den Fokus auf das tragische Ereignis, sondern auf die Folgen für den Schlaganfallpatienten und seine Familie. Das kam überraschend, davon steht auch (völlig zu Recht) nichts im Klappentext.


In der Fülle dieser unterschiedlichen Patienten kam mir das immer etwas vorgeführt vor
Ja. Das ist nicht von der Hand zu weisen. Hier wird uns das Muster einer gruppentherapeutischen Maßnahme gezeigt. Abgesehen von der Aussteigerin machen alle mit und finden zu sich selbst. Das ist wahrscheinlich der Wunschtraum jedes Therapeuten...
Gefallen hat es mir trotzdem;)
 

buchregal

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Robert will zunächst nicht zu dieser Gruppe. Das hatte ich von ihm genauso erwartet. Amira hat eine wundervolle Art, auf diese Menschen zuzugehen, auch wenn ich anfangs bei ihr eine Unsicherheit gespürt habe. Doch ich glaube, das ist immer so, wenn man mit etwas Neuem anfängt. Liz ist in dieser Gruppe der beobachtende Part.

Anna machte sich Sorgen, als Robert in die Gruppe nachkommen wollte. Sie macht sich sorgen, lässt ihn aber. Dann taucht er auf und hat einen Kaffee in der Hand. Wenn er etwas will, schafft er es also auch.

Die Gruppendynamik entwickelt sich gut und ich finde es toll, wie sich Robert verständlich macht und dann auch über seine Erlebnisse in der Antarktis spricht. Anna ist nicht mehr so auf Robert fixiert und bekommt ihren Freiraum.

Luke ist zurück zur Station K. Das nimmt Robert ziemlich mit, der ja immer zurück an die Arbeit wollte, was aber natürlich ausgeschlossen ist, denn so ein Schlaganfall könnte ja immer wieder auftreten.

Das Ende ist nett, aber hat mich nicht mehr so berührt. Ich wüsste aber auch nicht, wie es anders hätte enden können.
 

ulrikerabe

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Ehrlicherweise hat mich der Autor in diesem Abschnitt verloren. Der Sog des ersten Abschnittes, die emotianle Annäherung an Anna und Robert im zweiten Abschnitt fand ich grandios. Hier begann ich mich zunehmend zu langweilen. Ich verstehe schon die Intention des Autors. Es war ihm offensichtlich (!) ein Bedürfnis über Therapiemöglichkeiten für von Aphasie Betroffene zu schreiben. Aber er entfernt sich immer mehr von der eigentlichen Geschichte. Vorgeführt, wie es @Anjuta bezeichnet finde ich eigentlich ganz treffend.
 

Querleserin

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Hier begann ich mich zunehmend zu langweilen. Ich verstehe schon die Intention des Autors. Es war ihm offensichtlich (!) ein Bedürfnis über Therapiemöglichkeiten für von Aphasie Betroffene zu schreiben. Aber er entfernt sich immer mehr von der eigentlichen Geschichte.
Mir ging es ähnlich, im letzten Abschnitt wurde ich zunehmend ungeduldiger, obwohl ich die Therapieansätze sehr interessant fand. Ebenso wie die Tatsache, dass Robert seine Geschichte erzählen und aufarbeiten kann.
Offensichtlich hat er den Rettungsruf Thomas gesehen, konnte aber nicht darauf reagieren. Und das rote Flugzeug hat ihn gerettet ;), daher das Beharren auf der Farbe Rot.
 

ulrikerabe

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Mir ging es ähnlich, im letzten Abschnitt wurde ich zunehmend ungeduldiger, obwohl ich die Therapieansätze sehr interessant fand
Aber wenn ich jetzt darüber nachdenke - ich wurde ungeduldig, weil ich nicht verstand, was mir der Autor sagen will. Eigentlich ist das ja ganz genau das, was er uns erzählt. ;)
 

luisa_loves-literature

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Ich kann gar nicht sagen, dass mich der letzte Abschnitt weniger interessiert hätte. Mich macht man ja schon mit erzählerischer Stärke sehr glücklich und McGregor beherrscht das Spiel mit den Perspektiven meisterlich. Da kann man nicht dran rütteln. Allein durch diese Auffächerung des Geschehens ist schon sehr viel Abwechslung und Spannung geboten. Im direkten Vergleich würde ich auch sagen, dass mich Teil 1 und 2 stärker eingenommen haben, aber mir hat sein Mut gefallen, sich die Zeit zu nehmen und diese Gruppensitzungen so detailliert darzustellen, dass man den mühsamen Prozess nachvollziehen kann.

Mir ist auch aufgefallen, dass Anna ihren Frieden findet, vor allem im Einklang mit der Natur. Der Garten, der ihr am Anfang so viel "Muss" beschert hat, erscheint jetzt wie ein Zufluchtsort. Überhaupt wird im Zusammenhang mit Anna immer der Wechsel der Jahreszeiten oder das Wetter beschrieben. Es spiegelt in gewisser Weise ihren Seelenfrieden wieder und bietet vielleicht auch wieder einen starken Kontrast zu Robert, der im engen Gruppenraum seine Entwicklung durchmacht, während sie draußen wieder stärker wird - vielleicht auch ein Mini-Rollen-Tausch der beiden.

Hier hat mir die Darstellung der Verschiedenartigkeit von Aphasien sehr gefallen.
Mir auch. Mir ist im letzten Abschnitt auch aufgefallen, dass der Autor auf die Nennung der Namen der Patienten verzichtet und man trotzdem jede einzelne Äußerung der passenden Person zuordnen kann.
Vielleicht war ich noch zu sehr darauf gepolt, dass jetzt vielleicht doch noch "der Knaller", "die neuen Fakten", "die Erkenntnis", was nun tatsächlich vorgefallen ist, kommt.
Das hat mich sogar ein bisschen enttäuscht - ich denke tatsächlich, dass ein "Knaller" dem Roman an der Stelle gut getan hätte oder vielleicht dann etwas mehr Offenheit für "Knaller"-Interpretationen. So ist das Ende zwar schön, aber auch etwas "müde".
aber es fühlte sich mit dieser „Wink“-Szene auch schon genau richtig für mich an.
Ja, das ging mir auch so. Ich hätte das vielleicht sogar favorisiert.
Das kam überraschend, davon steht auch (völlig zu Recht) nichts im Klappentext.
Ja...der Klappentext mal wieder ;) Ich nehme ihm das Verwirrspiel in diesem Fall nicht übel, aber ich hatte wirklich einen durchgängigen Roman in Richtung des ersten Abschnitts erwartet. Da ist doch eine ziemliche Gattungsverschiebung weg vom "Abenteuerroman".